Herausforderungen bei der Entwicklung anarchistischer Theorien
Anarchistischer Theorie wird unterstellt, sie sei ein Oxymoron, ein Widerspruch in sich. Angeblich seien Anarchist*innen nämlich vor allem für „die Praxis“ zuständig – welche ihnen dann vorzugsweise von Marxisti*nnen erklärt werden müsste. Eine solche Vorstellung ist völliger Humbug. Sie geht von einer Trennung von „Theorie“ und „Praxis“ aus, welche richtig vermittelt werden müssten. Eine „materialistische“ Theorie könne sich somit nur auf vermeintlich fundierte empirische Fakten stützen, während eine „materialistische“ Praxis eben von ihren grundlegenden Erkenntnissen – die schnell zu unumstößlichen Gesetzmäßig-keiten erklärt werden – ausgehen müsste. Gegen eine gute Begründung, Überprüfbarkeit und Anwendungsbezogenheit von theoretischen Entwicklungen ist nichts einzuwenden. Die Vorstellung, dass wir mit dem „richtigen“ Wissen allein deutlich sehen könnten, was und wie etwas zu tun ist, um die Gesellschaft grundlegend zu verändern, ist jedoch hoch problematisch. Mit ihr wird die Trennung von Theorie und Praxis übernommen (wie sie in hierarchisch strukturierten Gesellschaften tatsächlich gezogen wird), um eine Avantgardepolitik zu legitimieren, die von Anarchist*innen abgelehnt wird. Stattdessen geht anarchistische Theorie davon aus, dass sich sehr viele Menschen dauernd auch theoretisch mit ihrer Lebenswelt und Existenz beschäftigen. Das heißt, sie denken auf einem abstrakten Niveau darüber nach, wie die Gesellschaft funktioniert, in der sie leben. Darüber hinaus bedeutet theoretisch denken, sich Gedanken zu machen, von welchen Annahmen wir in unserem Denken ausgehen, wo diese herkommen, wie sie sich begründen lassen und welche Erklärungswege es noch gibt. Handlungen und Erfahrungen werden somit in größere Sinnzusammenhänge gestellt. Theorie ist deswegen nicht zwangsläufig oder vorrangig Wissen aus Büchern – auch wenn Bücher ein bewährtes Medium sind, um komplexe Gedankengänge festzuhalten. Es geht in ihr nicht darum, Fakten auswendig zu wissen, sondern um die Fähigkeit, selber denken und verstehen zu können. Wenn die materiellen und pädagogischen Voraussetzungen dafür erkämpft werden, können prinzipiell alle Menschen theoretisches Denken lernen und mit ihm ihre Lebensverhältnisse mitgestalten. Sich selbst so definierende Anarchist*innen betreiben ohnehin Theorie und dies ist enorm wichtig, um die Bauchgefühl-Rebellion in radikale und emanzipatorische Handlungen zu überführen.
Leider ist anarchistische Theorie – insbesondere im deutschsprachigen Raum – sehr gering ausgeprägt und entwickelt. Ihre kontinuierliche Erneuerung und Verbreitung ist ein wesentlicher Beitrag, um Anarchismus als soziale Bewegung zu formieren. Zunächst betrifft dies die Überlieferung von anarchistischen Praktiken und Lebensformen. Wie viel Wissen aus radikalen sozialen Bewegungen geht über die Generationen verloren, sodass wir auf die Geschichtsschreibung der Herrschenden zurückgreifen müssen! Doch schon bei den Zyklen der Politisierung von Menschen wird alle drei bis fünf Jahre verpasst, Menschen, die neu hinzukommen (wollen), Wissen, Erfahrungen und theoretische Erkenntnisse weiterzugeben. Dass alle immer wieder neu anfangen (müssen) sich Wissen und Praktiken zu erschließen, wird dann irrtümlicherweise als autonome Selbstbestimmung von Gruppen und Einzelnen angesehen, anstatt die eigenen Erfahrungen verantwortungsvoll theoretisch zu überdenken, festzuhalten und zu teilen. Die geringe Ausprägung anarchistischer Theorie führt weiterhin zu einer Delegitimierung anarchistischer Perspektiven und Projekte auf einer intellektuellen Ebene. Zwar gibt es immer wieder einzelne Intellektuelle, die sich als Anarchist*innen beschreiben und damit tatsächlich anarchistisches Denken verbreiten. Allerdings ist es längst nicht so, dass auf einem Podium mit kritisch eingestellten Personen selbstverständlich auch eine Anarchistin sitzt oder es auf Konferenzen ebenfalls Vorträge und Diskussionsrunden zu anarchistischen Themen gäbe. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ich sage nicht, dass wir das jetzt alle tun müssen oder sollten. Es gibt viele andere Betätigungsfelder und viele von diesen sind vielleicht sogar sinnvoller. Es bringt mehr, sich kontinuierlich mit zehn Menschen in prekären Lebenssituationen zu treffen, sich gemeinsam zu politisieren, zu organisieren und zu radikalisieren, als in einer Talkshow vor zehntausenden für ein paar Minuten Sendezeit die*der skurrile Alibi-Anarchist*in zu sein. Doch in beiden Fällen sind anarchistische Positionen marginal. Somit erfüllt sich das Vorurteil, Anarchist*innen seien für „die“ Praxis zuständig und daraus sollten wir ausbrechen. Denn Anarchismus hat auch theoretisch unglaublich viel anzubieten!
Eine weitere Folge der geringen Ausprägung anarchistischer Theorie ist der Rückzug auf Dogmen. So beispielsweise: „Anarchist*innen wählen nicht, weil Wahlen das System politischer Herrschaft stützen, darum sind sie Anarchist*innen, also wählen sie nicht.“ Es gibt gute Gründe die parlamentarische Demokratie abzulehnen und eine ausgebaute anarchistische Kritik an Repräsentation, einer gesetzlich legitimierten Öffentlichkeit, der Illusion von Partizipation, an Mehrheitsentscheiden und dem Wahlakt als solchem. Es ist und bleibt deswegen wichtig, die eigenen Standpunkte und Praktiken fortwährend theoretisch zu durchdenken – und gegebenenfalls auch zu verändern.
Beliebt war und ist auch der Rückzug auf historische Dinosaurier im Anarchismus. Auf die Frage, wie seine „Ideen“ denn funktionieren könnten und wo es dafür Beispiele gäbe, werden immer wieder die spanische soziale Revolution und die Machno-Bewegung genannt, vielleicht noch auf die mexikanische Revolution, Freiraum-Bewegungen oder die Hausbesetzer*innenszene der 80er verwiesen. Immerhin dienen in jüngerer Zeit auch Chiapas und Rojava als inspirierende und lebendige Bezugspunkte. Wir sollten uns jedoch davor hüten, funktionierende Beispiele für Anarchie vorrangig in der Vergangenheit oder an anderen Orten zu suchen, denn dies ist ein Weg, ihre Verwirklichung von uns wegzuschieben. Anarchistische Theorie kann dazu beitragen, aufzuzeigen und zu veranschaulichen, wo Menschen in unserem Umfeld bereits solidarisch miteinander leben, sich egalitär organisieren, kooperieren usw.. Werden die eigenen Praktiken nur ungenügend theoretisch reflektiert, kommt es oft dazu, dass sie zum Selbstzweck erklärt werden. Lebensstile, die Anarchist*innen pflegen (z.B. Bauwagen, soziale Zentren, Veganismus, Awareness etc.) können somit eher zu einem Rückzug werden, als den Versuch zu verkörpern, weiterhin die gesamte Gesellschaft verändern zu wollen. Wir haben alle das Recht, unsere Leben zu gestalten, wie wir es für richtig halten. Das eigene Leben ist aber vor allem dann (anti-)politisch, wenn wir auch theoretisch darüber nach-denken, wie wir es gestalten und wie wir damit Veränderungen anstoßen können.
Die Marginalität anarchistischer Theorie führt schließlich zu einer schweren Vermittelbarkeit anarchistischer Gedanken und Konzepte in die Mehrheitsgesellschaft. Daran sind nicht nur Anarchist*innen „schuld“, sondern dies wird ihnen auch zugeschrieben. In Zeiten und Gegenden, wo anarchistische Vorstellungen weiter verbreitet waren und sind, kann jedoch von ganz anderen Grundlagen ausgegangen werden. Wenn ich Einführungsvorträge zum Anarchismus mache, sage ich beispielsweise immer dazu, dass ich nicht vorhabe, jetzt über Gewalt zu sprechen. Dabei würde ich das eigentlich gerne tun, denn ich finde, dass die Gewalt der Herrschaft und wie wir mit ihr umgehen können, ein wichtiges Thema ist. Doch darüber ließe sich erst sinnvoll diskutieren, wenn überhaupt ein Grundverständnis von Anarchismus bestünde…
Aufgrund dieser Überlegungen und anderer Erfahrungen habe ich einige Merkmale für anarchistische Theorie zusammengestellt. Denn wenn es diese gibt, dann müssen zumindest einige Eckpunkten benannt werden können, worauf sie beruht und inwiefern sie sich von anderen „kritischen“ Ansätzen unterscheidet.
• Anarchistische Theorie ist nicht „neutral“, sondern ergreift Partei für diejenigen, die unter Herrschaft leiden und sie überwinden wollen. Dahingehend wird mit ihr die Perspektive der Möglichkeit und Wünschbarkeit einer herrschaftslosen Gesellschaft eingenommen
• Anarchistische Theorie ist mit anarchistischen Grundwerten und Organisationsprinzipien verknüpft und fortwährend mit diesen zu vermitteln (s.o.)
• Sie ist im Zusammenhang mit emanzipatorischen sozialen Bewegungen zu sehen und soll diesen nutzen anstatt sich vorrangig um sich selbst zu kreisen
• Anarchistische Theorie bedient sich verschiedener vorhandener kritischer Theorien und bezieht sich auf (klassische) anarchistische Denker*innen
• Es geht ihr um ein verstehen und beschreiben von gesellschaftlichen Verhältnissen und Dynamiken, darüber hinaus jedoch auch um das Aufzeigen utopischer Elemente in ihnen. Das heißt, sie betreibt keine rein „negative Kritik“, sondern verweist auf die Potenziale zur Überwindung der bestehenden Gesellschaft und diskutiert sie kritisch
• Mit anarchistischer Theorie werden keine Wahrheiten generiert, sondern nachvollziehbare Interpretationsangebote geschaffen, die gut fundiert, nachvollziehbar und begründet sein sollten
• Anarchistische Theorie wird kollektiv gebildet, das heißt sie entsteht nicht vorrangig am Schreibtisch eines*r Denker*in, sondern in Diskussionsprozessen, Workshops und kreativen Interaktionen. Dabei kann es die Rolle oder Aufgabe mancher Personen sein, solche Prozesse anzustoßen, zu strukturieren und Ergebnisse aus ihnen festzuhalten
• Anarchistische Theorie ist synkretistisch, das bedeutet, in ihr werden verschiedene theoretische Konzepte und Gedanken miteinander vermischt und verschmolzen, wenn diese soziale Realität plausibel erklären können. Dazu müssen theoretische Bausteine selbstverständlich tiefgehend und nicht nur oberflächlich verstanden werden und können nicht einfach zur Rechtfertigung dessen herangezogen werden, was wir ohnehin schon dachten.
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