Originaltitel: (M)ein Weg zum Anarchismus – persönliche Reflexion über bisherige politische Sozialisation. Ein Anstoß
zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #76 / April 2017
von Simone
Der folgende Text ist bewusst subjektiv und aus der Perspektive eines Eigenbrötlers verfasst. Darin wird über verschiedene Erfahrungen und die Fähigkeiten und Möglichkeiten zu ihrer Interpretation und Reflexion nachgedacht. Unter anderem geht es um die Frage, mit welchen Gruppen sich Menschen identifizieren, wenn sich ihre politische Identität entwickelt und welche Gründe das hat.
Seitdem ich, in Kontexten wo es Sinn ergibt und wenn mir danach der Sinn stand, angefangen habe mich eindeutig als Anarchist zu positionieren und auch die Ideen des Anarchismus öffentlich zu propagieren, spürte ich doch eigentlich nie das Verlangen, Menschen wirklich davon überzeugen. Das klingt erst mal ziemlich seltsam, finde ich, denn welchen Grund sollte es sonst haben, sich öffentlich zu bestimmten politischen Vorstellungen und Bewegungen zu bekennen, wenn nicht den, andere auf die eigene Seite, in die eigene Gruppe, in das eigene Weltbild holen zu wollen? An einer Klandestinität lag es sicherlich nicht, denn was klandestin ist, dazu äußere ich mich nicht. Umgekehrt halte ich es aber für völlig unsinnig, meine Perspektive zu verbergen, da ich ihrer sicher bin; sie begründen kann; sie mit meinem ganzen Leben zu tun hat. Eine Art „Coolness“ war ebenfalls nicht der Grund, denn ich bin alles andere als cool – ausgenommen einer innerlichen Abgefucktheit, die sich aus einer großen Sensibilität speist und deswegen leider öfters eine Distanz zu den Dingen notwendig macht.
Einige meiner Genoss*innen verhalten sich da ganz anders – was sie selbstverständlich gern tun können. Sie werben offensiv für ihre Gruppen und Grüppchen, zeigen anderen Möglichkeiten auf, wie sie sich organisieren und einbringen können. Sie weisen ihnen Wege von dort aus, wo sie stehen – und von woher anders aus, sollten sie sich bewegen? Vom Ansatz her eine super Sache, denke ich mir, immerhin gibt es Möglichkeiten und schließlich glaube ich an die Veränderung, die durch bestimmte Menschen beginnt, die aus ihren konkreten Lebenssituationen heraus Unterschiede machen. Es sind oft die kleinen, aber konsequenten Schritte vieler Menschen, die untergründig, große Prozesse anstoßen. Das war schon immer so und ist meist unsichtbar. Deswegen ein Hoch auf den Basisaktivismus, der so oft nicht anerkannt und gewürdigt wird! – weder von Familie, selten auch von Freund*innen oder Genoss*innen, noch von Kader-Politikern. An der Basis knabbern und organisieren die Mäuse des antikapitalistischen und emanzipatorischen Widerstands – was das langfristig bewirkt, was das wohl auch schon gelegentlich bewirkt hat, können wir schwerlich sehen und ermessen.
Vielleicht ist es diese Überzeugung, diese Haltung, die mich skeptisch macht, anderen meinen Anarchismus aufschwatzen zu wollen, während ich gleichzeitig unverkennbar zu ihm stehe. Was nutzen gewisse Ideen oder auch Gruppen, wenn die Menschen sich als Menschen nicht bewegen und verändern? Offen sein kann ich und Angebote machen. Aber ich kann andere Menschen nicht in etwas hineinziehen, wo sie sich selbst nicht hin entwickeln können oder wollen, was für sie vielleicht nicht dran ist gerade. Ich kann drei Schritte auf Leute zu gehen und ihnen herzlich begegnen, in den Momenten, wo ich die Kraft dazu habe. Aber nach diesen müssten sie die einzwei selber tun, damit wir in dieser Situation zu Verbündeten werden und gemeinsam etwas starten. Diese Einstellung gewann ich aus der Erfahrung, das nach öffentlichen Reden gelegentlich eine große Begeisterung entstanden war, der Wunsch von Menschen, etwas zu tun oder zumindest sich weiter zu informieren. Dieser spontane Enthusiasmus ist gut, kommt in ihm doch zum Ausdruck, dass anarchistische Ideen sehr wohl verständlich gemacht und in den Lebenswelten von ganz unterschiedlichen Menschen anknüpfen können. Dennoch: Wer von diesen kommt den zu einem nächsten offenen Treffen, lässt sich mal wieder blicken oder fragt selbst nach, ob mensch nicht mal Email-Kontakt halten könnte, um zu schauen, was sich später ergibt? Angenommen, wir würden ein großes, allgemein gehaltenes Treffen ankündigen, um alle möglichen Interessierten „einzusammeln“… Ich bin mir sicher, dass einige kommen würden, bin aber skeptisch, ob sie dazu bereit wären, sich selbst zu verändern, was immer auch bedeutet, sich selbst in Frage stellen zu lassen. Darin schwingen hohe Ansprüche mit, ich weiß. Und ich will sie nicht auf andere projizieren – es reicht, wenn ich mich selbst damit herumschlagen muss.
Im Grunde genommen würde ich sogar soweit gehen zu sagen, Leute sollten sich gut überlegen, was es bedeutet Anarchist*in zu werden. Dass ich damit nicht meine, sich einen bestimmten Patch aufzunähen, dürfte klar sein. Dabei spreche ich dezidiert von einer, nämlich meiner, anarchistischen Subjektivität die mit meiner politischen Identität verknüpft ist. Es gibt da ganz andere – zum Glück! Es ist die Vielheit und Unterschiedlichkeit, die wir propagieren, obwohl wir sie viel zu selten realisieren; uns selbst viel zu selten wirklich auf sie einlassen wollen. Trotz dem es sich um eine spezifische Subjektivität handelt, sehe ich dennoch auch Schnittpunkte zu anderen Leuten, die ähnlich unterwegs sind. Anders kann es auch gar nicht sein, denn wenn wir gewisse Lebenswelten und Perspektiven, also auch Erfahrungen nicht teilen würden, könnten wir ja auch gar nicht zusammenkommen. In diesem Zusammenhang denke ich also über die biografischen Eckpunkte nach, welche mich auf diesen Weg gebracht haben – der freilich lange noch nicht abgeschlossen wird, denn dazu wurzelt der ganze Kram zu tief.
Ausgangspunkt war ein grundlegendes Gerechtigkeitsempfinden, was durch unmittelbare und ferne Ereignisse in der Welt permanent erschüttert wurde. Die Welt war ungerecht, gewaltsam, menschenfeindlich eingerichtet. Und es waren Menschen, die sie eingerichtet hatten, dafür verantwortlich waren, dies also auch ändern konnten und mussten. Offensichtlich schien mir, dass es Ansätze zur Veränderung gab, diese aber alle keine große Schlagkraft entfalteten; gewissermaßen nicht ausreichten, um die grundlegenden Ungerechtigkeiten über den Haufen zu werfen. Durch eigene Erfahrung wurde mir klar, dass Menschen sich meistens nicht durch bessere Argumente überzeugen lassen würden. Weil ich mit einer blühender Phantasie oft in meinen eigenen Welten unterwegs und sehr wissbegierig war, war ich nämlich auch der Ansicht, dass ich die besseren Argumente zu haben. Gelegentlich führte das dazu, die anderen für dumm zu erklären – hauptsächlich, um andere eigene Defizite und die Erfahrung von Ausgeschlossenheit zu rechtfertigen und zu überspielen. Davon kam ich später nach viel Gegenwind zum Glück ab. Meine Phantasie in Verbindung mit meiner Empfindsamkeit war auch der Grund dafür, dass ich in bestehenden Ordnungen nicht zurecht kam, sie als aufgedrückt empfand und kritisierte, sie nicht mitgestalten zu können. Dies war die Grundlage für die später entwickelte profunde Herrschaftsfeindlichkeit, führte aber auch dazu, dass ich mich dauernd in komplizierten Konflikten wieder fand. Ältere Leute hatten einfache Erklärungsmuster für die Ungerechtigkeit: Die Menschen sind schlecht und böse. Komischerweise sahen sie sich selbst eigentlich nicht als schlecht und böse an und genauso wenig diejenigen, mit denen sie zu tun hatten. Dies schien mir ein großer Widerspruch zu sein. Später erst verstand ich, dass sie permanent Schlechtes und Böses nach Außen projizierten, ein Anderes konstruierten, um sich selbst nicht in Frage stellen zu müssen.
Möglicherweise tun dies sogar die meisten Menschen (und auch einige meiner heutigen Genoss*innen): Widersprüche nicht aushalten, sich selbst auf der „richtigen Seite“ sehen, Recht haben, den Plan haben und so weiter. Ich hatte schon immer ein Defizit, was diesen gesundheitsfördernden Selbstschutzmechanismus angeht: Ich konnte nichts ausblenden, hielt nichts für an sich „richtig“ oder „falsch“, sah auch nur in wenigen Menschen etwas Böses, wobei mir vieles sehr unverständlich war, was sie taten. Wovon ich aber zutiefst überzeugt war, war, dass die Verwirklichung von Gerechtigkeit zu denken, auch zu empfinden war, von den Standpunkten der Schwachen, der Ausgegrenzten, der Unterdrückten, der Verkrüppelten. Deswegen musste sie notwendigerweise mit Protest verbunden sein. Deswegen ist sie besser beschrieben mit der Sehnsucht und selten auch der konkreten Erfahrung der Gleichberechtigung und sozialen Freiheit aller Menschen. Zweifellos waren es frühkindliche Erfahrungen, nach denen ich mich selbst mit diesen Positionen identifizierte, unabhängig davon, ob ich „objektiv“ gesehen ausgegrenzt, unterdrückt, benachteiligt und dergleichen war. Aufgrund dessen, erwarte ich auch von niemandem, diese Weltsicht nachvollziehen zu können – auch nicht von meinen jetzigen Freund*innen.
Ich wuchs in einer ländlichen und städtischen Atmosphäre auf, in denen ein Systemumbruch vom sozialistischen Staatskapitalismus hin zur staats-kapitalistischen Demokratie die meisten Menschen in den Koordinatensystemen ihrer Lebenswelten tief erschüttert hatte; in der Ressentiments gegen „Fidschis“, „Tschechen“, „Polen“, „Russen“, „Amis“, „Juden“, „Neger“, „Wessis“ und „Schwule“ weit verbreitet waren; in der Leute tatsächlich glaubten, dass es eine „friedliche Revolution“ gegeben hatte, während viele gleichzeitig fest davon überzeugt waren, das sie ja „schon immer verarscht worden“ und „zu kurz gekommen“ sind. In nichts anderem wie dieser Mentalität kommt eine resignierte und weitgehend durchgesetzte Selbstunterwerfung zum Ausdruck, weil die Hoffnung auf eine bessere Zukunft für all jene, die in der demokratisch-kapitalistischen Herrschaft eben nicht die Erfüllung schlechthin sahen (und das waren bei weitem nicht nur Sozialist*innen!), völlig zum Erliegen gekommen war. Vielleicht trifft das auch auf die meisten Zeiten und Orte zu, dennoch handelt es sich um Bedingungen, unter denen kritische, gar selbst-kritische Einstellungen nur schwer entwickelt werden konnten. Als wäre die Zeit stehen geblieben. Als wären alle Alternativen ausgelöscht worden. Als wenn die Nachkriegszeit nie aufgehört hätte, weil sich Menschen vielleicht instinktiv in einer Vorkriegszeit sahen oder realistischerweise im kapitalistischen Kampf aller gegen alle begriffen. Die kollektive Kränkung konnte durch die unglaublichen Konsummöglichkeiten und der Faszination eines rasanten Wandels übertüncht werden. Aber eben nicht mehr als das.
Auch wenn ich wie erwähnt, von all diesen Dingen umgeben war und geprägt wurde, nahm ich merkwürdigerweise weder die Vorurteile noch die kollektive Kränkung oder den Glauben daran an, dass wir jetzt im besten System aller Zeiten leben würden. Meine Eigenbrötelei ermöglichten mir zugleich eine Distanz und eine Sensibilität für die Geschehnisse und Menschen um mich herum, deren Verhalten ich früh zu interpretieren gezwungen war. Und in der eigenen Interpretation der Welt lag der Grundstein zum selbständigen Denken und Erfahren-wollen. Dass der Staatssozialismus gescheitert und eine riesige Scheiße war, bekam ich aus der Familie mit, sah ich aber auch der Hässlichkeit der Gebäude und der Verschrobenheit und Unterwürfigkeit vieler Leute an. Dass „unsere“ Demokratie eine gute Sache sei, die es zu verteidigen gilt und innerhalb deren sinnvolle Veränderungen angestrebt werden müssen, glaubte ich dann vielleicht so vierfünf Jahre. Dabei entwickelte sich die Zeit aber auch weiter. Die rotgrüne Regierungsperiode brach meinen Glauben an den Parlamentarismus, die Kämpfe der Alter-Globalisierungs- und Ökologiebewegung inspirierten mich und verhießen Aufbruch, die Anschläge vom 11.09.2001 kündigten eine neue Ära an, die Kriege in Afghanistan und dem Irak, zerstörten den Mythos einer friedlicheren Welt.
Einige gute Erfahrungen machte ich in einer parteinahen Jugendgruppe, ging auf Punkkonzerte in ein AZ, nahm dann an antifaschistischen Demos teil, war oft in Gedanken versunken oder betrunken, ging auf politische Camps und traf dort interessante Leute. Gab mich noch mal mit konservativen Dörflern ab – brach mit ihnen, ging in die Stadt zum Studieren – brach mit jeglichen Parteivorstellungen. Stellte dann fest, dass fast niemand von den Ökos dort ein politisches Bewusstsein hatte, was über irgendwelche „Verbesserungen“ hinausging, also nicht ansatzweise antikapitalistisch war. Ärgerte mich immer wieder mit Parteisozialist*innen, autoritären Kommunist*innen und Antideutschen rum. Organisierte so dies und das, beschäftigte mich viel inhaltlich, machte nen bisschen Bildungsarbeit. Naja… und dann kam eben irgendwann die Erkenntnis und das Bedürfnis, mich als Anarchisten zu sehen. An sich, war ich das schon jahrelang gewesen, habe so gelebt, gehandelt und gedacht. Mir fehlten die Ausdrucksmöglichkeiten, um zu erfassen, worin meine politische Perspektive lag, auch wenn sie schon jahrelang mitgeschwungen ist und mir auch Anarchismus schon länger ein Begriff war. Letztendlich haben wir uns gemeinsam als ein diffuser Zusammenhang – nicht als Freundeskreis – in diese Richtung entwickelt. Wir diskutierten, organisierten uns lose und brachten uns in die lokale politische Landschaft ein… Demos, gelegentliche Aktionen, Veranstaltungen, Parties, Gruppenprozesse und Freundschaftsbeziehungen formten die lokale und diffuse antiautoritäre Szene.
Doch scheiß auf das Label, wenn nichts weiter dahinter steht! Meine Ideologie ist anti-ideologisch, sucht den Widerspruch, ist offen, aber nicht beliebig. Sie hat viele Gründe, denn viele Umstände, Begegnungen, Erlebnisse und deren Verarbeitungen haben mich zu demjenigen gemacht, der ich bin. Ich wünsche mir zutiefst, dass wir bei allen Anforderungen die das Leben und insbesondere auch diese Herrschaftsordnung uns jeweils stellen, sowie dem Wissen um die Begrenztheit unserer Handlungsmöglichkeiten, nie die Hoffnung aufgeben werden, mit unseren Leben Unterschiede zu machen. Dass wir sie gemeinsam in die eigenen Hände nehmen, uns gegenseitig Helfen, Widerstand gegen alle Formen der Herrschaft leisten und andere dazu auffordern und inspirieren, das selbe zu tun. Auch wenn wir nicht den Masterplan haben und schon gar nicht vorgeben wollen, haben wir viele gute Ansätze; gelingen uns immer wieder kleine Beiträge zur gesamtgesellschaftlichen Emanzipation. Denn unsere Vorstellungen reifen daran, dass sie jeweils mit unserer eigenen konkreten Lebenswegen zu tun haben. Und die liegen darin, dass unser Platz in dieser Gesellschaft kein Platz ist, verbunden mit denjenigen, denen die billigen Plätze zugewiesen werden.
Diese ganze Geschichte und noch viel mehr, steckt darin, wenn ich mich auch als Anarchisten bezeichne. Auf konkrete politische Positionen und den Umgang mit Leuten, die andere Vorstellungen haben, wollte ich an dieser Stelle nicht eingehen. Dennoch interessiert es mich immer, inwiefern andere Menschen, auch mit anderen politischen Positionen, diese in ihrer historischen Gewordenheit verstehen und sich als spezifische gesellschaftliche Wesen zu begreifen im Stande sind. Um dies anstoßen, habe ich diesen Text verfasst.