Eine sarkastische Kolumne über die Verwirrungen durch Pokémon Go
zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #69 / Sept. 2016
von Imgart Edelweiß, der beleidigten Anarchakonservativen
(Entgegnungen, am besten in literarischer Form sind sehr erwünscht!)
Wir saßen vor unserem Haus auf der Couch als wir sie zum ersten Mal bemerkten. Dutzende Menschen, die standen oder auf Geländern saßen und auf in manischer Versessenheit auf ihre smartphones glotzten. Im Grunde genommen keine seltsame Sache in unseren individualisiert, entfremdeten, vernetzten Zeiten. Doch irgendetwas schien seltsam, ungewöhnlich, anders im Verhalten der internetverbundenen und dauerüberwachten Mobilfunknutzer_innen. Es war der zweite Tag an dem Pokémon Go in der BRD rauskam. Desinformiert und von der Mehrheitsgesellschaft abgeschnitten wie stets erfuhr ich erst vom Freund der bei mir saß vom Hype, dessen Ankündigung schon an mir vorbeigegangen war. An dieser Stelle drängt es mich, mich zu outen: Ich verstand meine Umwelt nie und darum ist es eine traurige Tatsache, dass bei mir nicht mal Kindheitserinnerungen wach werden, wenn es um Pokémon geht. Das ist total langweilig, ich weiß. Dabei bin ich nicht mal ohne Fernseher aufgewachsen, sondern hatte früher wohl einfach keine Freund*innen. Oder habe ich mir meine rudimentären Pokémon-Erinnerungen über die Jahre weggesoffen?
Ich besitze kein smartphone, wie ich früher auch lange Zeit kein Handy hatte. Nicht, weil ich etwa aus einer primitivistischen Einstellung heraus grundsätzlich technikfeindlich wäre, sondern aufgrund des schlichten Gefühls, dass ich keines brauche und meine Bedürfnisbefriedigung nicht an den Besitz und die Verfügung elektronischer Geräte geknüpft ist. So dachte ich zumindest bisher. Aber ging es mir nicht genauso, als ich mir vor Jahren das erste outgesourcte Handy schenken ließ? Immerhin lernen wir in dieser Konkurrenzgesellschaft ja auch kaum unsere Bedürfnisse kennen und artikulieren beziehungsweise allein warenförmig vermittelt zu befriedigen – Was bei Pokémon Go ja auf den ersten Blick nicht der Fall zu sein scheint, da es sich kostenlos downloaden lässt und darum wie alle derartigen Produkte als Segnung des Kapitalismus verkauft wird. Vielleicht weiß ich also einfach nicht, was mir fehlt, wenn ich weder smartphone noch Auto und kaum Besitz habe, der nicht mit einem konkreten Gebrauchswert für mich verbunden ist? Ist es am Ende möglicherweise sogar so, dass hinter meinem Bedürfnis zu rauchen eigentlich andere Bedürfnisse lauern? Paradoxerweise scheinen trotzdem auch für mich die Pokémon nunmehr in ihrer Abwesenheit anwesend zu sein. Was bisher keine direkte Rolle spielte, wird deswegen real, weil es die Realität
vieler anderer prägt. Dass war vorher selbstverständlich auch so, wird mir aber bewusster, wenn ich schon wieder fast jemanden mit dem Fahrrad über den Haufen fahre, weil sie versessen auf ihr mobiles Endgerät starrt als sie wie ein Zombie die Straße kreuzt. Schadenfreude und schwarzer Humor sind Wege mit der unverständlichen Realität umzugehen, die sich uns nicht erschließen weil sie zu bitter ist. Auch wenn das grenzwertig ist, erheitern mich bis jetzt die Berichte über Autounfälle, von Leuten die Klippen hinab stürzen und solchen, denen ihr Portemonaie oder gleich ihr smartphone geklaut wird, weil sie vertieft drauf starren und alles andere vergessen. Oder der Mann, der auf zwei Jugendlich schoss, weil sie nachts vor seinem Geschäft standen und einer den anderen fragte, was er erbeutet hätte. Wirklich unlustig ist, dass Menschen in Bosnien beim Zocken auf ein Landminenfeld gelaufen sind, während andere (ungewollt!) in eine Schießübung der Bundeswehr stolperten . Oder der Typ, der seinen Job kündigte um Pokémon zu zocken, was ja erst bmal sehr vernünftigt ist. Richtig traurig ist dann aber, dass er angab, dass erst das Spiel ihm den Traum zu reisen ermöglicht hätte.
Auf jeden Fall ist wichtig, stets beschäftigt zu sein in dieser staatlich verordneten Langeweile. Beschäftigt und mobil. Was in der Realworld nicht alles für aufregende Sachen zu finden sind, wo mensch eigentlich Pokémon fangen wollte! Schon zwei Spieler*innen stießen auf diese Weise auf Leichen an etwas abgelegenen Orten. 5 Schlimmer wäre es wahrscheinlich, wenn sie militärische Geheimnisse aufdecken, wie gleichzeitig das chinesische und die US-amerikanische Militär befürchten . Eine erheiternde Art durch Technik die Gesellschaft transparenter zu gestalten und zu demokratisieren – abgesehen davon, dass google gleich mal alle Daten abgreift, die sich auf dem selbst-fremdgesteuerten Weg befinden. In Zukunft wird er die Pokémon-Fans wohl immer wieder zu den Filialen von Großunternehmen führen, welche es sich leisten können, Nintendo die Kohle rüberzuschieben, um bei sich ein paar rare Exemplare plazieren zu lassen. 7 Eine Investition ins Spezielle im Allgemeinen des für jeden Trottel der Industrienationen prinzipiell Verfügbaren.
Schließlich führt auch der Spannungsbogen im (aus ideologiekritischer Perspektive hoch interessanten) Trailer für das augmented-reality-game vom Allgemeinen, Alltäglichen der vereinzelten und vereinsamten bürgerlichen Individuen zu ihrer mystischen Vereinigung im neoliberalen Kollektiv unterworfener Vollidioten. 8 Im Endfight Alle gegen Mewtwo, wird auf eine blonde junge Frau fokussiert, wobei die vorher verschleierten rassistischen, patriarchalen und Klassenunterschieden wieder zu Tage treten. Um über die Austauschbarkeit und Konkurrenz menschlicher Player hin zu täuschen, dürfen alle auf das ultimative Opfer einprügeln. Armes Mewtwo! Doch hier geht es nun mal um vermeintliche „Urinstinkte“, die in der kapitalistischen Gesellschaft als natürlich behauptet werden: Sammeln, tauschen, konkurrieren und natürlich kämpfen. Vögeln können die Viecher wohl noch nicht miteinander. Doch dass für die Reproduktion gesorgt ist begriff ich als vor mir jemand schrie „Yeah, 10 Kilometer“ und damit nen Ei ausgebrütet hatte. Die Hausärztin wird ihn loben, weil er endlich mal etwas draußen rumläuft. Unglaublich was der technische Fortschritt alles möglich macht: Menschen gehen spazieren! Doch ich will spazieren gehen und höchstens mal ein schönes Blatt, Muscheln oder Sperrmüll sammeln. Ich will nicht mobil sein, wie’s das Jobcenter verlangt, will nicht konkurrieren um zu profitieren oder einem armseeligen Nationalismus zu frönen.
Wäre auch wirklich zu viel verlangt gewesen, dass ein einzelnes Online-Game die gesellschaftlichen Verhältnisse über den Haufen wirft! Habe ich mich am Ende also doch noch vom Hype blenden lassen, weil ich damit fortwährend belästigt werde? So hängen weiterhin massig Leute vor unserem Haus rum. Wir sitzen weiterhin auf dem Sofa und lachen drüber. Wahrscheinlich weil wir kein Leben haben. Stimmt schon: Irgendwie fühlt es sich nicht so real an in diesen falschen Verhältnissen. Abgesehen von dem Typen der mit seinem smartphone so auffällig nah bei uns rumsteht und bei dem ich mir nicht sicher bin, ob er möglicherweise ein Fascho ist und uns belauscht.
Die Auseinandersetzung um die Aneignung dieser Tarnungsmethode ist längst im Gange. So war die Zock-Verabredung um „Pegimon“ in München zu stören, wohl ein ganz guter Anfang. Die Pegimon-Nazis griffen das wiederum auf und reklamierten für sich die Realität indem sie mit drohendem Unterton „wirkliche Ziele“ zu „sammeln“ versprachen. Tatsächlich geht es hierbei um eine Auseinandersetzung um die Konstruktion der „Wirklichkeit“. Doch was ist Wirklichkeit, wenn durch technische Entwicklungen die Grenzen zwischen zwischen physischer Umgebung und digitaler Überlagerung immer weiter verschmelzen werden? Was ist „Realität“ und was ist „Spiel“, wenn intensiv Zocken nicht mehr bedeutet, sich tagelang mit Chips und Cola im verdunkelten Keller einzunisten, was meiner Ansicht nach keineswegs unsozialer ist, als damit permanent andere Leute draußen zu belästigen? Wenn wirklich mit seiner Umgebung zu spielen und beispielsweise Hauswände mit Graffities oder Plakaten zu verzieren hart bestraft wird?
Ja ich weiß, das ich über meine Ansichten reflektieren und meine Ressentiments in Frage stellen muss. Ich halte mich an ihnen fest, um der Tatsache zu begegnen, dass ich die Realität um mich herum nie vollends begreifen kann; dass ich immer nur Ausschnitte sehe und diese auf bestimmte Weise interpretiere. Veränderungen verunsichern mich. Ich bin wohl etwas konservativ. Anarchokonservativ. Vielleicht sogar bio-konservativ wie die Transhumanist*innen sagen und damit Leute meinen, die es nicht so geil finden, wenn in Körper von Lebenwesen unbedingt Biotechnologie eingebaut werden muss. Also bin ich fortschrittsskeptisch, weil mir noch keine technische Errungenschaft begegnet ist, die soziale Probleme löst und sie nicht nur kompensiert. Was hat das jetzt aber mit Pokémon Go zu tun? Nur so viel, das wir grundsätzlich mal wieder Debatten über Techniken und unseren eigenen Umgang damit führen sollten. Brauchen wir für unsere Veranstaltungsreihe wirklich eine Facebook-Seite oder muss auf unserem Plakat ein QR- Code sein? Warum? Einfach nur, weil das irgendwie hipp und modern ist? Rechnen wir wirklich
damit, dass signifikant mehr Menschen mit unseren Inhalten in Berührung kommen und sich auch damit beschäftigen? Warum nehmen immer noch so viele Leute ihre smartphones mit auf Demo? Wie oft konnten sie sich damit dort dann wirklich selbst ermächtigen? Auf der Meta-Ebene gefragt: Was sind die Voraussetzungen dafür, dass wir uns Techniken aneignen und damit Anarchie verwirklichen können?
Doch ich will nicht mit der gefühlten Moralkeule, sondern mit einer wahren Anekdote schließen um den ironischen Charakter der Erzählung zu bewahren: Vor einiger Zeit wurde mal ein Haus besetzt. Im Haus direkt gegenüber, nur ein dutzend Meter Luftlinie, zockte ein Typ in seiner Bude am Rechner. Dies tat er stundenlang bis in die späte Nacht, während die Besetzer*innen ihm dabei zuschauen konnten, die unten versammelten Leute Barrikaden errichteten und von weiterer Ferne Blaulicht blinkte. Es handelte sich genau um den Typ Bürger*in, die*der sich auch kein Stück gezuckt hätte, wenn seine Nachbar*innen von der Gestapo abgeholt worden wären. Auch als ein Bengalo auf dem Dach gezündet wurde, veränderte das nicht aus seine kontemplative Haltung. Hätten wir damals Pokémon Go gehabt, wäre er vielleicht vorbei gesteuert und hätte bei Team Schwarzrot einige Antimon gefunden…