II Die verkürzte Anwendung poststrukturalistischer Subjekttheorien und deren problematische Grundprämisse in Verbindung mit hegemonietheoretischen Überlegungen
Jede Überlegung, Diskussion und Kritik an Moralismus und unterschiedlichsten Moralsystemen – gerne auch den >linken< – ist mit den alltäglichen Praktiken der Formung von Menschen in spezifisch historischen gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen, das heißt mit Subjektivierung, verbunden. Diese geschieht auf widersprüchliche Weise, zum Einen, weil die gesellschaftlichen Anforderungen an das bürgerliche Subjekt in sich widerstreitend sind (Wir sollen wandelbar und identifizierbar, flexibel/mobil und gebunden/greifbar, durchsetzungsfähig und teamfähig sein usw.). Zum Anderen, weil die Subjektivierung der Einzelnen im Spannungsfeld ganz verschiedener Subjektivierungsregime stattfindet (bspw. katholische Kirche, kapitalistische Leistungsorientierung, Sportverein und linke Partei…). Insbesondere in Zeiten neoliberalen Regierens und der scheinbaren Vervielfältigung individueller Möglichkeiten in einer globalisierten Welt bei gleichzeitiger Auflösung traditioneller sozialer Bindungen, wird die Erzeugung stets prekärer Subjektivität und – oberflächlicher – Identität privatisiert. Somit wird sie auch zu einer (unbezahlten) Arbeit an der Seinsweise bzw. an der Psyche, die wir alle zu erbringen haben, um eine unabhängige, kohärente, zielgerichtete, >besondere<, sich selbst begründende und letztendlich handlungsfähige integrierte Person sein zu können. Findet Subjekt-Werdung jedoch auf äußerst widersprüchliche Weise und unter dem Einfluss verschiedener herrschender Vorstellungen und Interessen statt, bedeutet dies, dass sie selbst ein Feld eminent politischer Auseinandersetzung darstellt.3
In der poststrukturalistischen Subjekttheorie wird davon ausgegangen, dass Subjektivierung durch die gleichzeitige Unterwerfung und Handlungsbefähigung von Menschen geschieht4: Indem sie sich bestimmten Subjektivierungsregimen (und ihren moralischen Vorstellungen und -kodexen) unterordnen, diese (auch durch aktives eigenes Handeln) in sich selbst einschreiben und verinnerlichen, damit sie innerhalb von ihnen agieren können, um als Subjekte anerkannt zu werden. Demnach richtet sich die poststrukturalistische Kritik als >positiver Nihilismus< von Foucault über Butler bis Bröckling auf die Form des bürgerlichen Subjektes selbst, sucht und feiert (im besten Fall) seine Irritation, Subversion oder Überschreitung.5 Die Frage ist, wo es Momente und Möglichkeiten seiner Ent-Subjektivierung gibt, in welcher die isolierte, eingeschränkte, ausgrenzende, normalisierte, hierarchisch bewertete bürgerliche Subjektform rissig wird und somit auf die (unterdrückte) Potenzialität der Seinsweisen verweist, deren Erfahrung Lust auf Rebellion gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse macht, die uns begrenzen und zurichten.
Diese negative und transzendierende Kritik des Subjektes basiert jedoch auf einem Grundproblem poststrukturalistischer Subjekttheorien insgesamt und zwar der impliziten Verwendung zweier Machtbegriffe. Würde Macht nämlich im Sinne Foucaults als neutral, in allen sozialen Beziehungen vorhanden und das Subjekt als >Effekt<,6 somit als immer schon durch gesellschaftliche Verhältnisse erzeugt angesehen werden, wäre im Anschluss daran die Frage möglich, inwiefern ein emanzipatorisches politisches Projekt auf diese Erzeugung Einfluss nehmen sollte. Emanzipation meint aber prozesshaftes >Freier-werden von Herrschaft< und ihren Subjektivierungsregimen. Herrschaft wird dabei als Verfestigung und Zentralisierung von Macht begriffen, Macht aber fälschlicherweise selbst nicht mehr als neutral sondern tendenziell herrschaftsförmig verstanden.7 Somit ist die Formung von Menschen zurecht grundsätzlich zu problematisieren – zumal unter den Bedingungen einer bürgerlich-liberalen, staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Mit einem postanarchistischen Verständnis von Emanzipation müssten meiner Ansicht nach zudem jedoch – anknüpfend an einem Begriff der sozialen Freiheit – Möglichkeiten (weniger erzwungener, eingeschränkter usw.) alternativer Subjektivierung in Betracht gezogen und ethische Überlegungen zu aktuell wünschenswerten Seinsweisen sowie ihrer potenziellen Veränderbarkeit im Zuge der sozialen Revolutionierung gesellschaftlicher Verhältnisse angestellt werden.
Diesem Ansatz folgend lautet die Frage nicht mehr, wie gesellschaftlichen Verhältnissen und der Wirkung von Macht generell entflohen werden kann. Diese stellen dann nicht an sich das Problem dar, sondern ihre Wirkungsweise in Herrschaftsordnungen. Vielmehr ist zu fragen, wie in bestehenden Herrschaftsverhältnissen kollektive Ermächtigungsprozesse gegen jene organisiert werden und auf eine Weise gelingen können, welche tatsächlich ein partielles Freier-Werden von Subjektivierung überhaupt (Ent-Subjektivierung) ermöglichen. Anschließend daran kann jedoch weiterhin – weil wir aus den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Problem des Umgangs mit der Macht nie herauskommen – auch eine politisch intendierte Einflussnahme und bewusste Gestaltung von Subjektivierung (emanzipatorische Subjektivierung) diskutiert werden.
Grundlage hierfür ist wiederum ein den marxistischen Theorien und auch der Kritischen Theorie entgegenstehendes – und ich würde behaupten: viel eher anarchistisches – Verständnis von gesellschaftlicher Totalität. Staatliche, kapitalistische und patriarchale Vergesellschaftungsmodi durchziehen demnach durchaus alle sozialen Beziehungen, die auch in den Beziehungen Einzelner zueinander konkret reproduziert und erfahrbar werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht ebenfalls andersartige soziale Beziehungen (und auch Institutionen) vorhanden sind. Zwar werden sie von herrschaftsförmigen Verhältnissen dominiert und auch instrumentalisiert, können diesen aber gleichzeitig zumindest partiell entfliehen und als konkrete Utopien eine bessere Gesellschaft vorstellbar machen. Sozialrevolutionäre Veränderungen sind deswegen nicht von einem ausgeschlossenen >Außerhalb< der gesellschaftlichen Ordnung (und ihrer moralischen Vorstellungen) zu denken – das ohnehin entsteht, um diese zu konstruieren und zu legitimieren – sondern knüpfen dort an, wo die Subjekte jeweils stehen und wo sie hingelangen können.8 Emanzipation in diesem Sinne realisiert sich deswegen in doppelter Hinsicht durch die Subjekte: Durch das Handeln von Menschen, welche sich kollektiv ermächtigen und ihre Handlungsfähigkeit nutzen, um die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu erweitern und zu überwinden; gleichzeitig aber auch durch die Subjekte hindurch, in der Hinsicht, dass sie die Verhältnisse verändern und damit auf (die eigene) Subjektivierung gestaltenden Einfluss ausüben.
Emanzipatorische Subjektivierung ist in diesem Zusammenhang verständlicherweise eine unauflösbare Paradoxie. Als eine Chiffre beschreibt sie den theoretischen Versuch mit der Widersprüchlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse umzugehen, anstatt sich auf vermeintlich >reine Kritik< und politische Dogmen zurückzuziehen, totalitäre Auflösungen der Widersprüche zu fordern oder in die Beliebigkeit und Belanglosigkeit zu abzugleiten. Damit wird Subjektivierung zu einer politischen Aufgabe erklärt, an welcher emanzipatorische politische Projekte nicht vorbeikommen, wenn sie den Anspruch erheben vom >Hier&Jetzt< und dem Bestehenden ausgehend radikale Veränderungen anzustreben, die sich in den praktischen Auseinandersetzungen immer widersprüchlich gestalten.