Emanzipatorische Subjektivierung?

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IV Zwischen der Ablehnung >bürgerlicher< Moralvorstellungen und dem Hypermoralismus persönlich Überzeugter – Grundlegende Herausforderungen für eine anarchistische Ethik

Um das Schwanken zwischen der bisweilen obsessiven und provokativen Ablehnung und Verachtung >bürgerlicher< Moralvorstellungen (Kleinfamilie, romantische Zweierbeziehung, Ordnungssinn, Fleiß, Sparsamkeit, geregelte Arbeitszeiten, Bestrebungen zur langfristigen materiellen Absicherung etc.) und dem Hypermoralismus persönlich Überzeugter (aggressiver Veganismus und/oder Straight Edge, critical whiteness, Wortverbote, pauschale Sexismusvorwürfe, Abwehr jeglicher Kritik als feindlich, Aufforderungen zu bedingungsloser Solidarität, Märtyrerkult, usw.) verstehen zu können, kann eine strukturelle Analogie von antiautoritären/anarchistischen Zusammenhängen mit christlichen Freikirchen gezogen werden. Dabei polemisiere ich gezielt, um auf mögliche problematische Tendenzen und die mit daraus folgenden spezifischen Haltungen hinzuweisen. Die anarchistischen Freikirchler leben von der beständigen und individuellen Interpretation vorgefundener ethischer Grundlagen wie auch ihrer persönlichen Verinnerlichung als >gelebter Glaube< anstatt der Wiedergabe >toter Worte<. Gerade indem Einzelne bestimmte ethische Verhaltensweisen adaptieren und nach ihren jeweiligen Erfahrungen, Perspektiven und Kontexten individuell ausgestalten, können sie als Vorbild auf andere wirken und damit auf die Macht der Überzeugung setzen.

Weil es kaum institutionell verankerte und als allgemeingültig anerkannte Moralkodexe gibt, ist auch der Maßstab eigener Erfüllung oder Verfehlung der spezifischen Ethik kein universeller, sondern ein individueller beziehungsweise jener kleiner und sich oft verändernder Gruppen. Gleichzeitig werden die gesellschaftlich allgemein verbreiteten Konzeptionen von Ethik nicht als verbindlich angesehen oder gar als jene der >verdorbenen Welt< mit ihrem >falschen Bewusstsein< abgelehnt. Rechenschaft über das moralisch richtige Verhalten ist vor allem vor sich selbst oder den selbst gewählten Gewährsmenschen abzulegen, wo keine institutionalisierte Beichte die Bürde der vollen Verantwortlichkeit für das eigene Handeln lindert. Praktisch wird diese Lücke für erwünschte Bewertungen des eigenen Verhaltens und Rückmeldungen zu diesem dann aber von selbsternannten Sitten-Wächterinnen gefüllt, welche wiederum ihre eigenen subjektiven Gründe haben, sich in derartige Rollen zu begeben und damit moralische Autorität auszuüben. Bisweilen empfehlen sie eine Selbstkritik vor der Gruppe. Alle Außenstehenden werden dabei in hoch moralischen Kategorien – teilweise feindlich, teilweise mitleidig – als Konsumopfer, Staatstrottel, Sexisten und Rassisten stigmatisiert und die strukturelle Dimension von Ausbeutungs- und Ungleichheitsverhältnissen zugunsten des personalisierten Moralismus‘ aufgegeben.

Dieser Prozess kann in vielerlei Hinsicht als Versuch des Umgangs mit dem (gesellschaftlichen) Zwang zur eigenen widersprüchlichen und belastenden bürgerlichen Subjektform angesehen werden, welcher umso schwieriger zu bewerkstelligen ist, je größer oder tiefgreifender tatsächlich die eigene Beschädigung durch gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse beziehungsweise das Bewusstsein über diese ist. All dies geschieht allerdings völlig ohne formellen Zwang, sondern arbeitet mit dem Gewissen der sich zur Gemeinschaft dazugehörig Fühlenden. Deren Zugehörigkeit ist permanent prekär und wird auch immer wieder erschüttert, weil die >freie Assoziation< nicht auf formelle Mitgliedschaft sondern der Aktivität in ihr und den Glauben an sie gründet, darum dauerhaft im Fluss ist; unklare Grenzziehungen und Sozialbeziehungen aufweist. Ihres Selbst‘ unsichere Subjekte werden von solchen offenen und wandelbaren sozialen Konstellationen angezogen wie auch hervorgebracht. Dies ist durchaus nicht als negativ anzusehen: Durch die Erfahrung des Misslingens eigener Subjektivierung wird auf ihre inhärente Brüchigkeit11 und die Tatsache verwiesen, dass sie sich nicht auf ein ursprüngliches Wesen gründet, sondern im Grunde genommen auf Nichts/auf Leere.12

Darin liegt jedoch der Ausgangspunkt der Möglichkeiten von Ent-Subjektivierung und emanzipatorischer Subjektivierung, die nur dort anknüpfen können, wo Subjekte als gesellschaftliche Strukturen verstanden werden, deren Infragestellung und Veränderung ein persönliches Anliegen wie auch selbstverständlich Ziel eines emanzipatorischen politischen Projektes sein kann. Ermöglicht wird im besten Fall eine – wie Saul Newman es beschreibt – „Anarchie der Subjektivität“13 in den Ausdrücken: „The freeing of the self from the self“14 und „the revolt of the self against fixed identities“.15 Woraus er folgert: „Radical subjectification might be seen in terms of an insurrection of the self against the identities and roles imposed on us by the state; it is the process by which the subject ‘takes a distance’ from the state.“16 Doch solche Akte der Befreiung führen laut Jürgen Mümken „nicht zwangsläufig zu einer freien Gesellschaft, sie eröffnen einen Raum, der anschließend von >Praktiken der Freiheit kontrolliert werden< muss, denn die Praktiken der Befreiung sind noch keine Praktiken der Freiheit. Für deren Entwicklung ist es notwendig, dass wir uns von den gegenwärtigen Formen der Subjektivierung und Individualität befreien.“17

Anarchistische Vorstellungen und Strategien von Befreiung bewegen sich auch schon bei den Klassikern in einer Paradoxie von strengem Moralismus und nihilistischem Amoralismus. So verwundert es auch nicht, dass Peter Kropotkin in seiner bereits oben angeführten Schrift auf hoch moralische Weise die Unmoral der „Bourgeoisieherrschaft“ samt ihrer Pfaffen und die Entstehung des modernen Moralsystems kritisiert. Die altbacken klingenden Worte sprechen dabei Bände über den tugendhaften Anspruch der Sozial-Revolutionäre seiner Zeit: „Alles Gute, Erhabene, Großmütige, Unabhängige im Menschen stumpft ab, verrostet wie ein Messer außer Gebrauch. Die Lüge wird zur Tugend, die Kriecherei zur Pflicht. Sich bereichern, den Augenblick genießen, seine Intelligenz, sein Feuer, seine Energie auf die nächstbeste Art zu vergeuden, ist das Losungswort nicht nur der besitzenden Klassen, sondern auch einer großen Zahl Proletarier, deren Ideal es ist, sich als Bourgeois aufzuspielen. Die Verderbtheit der Regierung, Richter und Priesterschaft, sowie der mehr oder minder bereicherten Klassen wird nun so empörend, daß die Uhr von neuem in Gang gesetzt wird. […] Und jedesmal kommt die Frage der Moral von neuem auf’s Tapet. >Warum sollte ich eigentlich diese heuchlerischen Moralprinzipien befolgen< – fragt sich das Gehirn, sobald es von den religiösen Schlacken befreit ist -, >Warum sollte man überhaupt zu einer Moral verpflichtet sein?<“18 Seine Antwort darauf lässt sich damit zusammenfassen, dass hinter allen (moralisch begründeten) Handlungen letztendlich nichts weiter als (ganz unterschiedliche) menschliche Bedürfnisse stecken. Aufbauend auf diesen stellt er – typischerweise – Solidarität und Gegenseitigkeit als >natürlicherweise gute Verhaltensweisen< heraus und widerspricht damit den liberalen Moralphilosophen. Jene behaupteten einen Widerspruch zwischen den Interessen von Individuen und Kollektiven. Anarchistinnen sollten diesen nicht >vermitteln<, sondern als konstruiert herausstellen und Menschen als „soziale Singularitäten“ anstatt als vereinzelte bürgerliche Individuen ansehen.19 So schreibt auch Erich Mühsam: „Der kommunistische Anarchismus lehnt die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Persönlichkeit ab. Er betrachtet die Gesellschaft als Summe von Einzelmenschen und die Persönlichkeit als unlösbares Glied der Gesellschaft.“20