zuerst veröffentlicht in: AIBJ // Juni 2017
Anarchist_innen hätten keine Staatstheorien, überhaupt kein vernünftiges Verständnis von Herrschaft und gesellschaftlichen Verhältnissen und wären deswegen in ihren Ansichten nicht ernst zu nehmen – so lautet ein gängiges Vorurteil das von autoritären Sozialist_innen, die oft höchstens mal ein paar lächerliche Kommentare von Engels, Marx oder Lenin gelesen haben, angebracht wird, um sich einer Diskussion darum zu entziehen.
Der erste Fehler in dieser Argumentation besteht darin, zu meinen, es gäbe einen homogenen Anarchismus, anstatt die verschiedenen Strömungen aus denen er besteht mit seinen entsprechenden unterschiedlichen Vorstellungen, beispielsweise vom Staat. Die Vielfältigkeit hat verschiedene Gründe und wird von Anarchist_innen meistens begrüßt. Deswegen ist es unsinnig, ein_e Anarchist_in auf bestimmte Vorstellungen festzunageln und einzusortieren, die sie_er vielleicht gar nicht so teilt. Mit Menschen und ihren Ansichten sollte sich direkt auseinander gesetzt werden, bevor ein Gefühl dafür entsteht, ob ihre Argumente schlüssig sind oder nicht.
Dass es überhaupt eine einheitliche Theorie vom Staat bräuchte, um Kritik an diesem zu üben, ist der zweite Denkfehler. Selbstverständlich ist es wichtig, sich tiefgehend mit einem komplexen Gegenstand wie dem Staat auseinander zu setzen – gerade wenn er und die Herrschaft für die er Ausdruck ist, zurückgedrängt oder sogar abgeschafft werden soll. Die Auseinandersetzung mit ihm muss aber deswegen nicht allein in theoretischen Debatten geschehen, bevor Menschen anfangen könnten, sich zu dem Staat auf bestimmte Weise zu verhalten. Das bedeutet aber nicht, dass Anarchist_innen „einfach machen“ und nicht diskutieren würden, im Gegenteil… und auch hier erweist sich Pluralität als Stärke, die kontinuierliche Diskussion ermöglicht anstatt von vorgefertigten Wahrheiten auszugehen, die dann alle teilen müssten.
Dennoch gibt es im Anarchismus verschiedene und bestimmte Vorstellungen, beispielsweise vom Staat. Und allgemein bekannt und wahrscheinlich das Erkennungszeichen der Anarchist_innen schlechthin ist, dass sie den Staat abschaffen wollen. Trotzdem erkennen sie auch unabhängig vom modernen Staat, vor seiner Entstehung und der des Kapitalismus, verschiedene Herrschaftsformen und -ideologien (Patriachat, Naturzerstörung, Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Religionen), die sie überwinden wollen. Viele Leute steigen an dieser Stelle schon gedanklich aus, weil sie aufgrund ihres ideologisch eingeschränkten Horizonts davon ausgehen, dass „der“ Staat „die“ Gesellschaft organisiert oder ihn sogar mit „der“ Gesellschaft gleich setzen. Die meisten Menschen sehen staatliche Herrschaft als notwendig und legitim an, solange sie nicht zu weit in die sogenannte Privatsphäre der Unterworfenen eingreift, wobei diese Sphäre gerade das Gegenstück zur staatlichen Herrschaft darstellt. Die Legitimität und Notwendigkeit des Staates kann auch in Frage gestellt werden, wenn die soziale Ungleichheit zu groß wird und die Funktionsweise der kapitalistischen Gesellschaft insgesamt bedroht wird. Meistens geht es Kritiker_innen dann aber darum, einen „gerechteren“ und „sozialeren“ Staat zu fordern, der sie besser verwalten würde. Die parlamentarischen Demokratien eignen sich sehr gut, um Kritik und eventuelle sozialen Konflikte politisch zu vermitteln, sodass die Unterworfenen die Herrschaft mittragen und in sie einbezogen werden.
Wird die Notwendigkeit und Legitimität staatlicher Herrschaft aber grundsätzlich in Frage gestellt, dann können eventuell anarchistische Argumente angebracht werden. Innerhalb der anarchistischen Bewegung gab es stets und verstärkt auch in den letzten Jahren Diskussionen über Herrschaftsformen und Verständnisse des Staates, die von der marxistischen ‚materialistischen Staatstheorie‘ und poststrukturalistischen und feministischen Theorien, vor allem aber von praktischen Erfahrungen in politischen Auseinandersetzungen, beeinflusst wurden. Inzwischen wird der Staat von Anarchist_innen oft als ein Verhältnis verstanden, das bedeutet, er wird nicht mehr hauptsächlich in den Institutionen gesehen, sondern als Ausdruck miteinander verknüpfter gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Einige Anarchist_innen wie Gustav Landauer, haben dies aber auch schon vorher angenommen. Sehr vereinfacht gesagt ist „der“ Staat eine Beziehung zwischen Menschen, die an seine Legitimität glauben, mit seiner Ideologie durchdrungen und seinen Gesetzen unterworfen sind, die kapitalistisch ausgebeutet werden (wozu der Staat die Bedingungen gewährleistet und deren Folgen er kompensiert) und die miteinander oft nur vermittelt über ihn in Austausch treten können. Trotzdem findet sich staatliche Herrschaft natürlich auch in den Institutionen, wie Parlamenten, der Regierung, vor allem aber auch der staatlichen Bürokratie, die dabei oft kaum betrachtet wird und dem staatlichen Personal.
Dass der Staat grundsätzlich abgeschafft werden könnte und Menschen sich und die Gesellschaft stattdessen in freiwilligen Vereinigungen, ohne Zwang organisieren und dort miteinander kooperieren, sich dezentral und basisdemokratisch selbst verwalten könnten, ist die moderne anarchistische Idee. Andere Vorstellungen von hierarchie- und gewaltfreieren Formen der Gesellschaftsorganisation sind im anarchistischen Denken sehr wichtig, denn auch ohne Staaten wird Herrschaft ausgeübt und anti-staatliche Ansätze sind keineswegs immer emanzipatorisch. Die Idee, Staaten abzuschaffen entstand in einer Zeit, in welcher die Herrschaft von Nationalstaaten mit modernen Regierungstechniken stark ausgebaut wurde, Staaten sich immer mehr Kompetenzen aneigneten und in immer weitere Bereiche des Lebens der Menschen eingriffen. Die staatliche Herrschaft organisiert also die anderen Herrschaftsverhältnisse, unter anderem, weil sie über das Gewaltmonopol verfügt, steht aber auch mit ihnen in Wechselwirkung. Der Anarchismus geht grundsätzlich davon aus, dass die Etablierung des Staaten mit enormer Gewalt zu Stande kam und sich durch sie am Leben erhält. Gleichzeitig haben viele Menschen aber auch an staatlicher Herrschaft teil und unterstützen sie. Deswegen überlegten Anarchist_innen wie sie entweder „den“ Staat zerstören oder sich abseits seines Einflussbereichs organisieren könnten. Sie gingen also davon aus, dass es Gebiete außerhalb des Staates gibt und dass Menschen „die“ Gesellschaft auf hierarchiefreie, basisdemokratische Wege organisieren könnten. Die Vorstellung einer Trennung von Staat und Gesellschaft entstammt jedoch dem liberalen Denken. Herrschaftsverhältnisse bestehen auch ohne den modernen Staat weiter, weil sie im Bewusstsein der Menschen und auch nicht direkt staatlichen Institutionen verankert sind.
Anarchist_innen heute halten dennoch an dem Ziel der Überwindung staatlicher Herrschaft fest, weil sie ihnen als das deutlichste Zeichen der Herrschaft schlechthin erscheint. Außerdem werden (staatliche) Institutionen nicht als neutral betrachtet, sodass sie für verschiedene Zwecke verwendet werden könnten. Stattdessen funktionieren sie nach eigenen Logiken, welche kritisiert und also solche angegriffen werden müssen. Einfach nur zu sagen, dass „der“ Staat abgeschafft werden soll, ist trotzdem eine naive Annahme. Vielmehr muss es darum gehen, komplizierte Herrschaftsverhältnisse und -ideologien zu verstehen um sie angreifen zu können. Dass Staaten dabei weiterhin eine zentrale Rolle spielen steht außer Frage. Dies zeigt sich auch bei der heutigen neoliberalen Form der staatlich-kapitalistischen Herrschaft, die behauptet, den Staat abzubauen und tatsächlich aber nur einen Wandel staatlicher Herrschaft bedeutet. Nun greift sie auch auf sogenannte Nicht-Regierungs-Organisationen (bspw. Greenpeace) oder private Akteure (bspw. Frontex) zurück, während sie gleichzeitig immer die kapitalistische Aneignung des von allen erarbeiteten gesellschaftlichen Reichtums gewährleistet. Bankenrettungen, Subventionen von Unternehmen oder Sozialgesetzgebungen sind ein gute Beispiele dafür, dass Staaten auch heute massiv und dauernd in die vermeintlich „freie“ Wirtschaft eingreifen. Ab und zu gehen sie sogar gegen die privilegierten sozialen Gruppen vor, verfolgen einige Steuerhinterzieher oder bestrafen Unternehmen, die ihre Regelungen missachten. Der Staat ist deswegen nicht einfach ein „Instrument“ der herrschenden Klasse, aber auch keineswegs neutral, sondern handelt oft im Interesse von Privilegierten, vorgeblich aber nach denen, der von ihm unterworfenen Bürger_innen – wobei alle Menschen, die keine Staatsbürgerschaft besitzen schon mal herunterfallen und nichts gelten. Hierbei zeigt sich, dass die heutige Herrschaft trotz einigen Veränderungen immer auch nationalstaatliche organisiert ist, was zum Problem der Nation und des Nationalismus führt. Dies ist aber eine andere (Herrschafts-)geschichte…