Originaltitel: Aber wie können und sollen sie denn nun sonst sein, eure Menschen?
– Über paradoxe Möglichkeiten emanzipatorischer Subjektivierung
Jonathan Eibisch // Dezember 2018
zuerst veröffentlicht in: Tsveyfl. Dissensorientierte Zeitschrift #2 „Anarchismus und Neomoralismus“

I Eine materialistische und subjekt-kritische Subjekttheorie als Ausgangspunkt
„Weil es kaum Jemand entgehen kann, daß die Gegenwart für keine Frage einen so lebendigen Anteil zeigt, als für die >soziale<, so hat man auf die Gesellschaft besonders sein Augenmerk zu richten. Ja, wäre das daran gefaßte Interesse weniger leidenschaftlich und verblendet, so würde man über die Gesellschaft nicht so sehr die Einzelnen darin aus den Augen verlieren, und erkennen, daß eine Gesellschaft nicht neu werden kann, solange diejenigen, welche sie ausmachen und konstituieren, die alten bleiben.“1
Faszinierend an diesem Zitat Max Stirners, des fundamentalen Kritikers der modernen bürgerlichen Subjektform, ist, dass es der landläufigen von Marx übernommenen Behauptung, er würde die ideologische Reinform des bürgerlichen Individualismus predigen und keinen Begriff von >Gesellschaft< und dementsprechend ihren sozialen Problemen haben, direkt entgegensteht. Vielmehr sieht Stirner die >soziale Frage< – heruntergebrochen die massenhafte Verelendung durch Proletarisierung in einer kapitalistischen Klassengesellschaft – als das entscheidende politische Problem seiner Zeit an. Seinen Beitrag dazu sieht er jedoch nicht etwa in der ökonomischen Analyse des Kapitalismus‘ oder Überlegungen zur politischen Organisierung der verschiedenen Gruppen von Subalternen, sondern in einer grundsätzlichen Kritik der bürgerlichen Moral und von ideologischen Moralregimen insgesamt. Denn Moral ist nun einmal immer die Moral von (allen möglichen) politischen (Herrschafts-)Projekten – und sei es von jenen, die sich auf einen aufklärerischen Humanismus („der Sache des Menschen“) oder sozialistischen Vorstellungen eines >neuen Menschen< („der Gerechtigkeit“) beziehen. Dementsprechend vollzieht sich Emanzipation – als gesamtgesellschaftlicher Vorgang – immer durch und an konkreten Einzelnen, die ihre Individualität unter äußerst ungleichen materiellen Voraussetzungen zu entfalten versuchen können. Sie gelingt nicht in Abgrenzung, nicht in hierarchischer Konkurrenz und dem Vergleich, der Ausgrenzung, Abwertung und somit nicht durch die Konstruktion von Anderen (sowie dem Ausschließen der Widerspiegelung ihrer Aspekte aus dem eigenen Selbst)2, sondern durch Betrachtung und bewusste Gestaltung der Einzigartigkeit – anstatt einer als essentiell behaupteten konstruierten individualistischen >Besonderheit<.
Materialistisch ist diese Theorie des Selbst‘ (die auf das Subjekt erweitert gedacht werden kann), weil sie kein >Wesen des Menschen< zum Ausgangspunkt nimmt, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse, durch die es geformt wird und welche seine >unergründliche Grundlage< bilden. Dies beinhaltet dreierlei: Erstens, dass die Bedingungen unter denen eine dem Anspruch nach >freie< und >selbstbestimmte< Gestaltung der jeweiligs eigenen Lebens- und Seinsweisen möglich wird nicht frei gewählt werden können, sondern gesellschaftlich bestimmt sind – was nichts anderes heißt, als das wir immer schon soziale Wesen sind und unsere Individualität stets in kollektiver Verbundenheit, Auseinandersetzung und Begegnung mit Anderen erfahren und entfalten. Zweitens sind die Möglichkeiten der Subjektivierung in einer herrschaftsförmigen Gesellschaft stark begrenzt und unterliegen spezifischen Deutungs- und Bewertungsmustern, welche mit herrschenden Ideologien korrelieren, also stets auch mit den bestimmten Herrschaftsinteressen verbunden sind. Diese werden in politischen Projekten artikuliert und gegen die individuellen Willen, Wünsche und Bedürfnisse vieler Einzelner durchgesetzt. Dies geschieht somit auch gegen jene ihrer soziale Klasse – die jedoch weder sozialstrukturell, noch vom politischen Bewusstsein her als objektiv vorhanden vorausgesetzt werden kann. Als politisches Subjekt kann sie sich erst durch kollektive Selbstermächtigungsprozesse und Organisierung herausbilden. Jedes politischen Projekt auf dem hegemonial strukturierten politischen Feld arbeitet dabei mit spezifischen Subjektivierungsregimen, welche sich jeweils auf eigene Moralsysteme stützen: Es formt die Subjekte, deren Interessen es zu vertreten beansprucht. Drittens bedeutet eine materialistische Theorie des Selbst‘ bzw. vom Subjekt, dass die materiellen Voraussetzungen unter denen Subjekte auf ihre Subjektivierung Einfluss nehmen und eine bewusste Selbst-Gestaltung erlernen können, zwar einerseits nach der jeweiligen Position in den multiplen Herrschaftsverhältnissen sehr unterschiedlich gegeben sind (bzw. zugewiesen und zugestanden werden), andererseits aber in vielen Fällen auch Gestaltungsspielräume zur selbstbestimmten Lebensgestaltung bestehen und um ihre Erweiterung und ethische Ausgestaltung kollektive Kämpfe geführt werden können.