Emanzipatorische Subjektivierung?

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III Eine postanarchistische Perspektive auf Moral

Der soeben dargestellte Ansatz geht von der paradoxen Struktur des Anarchismus‘ selbst aus. Ziel ist die Bewusstseinsbildung über anarchistische politische Denkweisen, damit zugleich aber auch die Erarbeitung einer bestimmten Interpretationsweise derselben, um die Handlungsfähigkeit anarchistischer Projekte unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen zu erweitern. Als „linker Neomoralismus“ wurde im Call zu dieser Ausgabe von Tsveyfl ein allgemein zu beobachtendes theoretisches und strategisches Grundproblem emanzipatorischer sozialer Bewegungen beschrieben. Wie oben gezeigt und begründet wurde, täte solche Kritik gut daran, die wahrgenommenen Verhaltensweisen und Umgangsformen nicht losgelöst von Subjektivierungsregimen und verschiedenen politischen Projekten, welche sich ihrer bedienen zu formulieren. Denn die Loslösung von Aushandlungsprozessen über ethische Fragestellungen von einem Verständnis von Subjektivierung sowie (ebenfalls fortwährend zu diskutierenden) politischen Vorstellungen und Strategien münden gerade in die kritisierten Verfallsformen: Der reflexartigen Abwehr als >bürgerlich< gelabelter Moralvorstellungen und dem Hypermoralismus persönlich Überzeugter; jener teilweise krampfhaften Aufstellung >politisch korrekter< Normen und Verhaltenskodexe; sowie der ebenso nach wie vor verbreiteten Vorstellung, Herrschaftsverhältnisse aus bestimmten Kontexten einfach heraushalten zu können. Infolgedessen werden diese auf vulgäre Weise als individuell zu bearbeitende Sprachregelungen, Denk-, und Verhaltensweisen gedeutet. Auf der (verständlichen und legitimen) Suche nach Zugehörigkeit geht dies in linken Szenen mit einem diffusen Anerkennungssystem einher, welches seinesgleichen sucht und enorme Zugangsbarrieren aufweist. Nach innen gerichtet steht es religiösen Sekten tendenziell in nichts nach und ist ein wesentlicher Grund, warum sozialrevolutionäre politische Projekte auf viele abschreckend wirken.

Um meine eigene Perspektive weiter zu schärfen, möchte ich den Thesen des Calls zu dieser Ausgabe teilweise widersprechen und mich daran abarbeiten:

(1) Ich habe nicht den Eindruck, dass sich „die Linke“ als ein „moralisches Gegenprojekt“ beispielsweise zu neokonservativen, neurechten Ideologien verhält, die sich vor allem gegen Gleichheit und Diversität richten. Vielmehr stellt sich die konservative Revolution als moralisches Gegenprojekt zur political correctness des liberalen Multikulturalismus eines neoliberalen politisches Establishments dar, welches durch diversity-politics Minderheiten konstruiert und diese mit ihren Gleichberechtigungsforderungen staatstragend vereinnahmen kann. Unabhängig davon, dass es >die Linke< nicht gibt, übernehmen Linke in ihrer (verkürzten) Kritik die Moralvorstellungen herrschender Politik, weil sie eben über keine wirkmächtige politische Gegenhegemonie verfügen, die eine adäquate und spezifische Ethik beinhalten würde. Wo sie formuliert wird, gilt es auch jener skeptisch gegenüber zu treten, wenn sie mit dem Anspruch zu führen und zu herrschen auftritt, sich dementsprechend organisiert und agiert.

(2) Am Neomoralismus sei links, dass er sich vermeintlich gegen Herrschaft und Ausbeutung richten würde. Dazu meine ich, dass eine umfassende Kritik an Herrschaft ohne eine ethische Dimension nicht auskommt, ebenso wenig wie anarchistische Projekte, welche sie anfechten und ihr herrschaftsfreie Formen des Miteinanders entgegensetzen wollen. Wenn ich den linken Moralismus kritisiere, so auch die meines Erachtens nach ungenügende Ausprägung transparenter und kollektiver Aushandlungsprozesse über ethische Vorstellungen, die emanzipatorische Projekte heute anbieten können. Der Unterschied von Ethik zu Moral besteht meinem Verständnis nach darin, dass erstere nicht auf dogmatischen und somit unhinterfragbaren Setzungen beruht, sondern Menschen die Fähigkeit zugesprochen wird, dass sie Normen und auch Werte für eine gewaltfreie Regulierung ihres Miteinanders finden können – was sie auch fortwährend tun. Anarchistisch wäre diese Ethik unter anderem dann, wenn die selbst gesetzten Normen und Werte aus einem konsensualen Aushandlungsprozess hervorgehen, immer wieder in Frage gestellt werden können und ohne die Androhung von Strafe in einer Gemeinschaft als weitestgehend verbindlich gelten – eben weil sie nicht aufgezwungen, sondern miteinander gefunden werden. Der Betonung von >Würde< wie bspw. durch die Zapatistas oder John Holloway, kann ich in diesem Zusammenhang beispielsweise sehr viel abgewinnen, ohne sie deswegen als universalistisch behaupten zu müssen.

(3) Im Call behauptet wird, dass „Aktivistinnen […] Herrschaftsverhältnisse als Folge individuellen moralischen Versagens verstehen, […] es also als Aufgabe des Anarchismus begreifen die Individuen zur Freiheit zu disziplinieren“. Zwar vermute ich, die hier angesprochene Problematik aus eigener Erfahrung sehr wohl zu kennen, erlebe es selbst jedoch nicht so, dass die Struktur von Herrschaftsverhältnissen von politisch bewussten Personen nicht begriffen werden würde. Hendrik Wallat spricht in diesem Zusammenhang von einer „Aporie der Emanzipation“, dem unauflöslichen Problem, >Freiheit< unter den Bedingungen von Herrschaft zu verwirklichen, ohne diese zu reproduzieren.9 Die Frage scheint für mich dahingehend viel eher zu sein, welche Konsequenzen aus dem Verständnis verschiedener struktureller Herrschaftsverhältnisse gezogen werden. Radikal – und meiner Ansicht nach begrüßenswert – ist, wenn Menschen das, was sie verstanden haben, auf ihr persönliches Leben und Umfeld beziehen und mit ihrem eigenen Handeln etwas verändern wollen. Der Anarchismus betont und befürwortet die Verantwortung und (trotz aller Einschränkungen) die Handlungsfähigkeit auch von Einzelnen. Eben aus diesem Grund ist eine >Disziplinierung zur Freiheit< aus anarchistischer Perspektive unmöglich. Freiheit in Bezug auf ethische Vorstellungen bedeutet die freiwillige und bewusste Annahme beziehungsweise Kritik bestimmter Verhaltensweisen, das heißt die Übernahme und Weiterentwicklung eigener Grundsätze, Prinzipien und Ansprüche im oben dargestellten Sinne der Emanzipation durch die Veränderung konkreter Subjekte.

Die Kritik am freilich durchaus vorhandenen zwanghaften/erzwingenden Moralismus müsste deswegen entweder daran geübt werden, dass Anarchistinnen ihren eigenen Ansprüchen nicht genügend gerecht werden oder sich Menschen fälschlicherweise als Anarchistinnen bezeichnen, die sich derart verhalten. Peter Kropotkin schreibt dazu gegen Ende seiner Betrachtung über Anarchistische Moral: „Alles, was man bis dahin für moralisch gehalten hat, erscheint in seiner tiefsten Unsittlichkeit, hier eine Landessitte, eine Tradition, hochgeehrt im allgemeinen, aber höchst unsittlich in ihrem Grundwesen, dort eine schon fertige Moral, bloß zugunsten einer gewissen Klasse eingeführt. Man wirft sie alle über Bord und ruft: Nieder mit der Moral! Und man macht es sich zur Pflicht, unmoralisch zu handeln. Ehren wir diese Epochen des erwachenden Selbstbewußtseins der rücksichtslosen Kritik. Es ist ein sicheres Zeichen, daß ein Klärungsprozeß der Gesellschaft vor sich geht. Es ist die Heranbildung einer höheren, vollkommeneren Moral. […] Diese Moral wird nichts befehlen. Sie verweigert absolut, die Individuen nach einer abstrakten Idee zu modeln, gerade wie sie verweigert, es durch ein Gesetz, eine Religion, eine Regierung zu tun. Sie läßt dem Individuum seine ganze und volle Freiheit.“10

(4) Der „linke Neoliberalismus“ wird beschrieben als ein prekäres Ticket zur Teilhabe an einer politischen Gemeinschaft, welche auf einer „projektiven Vorstellung einer befreiten Gesellschaft im Kleinen“ beruhe. Meiner Ansicht nach ist die Gedankenfigur der >befreiten Gesellschaft< keine wesentlich anarchistische, welche Veränderungen prozesshaft denkt, sondern entspricht der marxistischen Vorstellung von Totalität, wie sie oben erwähnt und kritisiert wurde. Dies deckt sich mit meiner Erfahrung, nach der insbesondere selbst-bewusste Anarchistinnen auf die Widersprüchlichkeit von Herrschaftsverhältnissen, die Unmöglichkeit, sie einfach aus bestimmten Räumen herauszuhalten und vor allem auch ihrer Verinnerlichung hinweisen. Eben deswegen thematisieren und kritisieren sie Hierarchien und die Reproduktion von Herrschaftsverhältnissen und -ideologien in >linken< oder auch explizit anarchistische Räumen fortwährend.

Demnach müsste die Kritik meines Erachtens nach auch hier nicht am „linken Neomoralismus“ festgemacht werden, sondern dieser als Ausdruck einer identitären Gruppendynamik begriffen werden. Denn die identitäre (oder psychoanalytisch gedacht: libidinöse) Verhaftung Einzelner an oftmals einseitig gesetzten moralischen Normen in verdeckten hierarchischen Gruppenkonstellationen ist es, welche eine bewusste Formierung einer politischen Gemeinschaft aufgrund der Bestimmung ihrer politischen Inhalte, sozialen Positionen und Praktiken verunmöglicht. Quasi-religiöse und dementsprechend unhinterfragbare Fragmente politischen Denkens werden ihrer (immer) notwendigen Begründung entzogen und entwickeln sich stattdessen zu moralischen Maßstäben der abgestuften Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Szene. Die Unfähigkeit zur Bewusstwerdung über die eigenen politischen Ausgangspunkte oder gar ihre Verhinderung aufgrund fehlender Diskussionen und Vereinbarungen zur Ausgestaltung der eigenen gelebten Ethik, führt zum Verbleib in jener Identitäts-Logik, welche den Anspruch, Gesellschaft grundlegend zu verändern aufgegeben hat und eine politische Szene zum bloßen Selbstzweck verkommen lässt. Dabei wird die Suche nach Zugehörigkeit verständlicherweise insbesondere auch deswegen relevant, stellt sich die (zu gewissem Grad notwendige) gelingende Erzeugung bürgerlicher Subjektivitäten unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen als derart schwierig und anstrengend dar, wie oben angenommen.