zuerst veröffentlicht in: GaiDao #79 / Juli 2017
von Jens Störfried

Im Hamburger Junius Verlag erschien im April eine neues Buch über Anarchismus in der sozialwissenschaftlichen Reihe „zur Einführung“. Auf 200 Seiten zeichnet der kritische Theoretiker Daniel Loick sachlich und gut nachvollziehbar wesentliche Elemente anarchistischen Denkens, der Bewegung und Geschichte nach. Sicherlich ist es immer eine Geschmackssache, aber ich für meinen Teil bevorzuge diesen neuen Einführungsband eindeutig vor beispielsweise jenem von Hans Jürgen Degen und Jochen Knoblauch von der theorie.org-Reihe des Schmetterlingsverlages von 2006. Auch andere Einführungsschriften sind (insofern es sich nicht wiederum um kurze Broschüren handelt) entweder restlos veraltet oder ziemliche Schwarten wie Horst Stowassers „Freiheit pur“ von 1995 beziehungsweise „ANARCHIE!“ von 2007.
Die wesentliche Frage in Bezug auf eine Buchbesprechung: „Würdest du dieses Buch als Einführung in den Anarchismus weiterempfehlen?“ kann ich deswegen eindeutig bejahen – vorausgesetzt, die Lesenden lassen sich auf eine akademische Sprache ein (Doch diese kontroverse Diskussion will ich an dieser Stelle nicht aufmachen).
Möglicherweise kennt ihr ebenfalls diese völlig typische Situation: Eure Mutter/euer Enkel/eure Nachbarin/eure Arbeitskollegen fragen euch, was eigentlich Anarchismus ist. Weil ihr ein Grundinteresse annehmt, geht ihr selbstverständlich gleich ins Gespräch. Doch sobald ihr länger sprecht, missversteht ihr euch grundlegend, redet aneinander vorbei und streitet euch völlig sinnlos. Abhilfe schafft die Empfehlung eines Buches (oder einer Broschüre), auf deren Grundlage ihr euch streiten könnt. Wahrscheinlich lassen sich damit weder alle Probleme lösen, noch alle Unstimmigkeiten aus der Welt schaffen – fortan geht jedoch immerhin um den Gegenstand Anarchismus und nicht um irgendwelche Vorurteile.
In diesem Zusammenhang halte ich den kleinen Band für sehr geeignet. Loicks Ausgangspunkt ist dabei die Feststellung der Paradoxie der weltweiten Verbreitung anarchistischer Symbolik einerseits, die sich andererseits „jedoch nicht mehr einer real existierenden Massenbewegung“ verdanke, sondern vielmehr „für die Abwesenheit einer solchen Bewegung [steht.] Das eingekreiste A ist ein Platzhalter, um in Zeiten der Katastrophe eine einfach Idee aufrechtzuerhalten – dass ein Leben in Freiheit und ohne Gewalt für Menschen möglich ist“ (S. 9.) Dieser Annahme stimme ich insofern zu, dass sich wir wirkmächtige anarchistische politische und soziale Bewegungen erst aufbauen und sie deswegen als Entwurf denken müssen. Das bedeutet also, uns Gedanken zu machen, wo wir eigentlich hin wollen mit unserem Handeln im Hier&Jetzt. Dennoch zeigt sich hierbei, dass Loick zwar viel gelesen und sich unterhalten hat, aber konkretere Bezüge zu anarchistischen Aktivist*innen augenscheinlich fehlen. Somit treten Philosophie und Theorie in den Vordergrund vor Anarchismus als politischer Bewegung (S. 15) und als Lebensform (S. 36). Von dieser Dreiteilung auszugehen halte ich für äußerst sinnvoll, denn im anarchistischen Denken geht es nicht um Entweder-Oder, sondern um das Denken von Ineinander und Gleichzeitigkeiten. Übrigens unterscheidet auch David Graeber in ähnlicher Weise Anarchismus als Vision, Haltung und Praktiken (Direkte Aktion 2013, S. 32f.).
Im zweiten Teil folgt ein Überblick über die wichtigsten Hauptvertreter*innen des „klassischen“ Anarchismus von William Godwin angefangen bis hin zu Emma Goldman, schließlich auch die Erweiterung und Erneuerung des klassischen Anarchismus nach 1968 durch feministische, ökologische, antikoloniale und poststrukturalistische Einflüsse und soziale Bewegungen. Ebenfalls plausibel ist hier die Unterscheidung zwischen dem individualistischen/liberalen/libertären und dem mutualistischen/kollektivistischen/kommunistischen Flügel in der anarchistischen Bewegung, deren Grundanahmen sich meiner Ansicht nach tatsächlich in allen anarchistischen Debatten wiederfinden lassen. Herausragende Leistung des Buchs ist die Zusammenschau anarchistischen Denkens bis zu CrimethInc., Tiqqun, Giorgo Agamben und Simon Critchley, was ihm große Aktualität verleiht, die es auch die nächsten Jahre noch behalten wird. Menschen die sich mit politischen Theorien beschäftigen werden begeistert sein – ob es sie zum Handeln für die Anarchie bewegt, steht aber auf einem Blatt.
Bei den Motiven und Diskursen, die Loick im dritten großen Teil – dem „Kernstück“ – darstellt und diskutiert, gelingt es ihm ebenfalls große und entscheidende Themen im Anarchismus auf den Punkt zu bringen und zu erklären. Ziemlich neunmalklug wirken die Passagen, in denen er den Lesenden erklärt, wo anarchistisches Denken zu kurz greif, welches Potenzial es aber hätte. Beispielsweise schlägt er vor, das im Anarchismus auch vorhandenen „negative“ Freiheitsverständnis hinter sich zu lassen, dafür aber einen „ästhetischen“ Freiheitsbegriff zu entwickeln (S. 166f.). Wenngleich ich persönlich hierbei vollkommen mitgehe, stört mich die anmaßende Perspektive eines sozialwissenschaftlichen Erklärbären, der über, aber nicht mit Anarchist_innen redet. Ähnliches wiederholt sich bei seiner Kritik am anarchistischen Staatsverständnis, zu welchem er unbedingt wieder einen Marxisten heranziehen muss (S. 130). Als wenn die Debatte darüber, dass der Staat als „monolithischer Block“ falsch analysiert wäre, nicht längst geführt worden wäre – mit und ohne Marxist_innen. Deswegen kann ich auch Loicks Schlussfolgerung nicht nachvollziehen, dass der Staat historisch nicht immer den selben Interessen gedient, „sondern durchaus auch die Rolle eines Emanzipationsvehikels angenommen [hätte], etwa wenn es sozialen Bewegungen gelungen ist, soziale oder politische Teilhaberechte zu erkämpfen“ (S. 130). Erkämpft wurden sie aber immer auch, weil sich Anarchist_innen bewusst außerhalb und gegen den Staat stellten und dieser deswegen gezwungen wurde, Zugeständnisse zu machen und Rechte einzuräumen!
Bei den Motiven und Diskursen könnten sicherlich auch noch andere Themen aufgemacht werden. Für einen Einführungsband ist es aber auch eine Stärke, die Darstellung präzise und auf den Punkt zu bringen und ebenso Dinge wegzulassen, die aber weitergedacht werden können. Sehr spannend finde ich, dass die sogenannte Gewaltfrage, das heißt die Legitimität der Ausübung von Gewalt durch politische Aktivist_innen, nur an einer Stelle erwähnt wird, nämlich in Form der Überlegungen Emma Goldmans zur Propaganda der Tat (S. 94) und bei den Aktionsformen (S. 186). An allen anderen Stellen wird Gewalt richtigerweise als Grundbestandteil der derzeitigen Gesellschaft verstanden oder direkt mit dem Staat verknüpft. Diese Betrachtung ist gelungen, da sich Gegner_innen des Anarchismus in nie enden wollenden Hasstiraden bürgerlichen Denkens über seine angebliche Gewaltaffinität schwadronieren, während Anarchist_innen selbst meiner Wahrnehmung nach wohl gerade deswegen oft dazu neigen, sofort eine Rechtfertigungshaltung einzunehmen. Dies führt aber dazu, dass sie sich auf jene verkehrte Debatte einlassen und angreifbar machen, anstatt souverän die Gewalt der Verhältnisse offen zu legen und daraufhin selbst – und mit offenem Ausgang – die ethische Frage stellen, in welchen Situationen militantes Handeln legitim, sinnvoll oder gar notwendig ist. Jedenfalls sammelt Loicks Buch auch in dieser Hinsicht Punkte. Als äußerst hilfreich für die Arbeit mit dem Buch erweist sich übrigens auch das Personen-, Stichwort- und Literaturverzeichnis.
So gut die Einführung inhaltlich ist, wird auf den letzten Seiten noch mal deutlich, dass der Autor trotz aller Sympathie eine Betrachtung von außen vornimmt. Um noch mal was diskutieren und seine theoretische Brillianz darzustellen zu können, konstruiert Loick am Ende eine künstlichen Widerspruch zwischen einer Ordnung – die Anarchie laut Proudhon wäre – und der Unordnung, die sie tatsächlich auch ist und sogar sein sollte, damit alles immer in Bewegung bleibt (S. 218ff.). Nochmals wird hier von außen oder gar von oben herab, erklärt, dass anarchistisches Denken an einigen Stellen zu kurz greife, aber mit dem Begriff der „Praxis“ das Potenzial besitzen würde, Anarchie zu verwirklichen. So muss der nicht-involvierte Sozialwissenschaftlicher offensichtlich erst die Gegensätze aufmachen, die er dann clever vermitteln kann.
„Anarchismus zur Einführung“ von Junius ist empfehlenswert und trägt meiner Ansicht nach zur Verbreitung, Legitimierung und Unterfütterung anarchistischer Ideen und Vorstellungen bei, die systematisch und gut zusammengefasst dargestellt und auch diskutiert werden. Im Rahmen des sozialwissenschaftlich Möglichen hat Loick eine ganze Menge rausgeholt. Er sollte sich aber nicht zum Guru machen lassen oder nun als Anarchismus-Experte auftreten. Wird Anarchismus expertenhaft erklärt anstatt gelebt zu werden, ist er verloren. Angemessen wäre es, wenn der Autor was vom verdienten Geld an die kämpfende Bewegung weitergibt.