Zum 210. Geburtsjahr von Johann Caspar Schmidt alias Max Stirner
zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #67 / Juli 2016
von Jens Störfried

Die nur so halb runde Zahl an Jahren möchte ich zum Anlass nehmen, einige Gedanken zu äußern, die mich beim Lesen von Max Stirner inspiriert haben. Genauer genommen war es nicht nur Stirner alleine und für sich, sondern auch seine Interpretation durch Saul Newman[1], die ich für die Entwicklung aktueller anarchistischer Theorien sehr wichtig finde. Jawohl, anarchistische Theorien![2] In diesem Beitrag soll es jedoch nicht darum gehen, den Lebensweg Stirners nachzuzeichnen, seine Rezeptionsgeschichte darzustellen oder seinen Einfluss zu bestimmen. Wer sich dafür interessiert, wird an verschiedenen Stellen fündig.[3] Hier ist also auch nicht der Platz für Einführung in die Gedanken Stirners, sondern es handelt sich um einige Gedanken zu ihm…
Der Missbrauch Stirners durch neurechte Anarchokapitalist*innen
Entscheidend an dieser Stelle ist, dass er als konsequenter Individualist anarchistisches Denken stark beeinflusst hat, auch wenn er sich selbst wohl nicht als Anarchist sah und sich gleichzeitig viele Anarchist*innen von ihm distanzieren würden. Eine lockere und positive Bezugnahme auf Stirner steht vor dem großen Problem, der Verwendung seiner Gedanken durch Rechtsliberale bis hin zu sogenannten Anarchokapitalist*innen.[4] Die Zeitschrift „eigentümlich frei“ ist dafür im deutschsprachigen Raum repräsentativ und stellt neben der klar „völkischen“ Zeitung „sezession“ und der „Jungen Freiheit“ eines der wichtigsten Publikationsorgane der Neuen Rechten, also der im weiteren Sinne modernisierten faschistischen Bewegung dar. Wesentlich für Autor*innen aus diesem Spektrum ist ihre Kritik und die Bekämpfung aller emanzipatorischer Errungenschaften, sei es in den Feldern des (Queer-)Feminismus, der LGBT-Bewegung, der sogenannten Menschenrechte, der Thematisierung des europäischen Postkolonialismus, der Relativierung bzw. Veränderung des Nationalismus durch die Globalisierung oder auch der letzten Rudimente des konservativ-paternalistischen Sozialstaates. Diese sozialen und politischen Rechte für Gruppen und Einzelne mussten durch Staaten auf den Druck von politischen Bewegungen hin gewährt werden. Aus diesem Grund sehen sowohl Ultra-Kapitalist*innen als auch völkische Nationalist*innen eine „linksgrüne Meinungsdiktatur“ herrschen, die sich in den staatlichen Institutionen und Gesetzgebungen niedergeschlagen hätte, welche sie bekämpfen, wodurch sie sich unter anderem in Form der AfD als rechtspopulistische Kraft etablieren konnten. Dabei ist die konformistische, reaktionäre und gewalttätige Rebellion der bürgerlichen Individuen durchaus Zeichen dafür, dass Menschen sich gegängelt, gemaßregelt und „ihrer Freiheit“ eingeschränkt fühlen.
Stirner als Ideologe des „bürgerlichen Individualismus“?
Vor dem Hintergrund dieser aktuellen Phänomene (die aber so neu auch wieder nicht sind) ist es spannend der Frage nachzugehen, welche Form des Individualismus nun Stirner im Sinne hatte. Wenn es stimmt, dass er einfach nur den bürgerlichen Individualismus auf die Spitze treibt, wie Karl Marx behauptet[5] (auch wenn er unterschlägt, dass seine eigenen theoretischen Entwicklungen gerade durch die Auseinandersetzung mit Stirner zu Stande kamen), dann müsste er konsequenterweise heute von Anarchist*innen verworfen werden. Der Anarchismus geht nämlich davon aus, dass Menschen stets durch gesellschaftliche Verhältnisse geformt werden und immer schon mit anderen in Beziehungen stehen, anstatt abstrakte, isolierte und selbstbezügliche Monaden zu sein, wie liberale Denker sie zeichnen. Deswegen erfahren Anarchist*innen die Welt auch nicht so, dass Andere lediglich „ihre Freiheit“ einschränken würden. Stattdessen geht es ihnen um die Befreiung aller Menschen, um den Abbau aller Herrschaftsverhältnisse, die uns ja gerade erst als vereinzelte Menschen gegeneinander in Konkurrenz und Bewertungsverhältnisse setzen.
Nach meiner Beschäftigung mit ihm, wollte Stirner genau dies thematisieren, wenn er überdeutlich davor warnt, dass Einzelne sich verschiedensten abstrakten Kollektiven und Ideologien („fixen Ideen“) unterordnen sollen, die ihnen ihren jeweiligen Status, Wert und ihren Platz in der Gesellschaft zuweisen und diesen ausweglos erscheinen lassen. Die Kirchen, Staaten, Kapitalist*innen, aber auch politische Parteien (also Herrschaftsinstitutionen im Allgemeinen) bedienen sich verschiedener (Herrschafts-)Ideologien (bspw. Religion, Nationalismus, Humanismus, Rassismus) um ihre jeweiligen Interessen gegen jene der Einzelnen durchzusetzen. Sie alle behaupten, die Einzelnen hätten höheren Idealen wie der „Sache“ Gottes, der Nation, des Volkes oder auch „der“ Menschen zu dienen, damit sie durch ihre Aufopferung an diese von ihnen einen Wert erhalten. Ihre jeweils eigenen („egoistischen“) Interessen, ihre Fähigkeiten, Bedürfnisse und individuellen Seinsweisen sollen nichts gelten, werden als schlecht und gemeinschaftsgefährdend angesehen und müssten deswegen unterdrückt werden.
Während die Kritik der Religion bspw. durch Ludwig Feuerbach im Zuge der Aufklärung selbst in deutschsprachigen Ländern an Raum gewann, erkannte Stirner eine totalitäre Gefahr darin, dass sich gerade durch den Humanismus eine neue Herrschaftsideologie etabliert. Durch sie wird Herrschaft wesentlich perfekter, weil sie noch stärker in die Individuen hinein verlagert wird. Wenn auch die meisten Sozialist*innen und Anarchist*innen behaupteten, dass ihre Ideologien unangreifbar seien, da sie ja „dem Fortschritt der Menschheit im Allgemeinen“, also „der Sache des Menschen“ dienen würden, kann dagegen wohl kaum ein Einwand erhoben werden. Der Individualismus Stirners, das heißt seine vehemente Betonung der Bedeutung einzelner Menschen, war allen ein Dorn im Auge, was sich an den zahlreichen Kritiken an ihm zeigt.
Gesellschaftsveränderung versus Veränderung der Einzelnen?
Jedoch ist es keineswegs so, dass es Stirner um bürgerliche Individuen wie im oben dargestellten Sinn ging, nach dem Motto: „Mir darf niemand in mein Privatleben hineinreden“. Vielmehr schrieb er unter anderem: „Weil es kaum Jemand entgehen kann, daß die Gegenwart für keine Frage einen so lebendigen Anteil zeigt, als für die ’soziale‘, so hat man auf die Gesellschaft besonders sein Augenmerk zu richten. Ja, wäre das daran gefaßte Interesse weniger leidenschaftlich und verblendet, so würde man über die Gesellschaft nicht so sehr die Einzelnen darin aus den Augen verlieren, und erkennen, daß eine Gesellschaft nicht neu werden kann, solange diejenigen, welche sie ausmachen und konstituieren, die alten bleiben.“[6]
Es könnte gesagt werden, „trotz“ Stirners Individualismus sieht er hier auch die Entwicklung der Gesellschaft und insbesondere die Aktualität der sozialen Probleme als wichtig an. Dies wäre aber eine verkürzte Interpretation. Was Stirner hier meint ist, dass es die sozialen Probleme der Gesellschaft zu lösen gilt, eben damit die Einzelnen jeweils ein besseres und freieres Leben führen und ihre jeweilige Individualität, die sie als Menschen auszeichnet, entfalten können. Es geht ihm also darum gesellschaftliche Verhältnisse (ich würde sagen: grundlegend) zu verändern, was nicht mittels Wunschdenken, sondern durch politische Auseinandersetzungen geschieht.
Worauf die Betonung in seinem Denken liegt, ist, dass qualitative gesamtgesellschaftliche Veränderungen nicht dadurch möglich werden, dass beispielsweise sozialistische Parteien und Organisationen mit progressiven Ansprüchen und humanistischen Ideologien, politische Macht erlangen und ihre jeweiligen Programme durchsetzen. Die Geschichte zeigt, dass politische Revolutionen nie von sich aus sich „neue Menschen“ hervorgebracht haben. Der Wahnsinn diese durch proletarische Diktaturen zu schaffen, mündete dagegen stets darin, Gegner*innen, Andersdenkende und vor allem auch interne Abweichler*innen auszugrenzen, einzusperren und in Umerziehungslager zu stecken um ihren psychischen Widerstand zu brechen. Soll sich die Gesellschaft insgesamt, das heißt, sollen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, grundlegend verändern, braucht es Veränderungen der Menschen, welche dafür „nicht die alten bleiben“ können. Somit wird auch verständlich, warum sich Stirner mit der Frage der Bildung von Menschen (das heißt ihrer Prägung und ‚Formung‘ durch gesellschaftliche Vorstellungen und konkrete andere Menschen) beschäftigte, was unter anderem den libertären Pädagogen Ulrich Klemm inspirierte. Statt mittels „Erziehung“ schon kleine Menschen in die begrenzten Normen, Denkweisen, Beziehungsformen, Gefühls- und Handlungsmuster zu hinein zu zwängen, gestand Stirner allen Menschen zu, dass sie eigene Interessen haben und diese es wert sind beachtet zu werden.
Im Gegensatz zu vielen der frühen Anarchist*innen behauptete er aber nicht, dass Menschen und ihre individuellen Interessen von Natur aus „gut“ seien, wären da nicht die blöden Herrschaftsinstitutionen, welche sie in ihren Bestrebungen „schlecht“ machen würden. Stirner kritisiert hingegen Moralvorstellungen aller Arten, weil er diese immer an die Interessen abstrakter Kollektive geknüpft sieht, anstatt an grundsätzlich berechtige egoistische Neigungen, Bedürfnisse, usw. Daraus folgt aber nicht, dass niemand der_dem anderen „in ihr Leben hineinreden“ darf oder sollte. Es geht darum, dass die Vorstellungen darüber, was als gut oder schlecht zu bewerten ist, nicht von irgendwelchen ideologisch-moralischen Herrschaftsinstanzen gesetzt werden, dann in Gesetze gegossen und als psychische Zwänge verinnerlicht werden sollen (oder gar müssten). Einzelne Menschen können stattdessen selbst ihre Vernunft und Empathie entwickeln und die Fähigkeiten erlernen, mit denen sie auf gleichberechtigte Weise und in freien Vereinbarungen, ihre Leben gemeinsam regeln wollen.
Im Sinne Stirners kann dies aber niemals geschehen, wenn ihnen einfach andere Wertvorstellungen vorgesetzt oder sie ihnen gar aufgezwungen werden. Vielmehr können die Einzelnen Vorstellungen einer freien Gesellschaft aus freien und selbstbestimmten Menschen stückweise selbst entwickeln und sich mit vielen kleinen Schritten und vor allem in der gemeinsamer Auseinandersetzung darüber, selbst verändern. Diese Art von Selbstveränderung geschieht dann aber nicht auf der Grundlage der Moral und des schlechten Gewissens, wie im liberalen oder konservativen Bürgertum, sondern durch die Einsicht darin, dass Menschen tatsächlich in der Lage sind, solche emanzipierenden Erfahrungen zu machen. Mit diesem Gedanken kann der Widerspruch zwischen Einzelnen und Gemeinschaften überwunden werden und damit steht „Selbstveränderung“ nicht gegen „gesamtgesellschaftliche Veränderung“. Beides hat unmittelbar miteinander zu tun. Darum bin ich mir ziemlich sicher, dass Stirner eben auch letztere angestrebt hat, auch wenn er sich mit seiner Perspektive auf die Einzelnen konzentrierte und seine Kritik deswegen einen erfrischend nihilistischen Beigeschmack aufweist.
Stirners Gedanken als bedeutender Beitrag zu emanzipatorischem und anarchistischem Denken
Im Grunde genommen klingt das alles nicht so spektakulär. Das ist es auch nicht, weil es sich um Erfahrungen handelt, die Menschen mit ähnlichen Ideen tatsächlich immer wieder machen. Wahrscheinlich entwickeln viele von uns Gedanken darüber, wie sie sich jeweils individuell verändern können und trotzdem das große Ganze im Blick behalten, anstatt zu glauben, sie seien ach so besondere und unverstandene Bürger_innen. Genauso denken viele darüber nach, wie sie die gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen entgehen Herrschaftsvorstellungen und -interessen sozial und vernünftig gestalten können. Und wie sie grundsätzliche Veränderungen bewirken können, indem sie in ihrem unmittelbaren Umfeld anfangen, ihre Handlungsspielräume zu nutzen und auszuweiten. Solche Überlegungen kommen aber nicht irgendwo her, sondern beruhen auf den Erfahrungsschätzen welche in politischen Bewegungen gesammelt und in Auseinandersetzungen weiterentwickelt wurden. Lange bevor es totalitäre sozialistische Staaten und autoritäre Parteiapparate mit dem Anspruch gewaltsam neue Menschen zu schaffen und sie zu ihrem Glück zu zwingen gab, leistet Stirner durch sie Betonung der Bedeutung der Einzelnen und seine Kritik an der Forderung der Unterwerfung der Einzelnen unter abstrakte Kollektive einen bedeutenden Beitrag für die Entwicklung emanzipatorischen und anarchistischen Denkens.
Seinsweisen der besonderen Art
Die Subjektivität, welche Stirner anstrebt und thematisiert ist durch die fundamentale Abwehr aller zugemuteten Ansprüche eben nicht die Affirmation des bürgerlichen, isolierten, selbstbezüglichen und konkurrierenden Individuums. Stattdessen geht es ihm um das Offenhalten der Möglichkeiten, die unsere jeweiligen Seinsformen in den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen und sozialen Umfeldern in denen wir leben bieten. Weil wir alle (wenn auch auf sehr unterschiedliche Weise) unsere Potenziale in der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung nicht entfalten können, kann dies zum Ausgangspunkt von Widerstand und emanzipierendem Handeln führen.
Anstatt unser Wertgefühl von dem uns zugewiesenen Platz in abstrakten Kollektiven zu ziehen, ist es möglich, erst mal auf uns selbst zu schauen. In uns selbst sind jeweils verschieden gelagert die Herrschaftsbeziehungen eingeschrieben, die alles durchziehen. Wagen wir das Gedankenexperiment, zu schauen, was ohne diese da wäre, könnten wir zunächst zu dem Ergebnis kommen, dass da „Nichts“ wäre; Nichts, außer dem, wie wir geprägt, geformt und zugerichtet wurden. An diesem Nullpunkt aber könnten wir feststellen, dass da doch schon eine Menge ist, was uns auszeichnet und wodurch wir eben nicht einfach nur „Produkte“ (oder „Opfer“) der Verhältnisse sind, sondern mit den Widersprüchen und Zumutungen in ihnen immer schon irgendwie umgehen. So schreibt Stirner: „Hat Gott, hat die Menschheit, wie Ihr versichert, Gehalt genug in sich, um Alles in Allem zu sein: so spüre Ich, daß es Mir noch weit weniger daran fehlen wird, und daß Ich über meine ‚Leerheit‘ keine Klage zu führen haben werde. Ich bin [nicht] Nichts im Sinne der Leerheit, sondern das schöpferische Nichts, das Nichts, aus welchem Ich selbst als Schöpfer Alles schaffe.“[7]
Das klingt erst mal nach gefährlichem Größenwahn á la Nietzsche und Idealismus, wie es Marx (absichtlich?) falsch verstanden hat. Weil es sich aber offensichtlich um reine Polemik, um bewusste Provokation handelt, verstehe ich Stirner materialistisch so: Selbstverständlich sind wir ganz und gar durch Herrschaftsverhältnisse und -ideologien und unsere konkreten Lebensumstände geprägt. Staaten, Religionen, Nationen, Parteien, Popstars, Spitzensportler*innen, Familienangehörige, wer und was auch immer, behaupten, dass wir sie unbedingt bräuchten; das wir ohne sie rein gar „nichts“ wären. Das ist aber objektiv Schwachsinn, denn natürlich existieren wir als gesellschaftliche Wesen auch ohne sie. Eben weil wir als Einzelne Gesellschaft sind und diese bilden. Deswegen sind wir weder gut noch schlecht, sondern einfach widersprüchliche und begrenzte Menschen, die anderen wohltun oder sie verletzen können; die besondere Erfahrungen gemacht und damit individuelle Umgangsformen gefunden haben; die ihr Leben nicht für sich alleine gestalten können und wollen, aber es ebenso immer wieder anstrengend finden, sich mit anderen auseinander zu setzen und zusammen zu tun.
Es spricht überhaupt nichts dagegen uns in Gruppen zusammen zu schließen und gemeinsam unsere Leben und Umfelder zu gestalten. Allerdings kann die Frage gestellt werden, ob wir Wege finden, dies weitestgehend freiwillig und gleichberechtigt zu tun. Und, mit Stirner noch mal zugespitzter: ob wir (auf welche Weisen auch immer) nicht doch Kollektive einrichten und Ansprüche formulieren, denen sich Einzelne unterordnen sollen oder denen sie sich unterordnen wollen, um ihr Wertgefühl daraus zu ziehen. Freier-werdende Menschen haben es dagegen immer weniger nötig, sich selbst unterzuordnen oder anderen dies nahe zu legen, sondern entwickeln die Fähigkeit ihre jeweiligen Seinsweisen – zumindest immer ein Stück – gemeinsam mit anderen selbst zu gestalten und sich somit auch emanzipatorisch zu verändern.
Schluss
Somit wird denke ich deutlich, dass (wenn meine Interpretation als plausibel angesehen wird), Stirners Überlegungen eigentlich kaum etwas mit verkürzt-individualistischem Ansätzen der rechten Anarchokapitalist*innen gemein haben. Diese griffen ihn nur auf, weil er konsequenter Individualist war und den Egoismus gefeiert hat. Dabei verstehen sie aber nicht, dass Stirners Individualismus und Egoismus eben nicht bedeutet, sich gegen andere durchzuboxen, der tollste Hecht zu sein und die eigenen Minderwertigkeitsgefühle durch Aggressionen gegen Schwächere und Andere zu kompensieren. Wenn wir uns von herrschenden Vorstellungen schrittweise emanzipieren müssen wir uns immer weniger nach diesen in Konkurrenz setzen, vergleichen und unsere eigene Wertigkeit aus der Unterwerfung unter abstrakte Kollektive ziehen. Wir können sie in gelingenden Beziehungen zu konkreten Menschen finden, indem wir diese sein lassen, wie sie nun einmal (geworden) sind. Darauf aufbauend können wir und gemeinsam und die Gesellschaft verändern.
- [1] Saul Newman, From Bacunin to Lacan, Plymouth, UK 2007 [2001].
- [2] Ich denke einerseits gibt es anarchistische Theorien, andererseits ist es wichtig für eine politische Bewegung auch eigene Theorien zu entwickeln. Damit sind aber vorrangig oder gar allein Bücherwissen und Unistudium gemeint, sondern alle Weisen, wie wir uns kritisches und emanzipatorisches Denken und Wissen aneignen, was wir damit machen und wie wir es weiter vermitteln. Wenn es anarchistische Theorien gibt, sind diese deswegen nichts Abstraktes, Abgehobenes, sondern für sich selbst Praxis, die Bewegung inspirieren, ihnen Reflexion und Weiterentwicklung ermöglichen kann. Alle Anarchist*innen beziehen sich bewusst oder unbewusst, immer zum Teil auch auf Theorien. Die Frage ist, was sie damit machen.
- [3] John Henry Mackay, Max Stirner. Sein Werk und sein Leben, Berlin 1914; Bernd Kast, Der Einzige und sein Eigentum. Ausführlich kommentierte Studienausgabe, Freiburg 2009; Maurice Schuhmann, Radikale Individualität: Zur Aktualität der Konzepte von Marquis de Sade, Max Stirner und Friedrich Nietzsche, Bielefeld 2011. und so weiter…
- [4] Es gibt politische Strömungen, die sich als anarchokapitalistisch bezeichnen. Gerade im Internet sind Vorstellungen der kompletten Organisierung der Gesellschaft durch den Markt (!) relativ weit verbreitet. Meiner Ansicht nach hat dies rein gar nichts mit Anarchismus zu tun, wie ich ihn verstehe. Trotzdem ist es wichtig, sich damit auseinander zu setzen, wo diese Gedanken herkommen und es auch Schnittpunkte zu einigen Strömungen/Vertretern des Anarchismus gab und gibt.
- [5] Karl Marx, Marx-Engels-Werke, Band 3, S. 101-168.
- [6] Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 2008, S. 231.
- [7] Max Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, Stuttgart 2008, S. 5.