V Schlussfolgerungen und Kriterien für die Entwicklung und Entfaltung einer aktuellen, weltbejahenden anarchistischen Ethik
Die von manchen immer wieder hervorgekramte Gegenüberstellung von >Gesellschaftsveränderung< und >Selbstveränderung<, von den individualistischen und kollektivistischen Strängen des Anarchismus ist als Schein-Widerspruch anzusehen, wenn dem Verständnis des Subjekts und seinem Veränderungsbedarf in sozial-revolutionären Projekten ein ebenso großer Raum gegeben wird, wie staatlichen oder kapitalistischen Strukturen und Verhältnissen. Anarchistinnen kritisieren Herrschaftsverhältnisse und die Gewalt und das Leid, das sie verursachen und auf welches sie gründen. Sie stellen ihnen ethische Grundansprüche von Solidarität, Gleichberechtigung, Freiwilligkeit, Gegenseitigkeit und Respekt/Würde entgegen. Diese haben mit dem zurecht problematischen und diskreditierten Begriff der Moral nichts zu schaffen, wenn sie nicht primär dazu aufgestellt werden, der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft zu dienen und durch die Vermittlung herrschender Vorstellungen Herrschaftssubjekte zu formen. Vielmehr wehren emanzipatorische Projekte herrschaftliche Subjektivierung ab und unterlaufen sie, während Möglichkeiten und Fähigkeiten zur Selbst-Erzeugung der Subjekte durch sie vermittelt und erweitert werden.
Solche paradoxe und prozesshafte emanzipatorische Subjektivierung verlangt tendenziell kommunistische materielle Grundlagen und ist selbstverständlich nicht als individuelle Selbstbearbeitung misszuverstehen. Stattdessen wird sie möglich, wo Gemeinschaften ihre eigenen ethischen Grundlagen und Maßstäbe kollektiv und gleichberechtigt aushandeln, diese transparent machen, für Veränderungen offen halten, ihre Adaption als freiwillig ansehen und darüber hinaus auch die jeweils verschiedenen Handlungsrahmen von Einzelnen mitbedenken. Für einen hierarchiekritischen Ansatz sind dabei auch die – oftmals verdeckten und diffusen – moralischen Autoritäten offenzulegen und in Frage zu stellen. Dennoch ist es völlig verständlich, dass Menschen einen – wie Cindy Milstein es umschreibt – „ethischen Kompass“21 und weltanschauliche Orientierung suchen. Tatsächlich halte ich auch Diskussionen um normative Werte in emanzipatorischen Zusammenhängen für wichtig und sinnvoll. Einerseits, weil ich der Ansicht bin, dass Anarchismus als eigene Weltanschauung in allen gesellschaftlichen Bereichen etwas zu sagen hat. Neben einem philosophischen Gedankengebäude und einer kämpferischen politischen Bewegung beinhaltet er vor allem auch verschiedene ethisch begründete Lebensstile. Andererseits betone ich die Bedeutung von Ethik im anarchistischen Denken aus strategischen Gründen: Weil ich der Ansicht bin, dass sich darin das Potenzial abzeichnet, vielen Menschen anarchistische Ansichten näher zu bringen und sie vor den herrschenden Einstellungen zu legitimieren.
Die dargelegten ethischen Grundansprüche, auf welche sich der Anarchismus bezieht, lassen dabei weite Spielräume für kollektive und auch individuelle Gestaltung und Umgangsweisen. Sie müssen nicht auf Zwang, Ausschluss und Abgrenzung beruhen. In diesem Sinne sind sie nicht als dogmatische Setzungen zu behandeln, sondern als Praktiken für ein gelingendes Miteinander auszubuchstabieren und immer wieder neu zu aufzufinden anstatt leere Hüllen zu bleiben. Dass es dabei weiterhin Missverständnisse, Irritationen, Verletzungen, Ängste und als problematisch erachtete Verhaltensweisen geben wird versteht sich von selbst. Die Frage ist, wie mit diesen umgegangen wird. Denn die „Kritik der Anarchistinnen stützt sich […] nicht auf das moralische Ideal einer durch und durch perfekten Existenz. […] Sie will vielmehr einen ethischen Raum schaffen, der – bei allen internen Widersprüchen – eine Opposition zu den bestehenden Verhältnissen darstellt. Das schafft wenigstens die Möglichkeit, ethischen Überlegungen einen zentralen Platz im Gestalten unserer Leben einzuräumen.“22
1 Stirner, Max: Der Einzige und sein Eigentum. Stuttgart 2008, S. 231.
2 Reckwitz, Andreas: Subjekt, 2. unveränderte Auflage. Bielefeld 2010 [2008], S. 76.
3 Bröckling, Ulrich: Das Unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, 5. unveränderte Auflage. Frankfurt am Main 2013 [2007], S. 21; und: Newman, Saul: From Bakunin to Lacan. Anti-Authoritarism and the dislocation of power. Plymouth 2007 [2001], S. 4.
4 Meißner, Hanna: Jenseits des autonomen Subjekts. Zur gesellschaftlichen Konstitution von Handlungsfähigkeit im Anschluss an Butler, Foucault und Marx. Bielefeld 2010, S. 11.
und: Bedorf, Thomas: Verkennende Anerkennung. Über Identität und Politik. Berlin 2010, S. 78.
5 Reckwitz, Andreas: Subjekt/Identität. Die Produktion und Subversion des Individuums, in: Moebius, Stephan/Ders. (Hrsg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften. Frankfurt am Main 2008, S. 83f..
und: Marchart, Oliver: Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft. Berlin 2013, S. 27f..
6 Rodrian-Pfennig, Margit: Dekonstruktion und radikale Demokratie: Elemente einer anderen politischen Bildung, in: Lösch, Bettina/Thimmel, Andreas (Hrsg.): Kritische politische Bildung. Ein Handbuch. Schwalbach 2010, S. 157-167.
7 Wilk, Michael: Macht, Herrschaft, Emanzipation. Aspekte anarchistischer Staatskritik. Grafenau 1999, S. 2.
8 Newman, Saul: From Bakunin to Lacan. Anti-Authoritarism and the dislocation of power. Plymouth 2007 [2001], S. 140ff..
9 Wallat, Hendrik: Staat oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik. Münster 2012, S. 13.
10 Kropotkin, Peter: Anarchistische Moral [1922], verfügbar auf: https://anarchistischebibliothek.org/library/peter-kropotkin-anarchistische-moral (zuletzt aufgerufen am: 30.12.17).
11 Bröckling, Ulrich: Das Unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, 5. unveränderte Auflage. Frankfurt am Main 2013 [2007], S. 30.
12 Newman, Saul: From Bakunin to Lacan. Anti-Authoritarism and the dislocation of power. Plymouth 2007 [2001], S. 138f..
13 Newman, Saul: From Bakunin to Lacan. Anti-Authoritarism and the dislocation of power. Plymouth 2007 [2001], S. 67.
14 Newman, Saul: Newman, The Politics of Postanarchism 2010, S. 55.
15 Newman, The Politics of Postanarchism S. 66.
16 Newman, The Politics of Postanarchism S. 118f..
17 Mümken, Jürgen: Freiheit, Individualität, Subjektivität. Frankfurt am Main 2003, S. 9.
18 Kropotkin, Peter: Anarchistische Moral [1922], verfügbar auf: https://anarchistischebibliothek.org/library/peter-kropotkin-anarchistische-moral (zuletzt aufgerufen am: 30.12.17).
19 Kuhn, Gabriel: Jenseits von Staat und Individuum. Münster 2007, S. 93ff..
20 Mühsam, Erich, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus [1933], in: Schwiewe, Jürgen/ Maußner, Hanne (hrsg.), Mühsam, Erich, Trotz allem Mensch sein. Gedichte und Aufsätze. Stutttgart 2010, S. 129f..
21 Milstein, Cindy, Der Anarchismus und seine Ideale. Münster 2013, S. 54ff..
22 Milstein, Cindy, Der Anarchismus und seine Ideale, Münster 2013, S. 49.