Vom Inhalt und Nutzen postanarchistischer politischer Theorien

Lesedauer: 20 Minuten

zuerst veröffentlicht in: Ne znam. Zeitschrift für Anarchismusforschung #6 / Herbst 2017

von Jonathan Eibisch // September 2017

I Warum Postanarchismus? Zur Erneuerung anarchistischer politischer Theorien

Vom Anarchismus soll man nicht leben, sondern für ihn. Anarchistische Praktiken und Anarchismusforschung werden betrieben als energisches politisches Projekt, aus sehnsüchtiger Leidenschaft, als kurioses Hobby oder kleinbürgerliche Marotte. Somit nimmt es nicht Wunder, dass der hier behandelte Gegenstand des sogenannten Postanarchismus von mehreren Seiten Skepsis bis Verachtung auf sich zieht, steht er doch im Verdacht der Akademisierung – und also Entpolitisierung sowie Vermarktung – von radikaler Kritik und des mühsam gepflegten Eigenen, das sich der wissenschaftlichen Betrachtung zu entziehen hat, ja, entziehen muss.

Bei aller berechtigten Ablehnung hierarchischer Universitätsbetriebe scheinen mir gewisse Abwehrtendenzen in anarchistischen Kreisen gegenüber den intellektuellen Aufgaben vor denen die anarchistische politische Bewegung gerade im deutschsprachigen Raum meiner Ansicht nach steht, nicht besonders klug. Sicherlich wird eine Menge geforscht und gegraben, meistens aber nach wie vor im Vergangenen gewühlt und werden anarchistische Gegenstände als historische konserviert. Dieses pure Interesse sei freilich allen zugestanden, die es verspüren und ihm nachgehen wollen. Jedoch: Was ist Anarchismus, wenn nicht eine politische Bewegung die sich des Zeit-Konstruktes des sogenannten „Hier&Jetzt“ bedient und zur Aktion aufruft, gleichwohl sie sich eben damit in eine bestimmte, also in eine bestimmbare, Tradition stellt? Was ist Anarchie, wenn sie eben keine philosophische Betrachtungsweise oder Lebensweisheit sein soll? Insofern anarchistisches Fühlen und Denken über alle Angelegenheiten menschlichen Miteinanders Aussagen zu treffen beansprucht, Anarchist_innen sich zu allem äußern können und sollten, ist hier dennoch von einem Bündel weltanschaulicher Fragmente und somit faktisch davon zu sprechen, dass Anarchie durch bestimmte Lebensweisen praktiziert wird. Auch wenn in unserer individualisierten Gesellschaft die individuellen anarchistischen Eigenbrötler_innen weiterhin ganz ihre jeweiligen Sachen betreiben werden, wäre es doch interessant und einen Versuch wert ihnen die Frage zu stellen: Worin bestehen sie denn überhaupt, eure anarchistischen Perspektiven? Gemeinhin wird gesagt, der gemeinsame Nenner pluraler und widersprüchlicher Strömungen des Anarchismus‘ bestünde in einer spezifischen Kritik und der Ablehnung des Staates, etwas weiter gedacht: staatlich strukturierter gesellschaftlicher Verhältnisse. Ich halte diese Beschreibung für unzulänglich, für eine Oberflächenerscheinung und vor allem für eine politische Bewegung unbrauchbar, welche die gegenwärtige – und dem Anspruch nach jede Form von – Herrschaftsordnung überwinden will.

Wenn es im Folgenden um Postanarchismus geht, dann mit dem Bestreben eine notwendige Erneuerung anarchistischer politischer Theorien voran zu bringen. Denn den sonst so auf’s Eigene bedachten Anarchist_innen scheint es unter der Prämisse des Vorranges sogenannter Praxis oftmals völlig ausreichend zu sein, sich hier und da theoretischer Bausteine zu bedienen und sie munter zusammen zu setzen, wie es jeweils passt oder passend gemacht wird. Mich hingegen interessiert dieses Eigene als Gemeinsames. Darum unterbreite ich an dieser Stelle einen Vorschlag, wie anarchistische politische Theorien aktuell gedacht werden können, versuche aus meiner Nische heraus zu kommen und sie auf die sogenannte „Makropolitik“ (May 1994: 55) anzuwenden. Obschon ich bei Umrissen bleiben muss, sollen deswegen Überlegungen zu einer subjekt-kritischen Subjekttheorie, einer anti-hegemonialen Hegemonietheorie, zu Konzeptionen von (Anti-)Politik und einem postanarchistischen Verständnis von Emanzipation angestellt werden. An anderer Stelle sind diese Andeutungen weiter auszubauen. Zunächst aber zum Ausgangspunkt, dem Postanarchismus.

II Was ist Postanarchismus?

Ich vermute die Leser_innen dieses Beitrages sind soweit informiert, dass es im deutschsprachigen Raum eine kleine Debatte um den Postanarchismus gab, die von Jürgen Mümken 1998 mit einem Beitrag im Schwarzen Faden angestoßen und von diesem (Mümken 2003, 2005), Jens Kastner (2000) und Gabriel Kuhn (2005, 2007) mit lesenswerten Publikationen unterfüttert wurde. „Der“ Postanarchismus ist – dankenswerterweise – keine neue oder weitere politische Strömung im erquickend vielfältigen anarchistischen Spektrum. Er stellt eine Weise der Betrachtung anarchistischen Denkens dar und verbindet dieses mit den verschiedenen Varianten poststrukturalistischer Theorien, wie beispielsweise jenen von Michel Foucault, Gilles Deleuze, Jacques Lacan oder Jacques Derrida. Mit diesen werden weitreichende Schnittpunkte zu Formen anarchistischen Denkens ausgemacht und somit war es kein Zufall, dass gerade Menschen aus dem anarchistischen Umfeld, französische poststrukturalistische Theoretiker schon in den 1970er Jahren übersetzten und verbreiteten, als sie noch lange nicht zum Kanon der sozialwissenschaftlichen Literatur gehörten. Bedient wird sich der oft geschmähten „Methode“ der Dekonstruktion, wobei tatsächlich recht unklar ist, was diese denn bezeichnen soll. Dies hat unter anderem zur Folge, dass ich mich ihr als Autor dieses Artikels in freigeistiger Manier bedienen und behaupten kann zu dekonstruieren, wenn ich im Folgenden spannungsvolle Paradoxien nachzeichne. Überwunden werden soll damit das im ‚klassischen‘ (das heißt: ‚modernen‘) anarchistischen Denken vorhandene Verständnis von Subjekt, die Behauptung einer Universalität von Moral und Vernunft, die Idee einer fortwährenden Aufklärung der Menschheit, Konzeptionen einer vermeintlich rational bestimmbaren, ’natürlichen sozialen Ordnung‘, ein dialektisches Geschichtsverständnis, sowie ein Positivismus, der die Wahrheit sozialer Beziehungen wissenschaftlich aufdecken will (Newman 2010: 6).

„Der“ Mensch ist nun mal nicht „an sich“ sozial, wie Kropotkin behauptet, beziehungsweise erhofft. Oder was ist „eigentlich“ das Gute, wenn Bakunin schreibt: „Die Freiheit, die Sittlichkeit und Würde des Menschen bestehen gerade darin, dass er das Gute tut, nicht weil es ihm befohlen wird, sondern weil er es begreift, weil er es will und liebt.“ (Bakunin 1969: 49) Die Frage kann eben nicht lauten, wie eine „natürliche“ Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung aussehen müsste (sonst landet man bei Silvio Gesell), sondern wie eine vernünftige Einrichtung einer lebenswerten Gesellschaft kollektiv ausgehandelt werden kann. Und das es immer vorwärts und voran ginge, wie im 18., 19. und 20. Jahrhundert progressive Menschen, also auch die allermeisten Anarchist_innen glaubten, stellte ja schon Gustav Landauer (1907) in Frage. Nicht umsonst gelten er und Max Stirner mit ihrem moderne-kritischen Denken (keinem anti-modernem wie dem der reaktionären Neurechten der konservativen Revolution!) als Bindeglieder zwischen ‚klassischem‘ Anarchismus und dem, was hier als Postanarchismus beschrieben wird.

Wem dies – eben aufgrund der Unkenntnis bzw. der bisher noch wenig ausgearbeiteten Ansätze – eher etwas sagt, kann Postanarchismus analog zum ‚feindlichen Bruder‘ Postmarxismus (Laclau/Mouffe 1991, Derrida 1995, Balibar 2012, Marchart 2013) verstehen, der sich in den neueren politischen Theorien herumtreibt, seitdem sich überraschend herausstellte, dass das mit dem Staatssozialismus ein Holzweg war. Statt die „Verschiebung von Kräfteverhältnissen“ (Poulantzas 2002, Marchart 2013: 310) auf dem hegemonial strukturierten politischen Feld zu untersuchen, geht es im Postanarchismus eher um die Subversion und die Absonderung von Herrschaftsverhältnissen sowie um die Neuschaffung gesellschaftlicher Institutionen und Beziehungen innerhalb der vermeintlich totalitären sozialen Ordnung.

Allgemein ist festzuhalten, dass postanarchistische Ansätze im englischsprachigen Raum inzwischen relativ weit verbreitet sind und sich auch gewisser Popularität erfreuen. Hakim Bey hätte den Begriff Postanarchismus erstmals 1991 verwendet, während Todd May mit The Political Philosophy of Poststructuralist Anarchism (1994) deutlich machte, wo es damit hingehen soll: Politische Theorie zu denken, deren Analysen begründete ethische Vereinbarungen zu Grunde liegen (May 1994: 76), wie die radikale Gleichheit, soziale Freiheit und Solidarität aller Menschen, die Ausgangspunkt und Zielbestimmung anarchistischer Bestrebungen sind. Cindy Milstein bezeichnet sie als „ethischen Kompass“ (Milstein 2013: 55ff.), dessen Grundwerte bestehen bleiben, aber immer wieder neu auszurichten sind (Milstein 2013: 28ff.). Wie das mit einem Begriff der „produktiven Macht“ von Foucault, einem Verständnis des Staates eher als gesellschaftliches Verhältnis denn als Institution (Seyferth 2015) oder den Subjekten, die kein Wesen a priori haben genauer aussehen soll untersuchten unter anderem Saul Newman (2001), Lewis Call (2002), Richard Day (2005) und Simon Critchley (2008), die leider im deutschsprachigen Raum wenig bekannt sind, mir allerdings einer Beschäftigung und Übertragung allemal wert erscheinen.

In Kürze: Postanarchistisches Denken hinterfragt klassische anarchistische Axiome und Denkfiguren, insofern sie in der Moderne verhaftet sind, will aber an ihren ethischen Vorstellungen festhalten und sie zur Grundlage politischer Theoriebildung nehmen. Darum eignet sich dieser Ansatz überhaupt zur Entwicklung aktueller anarchistischer politischer Theorien, das heißt, zur Begründung und Umschreibung eines in sich vielfältigen anarchistischen politischen Projektes, welches den Hobbykeller und die undogmatische Unbestimmtheit unserer post-ideologischen Zeit zu Verlassen im Stande ist. Ein hehrer Anspruch, ich weiß. Doch begrenzt Mögliches zu erstreben ist mir nun mal zu langweilig. Allerdings entwerfe ich hier auch nichts völlig Neues, sondern trage lediglich einige Aspekte zusammen, die postanarchistisches Denken ausmachen. Dieses besteht meinem Verständnis nach im Denken von Paradoxien und Spannungsfeldern wie sie nun anhand der postanarchistischen Perspektive auf die Begriffe Subjekt, Hegemonie, Politik und Emanzipation dargestellt werden. Bewusst spreche ich dabei nicht von Widersprüchen, die vermittelt oder aufgelöst werden können. Vielmehr geht es darum, Paradoxien aufrecht zu erhalten oder sogar zu erzeugen.

III Subjekt-kritische Subjekttheorie

Subjekt beschreibt die gesellschaftliche Struktur, welche einzelne Individuen als auch soziale Gruppen in einer spezifisch-historischen Gesellschaftsformation annehmen, beziehungsweise annehmen müssen, um in dieser als handlungsfähig zu gelten. Durch die Unterwerfung unter bestimmte Normvorstellungen und relationale Sinnzusammenhänge wird gleichzeitig die Handlungsfähigkeit von Menschen hergestellt: Wer sich anpasst oder anpassen kann, der_dem gelingt es, bestimmte Ziele zu entwickeln und zu verfolgen, eine anerkannte Identität auszubilden usw.. Da wir in einer ‚bürgerlichen‘ Gesellschaft leben, stellt das ‚bürgerliche Subjekt‘ die dominante Subjektform dar. Sie bildet den Ausgangs- und den Zielpunkt von Subjektivierungsprozessen, also der Vorgänge der Fremd- und Selbstformung, die Menschen auf irgendeine Weise zu dieser Gesellschaft kompatibel machen. Dem bürgerlichen Subjekt wird ein ‚inneres Selbst‘ und ein ‚authentischer Wesenskern‘ zugeschrieben (Reckwitz 2010: 86f.). Es gilt als alternativenlos, natürlich, universell, besonders und kohärent. Dass diese Eigenschaften tatsächlich prekär, inkohärent und widersprüchlich sind, tut der Wirkmächtigkeit der modernen Subjektvorstellung keinen Abbruch, da sie als individuelle Aufgabe von den Einzelnen permanent herzustellen ist. – In diesen Verhältnissen psychisch stabil zu bleiben ist so gesehen eine meist unsichtbare und unbezahlte Arbeitsleistung.

Nun ermöglicht der demokratische, ‚postfordistische‘ Kapitalismus eine Vielzahl von Subjektformen und im neoliberalen Herrschaftsarrangement werden Individualität und die Entfaltung von Persönlichkeit, sprich, die Mobilisierung von Persönlichkeits-Ressourcen, großgeschrieben. Die Aktivität, Selbständigkeit und das Selbstbewusstsein von Subjekten wird sogar gefördert, insofern sie als Selbstkontrolle und -beherrschung in sich dauernd wandelnden Kontexten funktionieren (Wilk 1999: 34f.). Zudem bewegen sich immer mehr Menschen an verschiedenen Orten und in sozialen Milieus. Dies hat zur Folge, dass Menschen sich ganz verschiedenen Subjektivierungsregimen ausgeliefert sehen, welche alle auf ihre Formung Einfluss zu nehmen trachten. Um ein Beispiel zu wählen, welches gerade nicht meiner Lebensrealität entspricht: Zwischen katholischer Kirche und Punkerkneipe, zwischen geschäftlichem Meeting und Patchwork-Familie, zwischen Fußballstadion und Theaterbesuch gilt es ganz verschiedenen Erwartungen und tatsächlich auch unterschiedlichsten Seinsweisen gerecht zu werden. Und dann folgt auch noch der staatliche Zugriff auf Subjektivierung durch Biopolitik, um produktives Humankapital zu generieren! Dabei sind wir wie gesagt jeweils alle einzeln – also ver-einzelt – gefordert, den psychischen Laden beisammen zu halten und uns darüber äußern zu können, wer wir eigentlich sind, was wir denn in unserem Leben vorhaben und welches Mobiltelefon wohl am besten zu unserer Persönlichkeitsstruktur passt. Von wegen freie Selbstentfaltung! Bürgerliche Subjekte bilden sich in Konkurrenz und Hierarchisierungen, durch Ausschlüsse eigener Persönlichkeitsanteile und deren Abwertung wenn sie in Anderen identifiziert werden (Meißner 2010 274f.). Und diese radikal Anderen – die Prügelknaben und -mägde der Moderne -, welche die Normvorstellungen verletzen und daher verachtet und unterworfen werden können, sind als solche erst zu konstruieren – eben um jene Normen heraus zu bilden, welche anerkannte Seinsweisen definieren. Somit lässt sich die Sehnsucht nach dem Aufgehen Vereinzelter in abstrakten Kollektiven wie dem Nationalstaat und auch die Fetischisierung von Privateigentum als Bestandteil von Persönlichkeit erklären (Kuhn 2007: 67ff.).

Soweit, so verkürzt. Aber was ist mit diesen theoretischen Eckpunkten der kritischen Subjekttheorie aus postanarchistischer Perspektive anzufangen? Zunächst einmal gilt es früheren Gutheißungen von Normabweichung gegenüber skeptisch zu sein. Nur weil Menschen nicht der bürgerlichen Norm entsprechen, bedeutet dies keineswegs, dass sie ein subversives und emanzipatorisches Potenzial in sich tragen. Tatsächlich tragen sie eben gar nichts ‚in sich‘, sondern die Bedeutungen, welche ihnen in gesellschaftlichen Diskursen zugewiesen werden. Weil Abweichungen die Norm bestimmen und auch von ihr erzeugt werden, verkörpern sich in ihnen nicht einfach die positiv zu beschreibenden Subjektformen, die möglicherweise anarchistischen Vorstellungen eher entsprechen. Anders gesagt, wenn wir uns selbst nur im Widerstand gegen etwas definieren, beinhaltet dies noch in keiner Weise, wie wir uns mit einem existenzialistischen Ideal von Selbstbestimmung entwickeln und erzeugen können.

Doch warum sollen und müssen wir überhaupt Subjekte sein, wenn wir möglicherweise die Form der Gesellschaft die uns bestimmte Seinsweisen aufzwingt, ablehnen und deswegen jeglichen Subjektivierungsregimen, die uns sagen, was wir sein sollen und müssen, entfliehen wollen? Warum können wir nicht einfach in Ruhe sein und die anstrengende (bürgerliche) Selbstfindungsmühle endlich stillstehen lassen? Und wenn schon nicht bürgerlich, haben wir dann wirklich Lust auf den sozialistischen „Neuen Menschen“ als funktionierenden Bestandteil einer immer noch staatlich strukturierten Gesellschaft? Ein postanarchistischer Blick auf Subjekttheorien bedeutet meines Erachtens nach sich zugleich der immanenten und der transzendierenden Kritik an der Form des Subjektes zu bedienen. Daher nenne ich sie subjekt-kritische Subjekttheorie. Mit dieser wird anerkannt, dass Gesellschaften nun einmal Subjekte erzeugen und ob wir wollen oder nicht die Möglichkeiten zur Entfaltung unserer Seinsweisen enorm einschränken. Dagegen können sich Menschen dennoch zur Wehr setzen und sich einerseits fragen, wie sie Subjektivierungsvorgänge – gleich von welchem weltanschaulichen Projekt – unterlaufen, sie abwehren und sich ihnen entziehen. Andererseits jedoch stellt sich ebenso die plumpe Frage, welche Seinsweisen wir denn aus welchen Gründen als gut empfinden, fördern und verbreiten wollen – eben weil sie anarchistischen Vorstellungen entsprechen. In diesem Sinne verstehe ich auch Stirners Aussage: „Hat Gott, hat die Menschheit, wie Ihr versichert, Gehalt genug in sich, um sich Alles in Allem zu sein: so spüre Ich, dass es Mir noch weit weniger daran fehlen wird, und dass Ich über meine ‚Leerheit‘ keine Klage zu führen haben werde. Ich bin [nicht] Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.“ (Stirner 2008: 5) ‚Bürgerliches Denken!‘, schreien nach wie vor die selbsternannten Marxist_innen. Materialistisch gedacht geht es lediglich um die Erkenntnis, dass Seinsweisen innerhalb jeder Gesellschaftsform Gestaltungsspielräume aufweisen und zulassen und nicht einfach durch einen ökonomischen Überbau determiniert sind. Sich diese zu Nutze zu machen und sie auszuweiten ist ein entscheidender Bestandteil zur Veränderung von ‚Gesellschaft‘, wird sie doch von mit eigenen Willen ausgestatteten Einzelnen gebildet. Wie ist es also möglich das Menschen ihre Seinsformen gestalten, ihrer Formung nach bestimmten Normen aber gleichzeitig grundsätzlich skeptisch gegenüber zu bleiben? Wie können wir Normen finden und als ethische Vereinbarungen aushandeln um Gemeinschaft zu begründen, ohne diese absolut zu setzen, Menschen abzuwerten und auszugrenzen? Wie müssten Räume, Umgebungen und Gruppen aufgebaut sein, damit sich Einzelne auf sie beziehen und sich als Teil von ihnen empfinden können, ohne deswegen ihr Subjekt-Sein zwanghaft einzuschränken? – All dies sind eminent politische Fragen.

IV Anti-hegemoniale Hegemonietheorie

Analog dem Subjekt, welches sich zwischen verschiedenen Subjektivierungsregimen zerrissen sieht, finden sich politische Akteure im Spannungsfeld in-und-gegen die Hegemoniebestrebungen verschiedener politisch-weltanschaulicher Projekte. Auf der Makro-Ebene lassen sich da mindestens ein konservatives, ein (neo)liberales, ein grün-sozialdemokratisches, ein sozialistisches, ein religiös-fundamentalistisches und ein (neo)faschistisches politisches Projekt ausmachen. Diese ringen nicht nur um Einfluss und Ausbreitung im hegemonial strukturierten politischen Feld, sondern formen die Bedingungen auf jenem, um ihre Position langfristig abzusichern und ihre Kontrahenten zu marginalisieren. Bekanntermaßen geschieht dies nicht einfach durch das Erringen von im engeren Sinne politisch einflussreichen Posten und Ressourcenzugängen, sondern findet mindestens genauso im Bereich der Kultur und der bereits behandelten Einflussnahme auf Subjektivierungsvorgänge statt. Antonio Gramsci als Vater der Hegemonietheorie empfahl aus diesem Grund, dass sich das sozialistische politische Projekt nicht vorrangig auf die Übernahme der politischen Herrschaft konzentrieren, sondern sich in den ‚Schützengräben‘, das heißt dem erweiterten und vorgelagerten Staat, der sogenannten ‚Zivilgesellschaft‘, eingraben sollte. Außerdem gälte es die öffentliche Meinung zu prägen, wozu die eigene Klasse unter anderem ‚organische Intellektuelle‘ hervorbringen und andere auf ihre Seite ziehen müsse. Vor allem wird Hegemonie durch Kompromisse, Zugeständnisse und Einbindung anderer politischer Akteure erreicht und so fragt sich, wer in welchem jeweiligen Lager eine Führungsrolle einnimmt um über die „Subalternen“ zu herrschen (Gramsci 2013).

Sei es die Theorie von Nicos Poulantzas (1978), jene der erwähnten Postmarxist_innen (Laclau/Mouffe 1991), bis hin zu den Strategen einer sogenannten Mosaik-Linken, die stärkere Staatsinterventionen fordern (Candeias 2010: 10) – immer geht’s den Linken um das Eine: um die Macht, um die Führung, letztendlich um die bessere Herrschaft. Dagegen wendet sich Jens Kastner, wenn er schreibt, nur

„wenn analytisch kulturellen Prozessen und Ereignissen ein großer Stellenwert eingeräumt wird, werden diese auch für politische Veränderungen zu einer relevanten Größe. Andererseits müssen, um jene Diskussionen mit Gewinn führen zu können, zunächst analytische und politische Dimension des Hegemonie-Begriffs auseinander gehalten werden. Denn zu konstatieren, dass Hegemonie durch bestimmte Koalitionen gesellschaftlicher Milieus, verschiedene Einflüsse medialer und kommunikativer Strategien und durch die Einhegung widerstreitender Interessen hergestellt wird und bis in die individuellen und kollektiven kulturellen Ausdrucksformen hinein existiert, führt nicht automatisch zu einer politischen Handlungsanleitung. Dass es Hegemonie gibt, kann in der Linken also zu sehr unterschiedlichen Strategien führen […]“ (Kastner 2011: 99f.).

In dieser aussagekräftigen Textpassage wird deutlich, was ich aus eigener Erfahrung bestätigen kann, nämlich, dass Hegemonietheorien durchaus sehr lohnenswert für die Ausbildung politischen Denkens sind, der Schluss, den die meisten ihrer Protagonist_innen aus ihnen ziehen aber weder logisch noch politisch-strategisch notwendig folgen muss. Richard Day (2005) schrieb ein gelungenes Buch darüber, wie die sozialen Bewegungen im 21. Jahrhundert de facto der scheinbar zwingenden Herrschaftslogik entgehen und eben keine ‚Gegenhegemonie‘ aufbauen, sondern sich gegen Hegemonie selbst richten. Dies geschähe indes nicht, weil soziale Bewegungen mittlerweile alle anarchistisch wären, sondern aufgrund dessen, dass das vermeintlich nicht-ideologische und alternativenlose neoliberale Herrschaftsarrangement im Grunde genommen die perfekte Herrschaftsform darstelle. Und zwar gründe es sich auf die ‚Hegemonie der Hegemonie‘ (Day 2005: 8), welche politische Projekte dazu veranlasst, sich als gegenhegemoniale (und damit konstitutives Außen) zu formieren, sie damit aber besser als Herrschaftsordnungen je zuvor vermitteln und vereinnahmen kann.

Für anarchistische politische Theorien stellt sich somit die Frage, wie sich politische Akteure so organisieren, dass sie sich konsequent der Herrschaft – keineswegs aber der Macht – verweigern und sich abseits von ihr und gegen sie stellen können. Wiederum gilt es die paradoxe Gleichzeitigkeit von Gegen-Macht und Anti-Macht zu denken, mit der nicht-hegemoniale und anti-hegemoniale politische Strategien verfolgt werden. Es geht also zugleich um den Angriff auf Herrschaftsordnungen und um die rhizomatische Neuschaffung sozialer Beziehungen und Institutionen in den Zwischenräumen, welche sich darin ergeben und die ausgeweitet werden können. Anstatt sich in antagonistische Relationen hineinzwängen zu lassen, ist es wesentlich interessanter immer neue Orte des Widerstands aufzusuchen und die um Hegemonie ringenden politischen Projekte, vor allem aber das hegemonial strukturierte politische Feld, zu irritieren und grundlegend neu zu bestimmen.

V Konzeptionen von (Anti-)Politik

Das abgebildete paradoxale Denken in Spannungsfeldern und der miteinander vermittelt gedachten immanenten und transzendierenden Kritik an Subjekt und Hegemonie spiegelt sich auch im von mir gesetzten Begriff der (Anti-)Politik wider. Saul Newman (2010) verortet das Spezifische des anarchistischen politischen Denkens eben in jener Paradoxie, die er als Anti-Politik bezeichnet, also der Tendenz sich bestimmten politischen Gegebenheiten zu verweigern und zu entziehen, während sich gleichzeitig auf sie bezogen werden muss, damit überhaupt noch von Politik gesprochen werden kann. Beispielsweise ist der prinzipielle Anti-Parlamentarismus im Anarchismus die deutliche Konsequenz daraus: Parlamentarische Politik wird verworfen, indem sich auf diese bezogen wird. Newman geht davon aus, dass Anarchist_innen die anti-politischen Sphären der Utopie und Ethik jener der Politik entgegensetzen ohne sich jedoch vollends von ihr zu verabschieden und sie zu verwerfen (Newman 2010: 8ff.). (Kunst ließe sich wahrscheinlich ebenso als eine solche Sphäre beschreiben.) Vielmehr wird eine randständige politische Position bezogen, welche darum keineswegs unpolitisch, sondern selbstverständlich involviert und stets (selbst-)kritisch ist. Hiermit wären wir wieder bei der Frage der Möglichkeiten einer ethischen Begründbarkeit radikaler Politikansätze, die ihre Zuflucht nicht in vermeintlichen Wahrheiten und politisch-weltanschaulichen Dogmen sucht, sondern stattdessen strategisch gesetzt wird. Weiterhin bleibt zu klären, wie Politikformen entwickelt werden können, die sich eben nicht auf die Ordnung staatlicher Souveränität beziehen (auch nicht, indem sie sich als ‚anti-staatlich‘ verstehen), sondern sich außerhalb dieser befinden und wirklich eigene Inhalte formulieren. Anti-politische Aspekte (beispielsweise die Vorstellung radikaler Gleichwertigkeit und sozialer Freiheit aller Menschen) können paradoxerweise allerdings nur durch politisches Handeln vorangebracht werden, sonst stellen sie lediglich moralische Haltungen und Formen der Lebensführung dar. Dadurch wird eine produktive Spannung begründet, welche eine Neuformulierung radikaler Politik ermöglicht (Newman 2010: 8-11) und die Gleichzeitigkeit von utopischen Vorstellungen (beispielsweise eine Welt ohne Gefängnisse) mit pragmatischen politischen Forderungen (beispielsweise Gewerkschaftsfreiheit und Mindestlöhne hinter Gittern) sinnvoll zu erklären im Stande ist. Überdies gilt es hier aber nicht als erstrebenswert, unbedingt ‚politisch‘ handeln zu sollen.

Um diese produktive Spannung aufrecht zu erhalten anstatt sie aufzulösen, weigert sich Newman meiner Interpretation nach, einen Begriff dafür zu finden. Ich hingegen halte es durchaus für möglich – beziehungsweise will es wagen -, einen anarchistischen Politikbegriff zu setzen, der versucht ganz verschiedene anarchistische Politikansätze zu erfassen und nenne ihn (Anti-)Politik. (Anti-)Politik vereint in sich auf paradoxe und spannungsgeladene Weise die Dichotomie zwischen Beschreibungen, Überlegungen und Aufforderungen zu politischem Handeln bei gleichzeitig vorhandener fundamentaler Kritik an und Ablehnung von Politik als von Macht- und Herrschaftsverhältnissen strukturiertem hegemonialem Feld. In herkömmlichen Politikverständnissen wird Politik durch die Ausgrenzung und Abwertung anti-politischer Sphären bestimmt („Entweder ihr macht richtige Politik oder ihr lasst es sein!“). Dies ist bei anarchistischer (Anti-)Politik nicht der Fall. Vielmehr wirkt sie wiederum im Zwischenraum von ‚immanenter‘ Politik und ‚transzendierender‘ Anti-Politik, unterscheidet sich von linken Ansätzen ‚radikaler Realpolitik‘, ist mit anarchistischen Politikkonzepten wie Direkter Aktion, Ermächtigung oder ’struktureller Erneuerung‘ verknüpft, lehnt Avantgarde-Politik ab und bezieht Subjekt/Subjektivierung direkt in politisches Denken ein.

Mit diesem postanarchistischen Politikverständnis ist es möglich, sich der eingangs erwähnten Problematik zu stellen und die pluralen und widersprüchlichen Strömungen im Anarchismus als anarchistisch zu beschreiben ohne ihre Gemeinsamkeit darin zu suchen, dass sie „den Staat“ ablehnen (auch wenn dies eine Konsequenz aus ihrem spezifischen Politikbegriff ist). Anders formuliert: Was haben individualistische und kollektivistische/kommunistische Anarchist_innen im vermeintlichen Gegensatz von „Selbstveränderung“ und „Weltveränderung“ gemeinsam? Was verbindet die Thematisierung von Aufständen durch Insurrektionalist_innen und die prinzipielle Gewaltfreiheit von anarchistischen Pazifist_innen? Wie kann die Zivilisationsfeindlichkeit von Anarchoprimitivist_innen mit der Technikaffinität von Cyberanarchist_innen zusammen gedacht werden? Wie lässt sich sowohl mit spirituellen/religiösen Varianten des Anarchismus auf der einen Seite und mit Atheismus und Religionsfeindschaft auf der anderen umgehen? Wie lässt sich Staat vorrangig als Institutionenensemble oder als gesellschaftliches Verhältnis beschreiben? Um hier nicht falsch verstanden zu werden: Selbstverständlich geht es mir keineswegs darum, alle anarchistischen Strömungen in einen Topf zu werfen, zu vereinheitlichen und damit zu reduzieren. Diesbezüglich besteht aber auch keine Gefahr, weil ich auf die Eigensinnigkeit und Widerborstigkeit meiner Gefährt_innen vertraue, die sich nicht vereinnahmen lassen werden. Nach wie vor besteht die Herausforderung darin, aktuelle anarchistische politische Theorien zu erneuern und weiterzuentwickeln. Sie auf einen Begriff zu bringen – und sei es als Versuch – ist ein Schritt dahin, den ich glaube mit dem der (Anti-)Politik plausibel tun zu können. Dabei streite ich nicht ab, dass sie schon Landauer zugeschrieben wird und tatsächlich halte ich auch die Münchener Räterepublik für ein gutes Beispiel des Versuchs, (Anti-)Politik zu praktizieren. Was aber bedeutet sie unter heutigen Bedingungen und wie können (anti-)politische Projekte in der aktuellen historischen Situation formuliert werden? Dazu schrieb Martin Dörnis den lesenswerten Artikel Anti-Politik ist eine Möglichkeit (Dörnis 2002).

VI Ein postanarchistisches Verständnis von Emanzipation

Emanzipation als Herauslösung und Befreiung aus einem Zustand der Abhängigkeit und Unterdrückung scheint mir ein Begriff zu sein, an welchem eine erneuerte anarchistische Theoriebildung nicht vorbeikommen kann. Im Zusammenhang mit der hier entfalteten postanarchistischen Perspektive ist auf jeden Fall von Bedeutung, dass der Emanzipationsbegriff mit den normativen Werten der Aufklärung und Moderne verknüpft ist. Dort meint er zumeist die Integration in die bürgerliche Gesellschaftsform, sei es bei den historischen Emanzipationsbestrebungen der Sklaven, Frauen oder Juden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo der Begriff als vieldeutiges politisches Schlagwort auftaucht (Wilk 1999: 23f.) und auch erst seine aktive Bedeutung („sich emanzipieren“) gewinnt (Kaindel 2012: 68). Insofern wir die bürgerliche Moderne aufgrund ihrer unerfüllten Versprechen kritisieren und hinter uns lassen wollen, stellt sich die Problematik, wie Moral- und Vernunftvorstellungen mit denen sich Herrschaft kritisieren und angreifen lässt, (wieder)gefunden werden können (Newman 2007: 164). Erst im Zuge der Achtundsechziger-Bewegung wird mit ‚Emanzipation‘ die Chance zur Befriedigung individuell unterschiedlicher Bedürfnisse beschrieben (Greiffenhagen 1973: 13), was allen Emanzipationstendenzen eine prinzipiell egalitäre Ausrichtung beziehungsweise Fluchtlinie verleiht (Lempert 1973: 219). Der Text Zur Judenfrage von Karl Marx (Marx 1990: 347-376) kann im Sinne der oben dargestellten Paradoxien gelesen werden, indem er partiell-politische mit allgemein-menschlicher Emanzipation vermittelt denkt und sie in ein dialektisches Verhältnis setzt. Darin schreibt er, dass Kritik am bürgerlich-kapitalistischen Staat zu üben sei, wobei dieser Emanzipationsbestrebungen teilweise aufnehmen und in sein Herrschaftsgefüge integrieren würde. Dies sei nicht an sich zu verwerfen, sondern erstrebenswert, wenn dadurch auf lange Sicht die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft und die Abschaffung des kapitalistischen Staates und anderer Herrschaftsverhältnisse und -ideologien (wie der Religion) möglich werden würde (Marx 1990: 356). Bekanntermaßen ereignete sich diese nicht. Dennoch gehe ich darin mit, dass politische Emanzipation für die Unterdrückten und Ausgeschlossenen erstrebenswert ist, was eine Ausweitung des Raums des Politischen verlangt, um dessen Definition Auseinandersetzungen geführt werden. Hierin liegt jedoch die Chance auf die allgemein-menschliche Emanzipation (Marx 1990: 370), sprich, die soziale Revolution wenn Anarchie nicht als eschatologischer Endzustand gedacht wird.

Der Emanzipationsgedanke spielt in postanarchistischer politischer Theorie deswegen eine Rolle, weil durch ihn den Subjekten im politischen Denken eine zentrale Bedeutung zukommt. Gesamtgesellschaftliche und subjektive Veränderungsprozesse können dadurch zusammen gedacht und antiautoritäre politische Perspektiven jenseits des Staatssozialismus‘ und der Sozialdemokratie aufgemacht werden (Greiffenhagen 1973: 5f.). Emanzipation vollzieht sich somit in doppelter Hinsicht durch die Subjekte: durch ihre Selbst-Ermächtigung und indem sie sich als Subjekte verändern und ihre Subjektivierung (mit)gestalten. Da anarchistische Ansätze die Bedeutung der Individuen und ihre (Selbst-)Veränderung für emanzipatorische Prozesse unterstreichen, den normativen Wert von Einzelnen in ihren sozialen Beziehungen verteidigen, die Gestaltungshoheit konkreter Menschen über ihre Lebensumstände einfordern und bei diesenu ansetzen, kann somit ein postanarchistisches Verständnis von Emanzipation gesetzt werden.

Heruntergebrochen: Ich gehe davon aus, dass der Emanzipationsbegriff das Potenzial hat, in-und-gegen die bestehende Herrschaftsordnung wirksame Befreiungsprozesse vorstellbar zu machen. Bei dem, was heute alles als emanzipatorisch gilt besteht selbstverständlich die Gefahr in der Szene-identitären Selbstbearbeitungsschleife oder bei reformistischen Wohlfühl-Forderungen zu verharren. Wenn es hingegen gelingt, mit dem Begriff eine konfrontative politische Schlagkraft zu verknüpfen und sie mit eigenen ethischen Wertvorstellungen zu verbinden (zum Beispiel: Vielfalt in Differenz, wertschätzender und achtsamer Umgang, eine ‚holistische‘ Weltbeziehung etc.) liegt in ihm das Potenzial der Neuformulierung eines (anti-)politischen, das heißt subjekt-kritischen und anti- und nicht-hegemonialen, gesamtgesellschaftlichen Projektes jenseits von Staat und Individuum (Kuhn 2007). In diesem sollen sich nun auch keineswegs alle als „Anarchist_innen“ verstehen oder politische Strategien verfolgen, die bisher als „anarchistisch“ galten. Ohne gemeinsam ausgehandelte Vorstellungen davon, wie eine qualitativ bessere Gesellschaft aussehen könnte, sowie Visionen wie solche erneuerten utopischen Narrative erfahrbar verwirklicht werden, können Anarchist_innen ihr Nischendasein jedenfalls nicht verlassen.

VII Sinn, Anwendungsmöglichkeiten und Grenzen postanarchistischer Theorien

Was aber bringt uns nun das postanarchistische Denken in Paradoxien und Spannungsfeldern, welches ich in dieser Abhandlung anhand spezifischer Verständnisse von Subjekt, Hegemonie, (Anti-)Politik und Emanzipation zu skizzieren versucht habe? Handelt es sich bei anarchistischer politischer Theorie nicht genauso um eine zu belächelnde Sparte, um das, was eben irgendwer noch mal sagen wollte und dann war’s das? Möglicherweise. Sollten sich kritische Wissenschaftsunterströmungen formieren, die sich selbst als ‚anarchistisch‘ bezeichnen, wie es in der Anthropologie (Graeber 2004), der Geografie (Springer 2016), Philosophie (Critchley 2012), Pädagogik (Hworth 2012) und eben auch der politischen Theorie (Day 2005, Newman 2010) der Fall ist, wenngleich der deutschsprachige Raum hiervon bisher fast vollständig ausgenommen ist? Welche Gründe hat das zaghaft aber kontinuierlich anwachsende Interesse an anarchistischen Perspektiven? Und bedeutet dies, dass sich tatsächlich neue anarchistische politische Akteure herausbilden und an Relevanz gewinnen oder handelt es sich hierbei lediglich um Oberflächenerscheinungen, unter Umstände sogar um einen noch stärkeren Rückzug anarchistischer Bestrebungen auf Gedankenspielereien? Darüber lässt sich sicherlich viel diskutieren.

Insgesamt ging es mir mit diesem Artikel vor allem darum zum Ausdruck zu bringen, dass Anarchismusforschung auch anarchistische Theoriebildung beinhalteten sollte. Und somit, dass anarchistische Theorien kein Oxymoron sind, auch wenn sie tatsächlich sinnlos wären, wenn sie sich von vorhandenen politischen Bewegungen abspalten, anstatt sich in ihren Dienst zu stellen. Umgekehrt bedeutet dies jedoch auch, davon auszugehen, dass Theorien benötigt werden wenn es darum geht, notwendigen Aktionismus nachhaltig mit gesellschaftskritischen Argumenten zu unterfüttern und Menschen von anarchistischen politischen Projekten zu überzeugen, damit sie sich selbst organisieren. Wenn Theoriebildung in Wissenschaftsbetrieben stattfindet, dann bitteschön. Besser wäre es sicherlich an anderen Orten, aber diese und ihre Ressourcen sind zu erschließen. Wem der Postanarchismus als poststrukturalistisches anarchistisches Denken nicht gefällt, die_der möge gerne nach anderen Ansätzen suchen, um eine Erneuerung anarchistischer Theorien zu ermöglichen. Dass damit alles zu erklären wäre, wurde hier nicht behauptet. Nichtsdestotrotz bin ich persönlich davon überzeugt, dass die Beschäftigung mit den erwähnten Versuchen anarchistischer politischer Theoriebildung sehr lohnenswert ist und ein anarchistischer Politikbegriff zweifellos eine Leerstelle darstellt, die gefüllt werden kann. Letztendlich handelt es sich wohl um die alte und grundlegende Frage: Wie halten’s Anarchist_innen mit der Macht?


Verwendete Literatur

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Quellen:

  • Dörnis, Martin, Anti-Politik ist eine Möglichkeit. Nachtrag zu einer Debatte, in: CEE-IEH, Nr. 90 / 2002; auf: http://www.conne-island.de/nf/90/15.html; zuletzt aufgerufen am: 16.05.2017;
  • sowie in: Streif-Züge. Magazinierte Transformationslust 3 / 2002; auf: https://www.streifzuege.org/2002/anti-politik-ist-eine-moeglichkeit; zuletzt aufgerufen am: 16.05.2017.