Zu Bini Adamczaks Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende
zuerst veröffentlicht in: Paradox-A / Feb. 2018
von Jonathan Eibisch

Teil I – Zusammenfassung und Kommentar
Bei der folgenden Betrachtung eines aktuellen und durchaus inspirierenden Buches von Bini Adamczak möchte ich mich nicht den Geschlechterverhältnisse, und -konstruktionen in den Revolutionen von 1917 und 1968 widmen, obwohl diese begründet in seinem Zentrum stehen. An dieser Stelle und bei meinem derzeitigen Beschäftigungsstand könnte ich dieser Thematik auch nicht gerecht werden. Vielmehr möchte ich mich einerseits der Bezugnahme auf und den Anleihen der Autorin bei anarchistischen Revolutionären bedienen, andererseits der paradoxen Struktur des von Adamczak entfalteten kommunistischen beziehungstheoretischen Denkens nachgehen mit dem Hintergedanken, dass anarchistisches Denken selbst als paradox beschrieben werden könnte. Dies soll allerdings verstärkt im zweiten Teil geschehen. Weil mir die Thematik aus verschiedenen Gründen spannend auch für anarchistische Diskussionen erscheint, möchte ich im ersten Teil ihr Buches ausführlich vorstellen und kommentieren.
Um eine Annäherung an das Thema zu ermöglichen und gleichzeitig einige selbstverständlich auch für Anarchist*innen hoch relevanten Problematiken anzureißen, beginne ich allerdings zunächst mit dem Einstieg in ihr Buch. Um es zu würdigen und gewissermaßen auch Material zum selbst- und weiterdenken an die Hand zu geben, arbeite ich viel mit längeren Zitaten, die hier alle kursiv gesetzt wurden.
Von Postrevolutionärer Depression und revolutionärem Begehren
Wie auch Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkmann. Vom möglichen Gelingen der Russischen Revolution (ebenfalls von 2017), welches vom Stil her anders gehalten, dennoch als wechselseitige Ergänzung zum hier behandelten Beziehungsweise Revolution gelesen werden kann, widmet sich Adamczak zum Beginn der Beschreibung eines befremdlichen Gefühls. Dabei handelt es sich um die Trauer des Vorsitzenden der kommunistischen Jugendorganisation „Komsomol“, als später Geborener nicht an der vergangenen Russischen Revolution teilgenommen zu haben. Jenes Gefühl wird als ein „Begehren nach Revolution“ thematisiert, welches eine Fetischisierung von Revolution wäre und einem „revolutionären Begehren“ entgeht stehe. Schließlich sehnten sich Revolutionär*innen nicht nach der Revolution als Kampf oder gar revolutionären Bruch, sondern nach einer kommenden besseren Gesellschaft der Gleichheit, Freiheit und Solidarität, welche durch die Mittel der Revolution zur Verwirklichung gebracht werden sollen. Adamczak wählt für diesen möglicherweise als merkwürdig erscheinenden affektiven (das heißt, sich in körperlichen Regungen äußernden) Zustand die Beschreibung als „Postrevolutionäre Depression“. Zum Ausdruck kommt die Sehnsucht nach den vergangenen Ereignissen einer tatsächlich umfassenden Umwälzung einer gesamten Gesellschaft, die sich dem Selbstverständnis nach auf die spätere Mystifizierung der Revolution gründet und diese aus staatstragenden Gründen gewissermaßen künstlich am Leben erhalten muss. Im Stalinismus wurde diese emotionale Bindung an den Revolutionsmythos mittels der Rhetorik des Kriegskommunismus reaktualisiert und war einer der Faktoren, welcher die streng autoritären Umstrukturierungen wie die brutale Zwangskollektivierung und grausamen, von Paranoia getriebenen Säuberungsaktionen beförderte. Die politische Logik und Strategie der Bolschewiki beruhte auf der Spaltung und dem unbedingten und kompromisslosen Antagonismus, der nur durch zu vernichtende Feindbilder aufrechterhalten werden konnte und somit immer neue unliebsame Menschengruppen als Saboteure, Spione, Verräter, bürgerliche Reaktionäre oder Großbauern brandmarkte, um sie in Arbeitslager und in Gefängnisse zu stecken oder sie zu exekutieren (22). Zu langweilig erschien die relativ stabilisierte postrevolutionäre Sowjetgesellschaft in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik in welcher die Vorstellung, dass sich der Kommunismus als Zerrbild von umfassender Harmonie tatsächlich ohne Feindbeziehungen und den fortwährenden Kampf verwirklichen lassen könnte, als dass sich das Begehren nach Revolution damit hätte arrangieren wollen. „Streit, Spaltung, Kampf aber auch Aufregung, Abenteuer, Spontaneität befinden sich so auf der Seite der Revolution. Harmonie, Frieden, Sicherheit, aber auch Langeweile, Stillstand, Symbiose finden sich auf der Seite des Kommunismus. Dabei bleiben die Pole nicht nur als zeitlich aufeinander folgende, sondern auch als konditional vermittelte logisch verknüpft. Dies ist ein allgemeines Charakteristikum chiliastischer, messianischer und millenaristischer Revolutionsvorstellungen, die erwarten, dass das Reich der Harmonie und Erlösung durch einen Zustand der Katastrophe oder Apokalypse herbeigeführt werde.“ (29) Darauf aufbauend fragt Adamczak weiter: „Sind Revolution und Kommunismus so einander gegenübergestellt, konstituieren sie einen Widerspruch. Durch ihn ließe sich die PRD [Postrevolutionäre Depression, J.E.] lesen als eine implizite Kritik des Verhältnisses von Kommunismus und Revolution. Wenn die Revolution der Errichtung einer postrevolutionären Gesellschaft dient, dann wird das Begehren nach Revolution in dem Moment verschwinden, in dem diese Gesellschaft errichtet ist. Verschwindet es nicht, muss ein Moment der Revolution in der postrevolutionären Gesellschaft nicht aufgehoben worden sein. Die Kritik die diesen Widerspruch impliziert ist wechselseitig, sie lässt sich nach zwei Seiten hin auflösen. Entweder wird das Begehren nach Revolution, nach Abenteuer, Kampf, Freiheit, aus der Perspektive des Kommunismus als eines identifiziert, dessen Befriedigung von seinem eigenen Zweck verunmöglicht wird, das also nach kommunistischen Maßstäben ein falsches Begehren ist. […] Oder aber der Kommunismus wird aus der Perspektive der Revolution als eine Gesellschaft beschrieben, deren harmonische Langeweile nicht das Begehren der Kommunistinnen nach Revolution befriedigen kann. Seine Bestimmung als Harmonie würde die gegebene Definition einer nach den Bedürfnissen der Lebenden eingerichteten Gesellschaft verfehlen. Die Befriedigung der Bedürfnisse aller ließe das Bedürfnis, die Bedürfnisse anderer kämpferisch zu übergehen, unbefriedigt“ (30f.). Das Bedürfnis nach Kampf kann entweder konservativ gedeutet werden, als wäre es den Menschen eigen nach Konkurrenz, Macht und Krieg zu streben, oder es wird als „Ausdruck einer spezifisch historischen Subjektivität verstanden“ (31), welche aus gewaltsamen Bedingungen und Erfahrungen der vergangenen Revolution hervorgegangen ist. In dem Fall ist festzustellen, dass die Kommunist*innen einen Verlust betrauern, obwohl ihre Revolution doch eigentlich siegreich gewesen ist. Dies kommt auch zum Ausdruck durch Gruppen abtrünniger Vagabunden, die als Nostalgiker den vergangenen Erfahrungen des kameradschaftlichen Kampfes nachtrauern, in dem sie sich als Gleiche und gewollt Eigentumslose erfahren hatten. Doch auch Anarchist*innen, die nun offene politische Feinde der Bolschewiki waren sehnten sich nach der lebendigen Revolution, welche diese zerstört hätten (41). Die beiden Pole von postrevolutionärer Zwangsharmonie und revolutionärem Krieg möchte Adamczak nun einer wechselseitigen Kritik unterziehen[1]: „In die eine Richtung ist das von der anarchistischen Kritik am marxistischen Revolutionsmodell geleistet worden, die verlangt, dass Momente der Utopie bereits in der Revolution aufgehoben werden, dass die Bewegung zu einer besseren Gesellschaft bereits Werbung für diese ist [… wie es beispielsweise Gustav Landauer einforderte, auf den sich Adamczak zuvor bezieht, Anmerk.: J.E.]. Die Erfahrung des Stalinismus hat diese Kritik unabweisbar gemacht: Der gute Zweck legitimiert nicht die schlechten Mittel, die schlechten Mittel delegitimieren den guten Zweck. In die andere Richtung bedeutet das, dass Momente dessen, was an der Revolution begehrt wird, in die Utopie aufgenommen werden müssen, die dann nicht mehr als finale Harmonie erscheint, sondern Möglichkeiten zur Differenz, zu Widerspruch und Konflikt und als radikale Demokratie auch zu Offenheit und Neuanfängen bereithält. Wenn mit der Hierarchisierung der Partei, der Bürokratisierung der Politik und der Militarisierung der Ökonomie der Aufbau des Sozialismus nur noch im Befolgen des zentralistischen Plans und der Parteilinie bestand, dann befand sich der einzige Ort für revolutionäre Freiheit genau auf der Grenze der Ausdehnung dieses Plans. […] Solange Kommunismus als ein reines Ideal sozialer Harmonie konzipiert ist, werden sich diejenigen Anteile utopischen Denkens, die darin nicht aufgehen, ein anderes Objekt des Begehrens suchen. Das Paradox des Begehrens nach Revolution, des Revolutionsfetischs, setzt sich im Begehren nach Utopie, im Utopiefetisch, fort […]“ (43).
Das anti-utopische Bilderverbot als Problem für die Revolution und ein Bündel Missverständnisse
Wie angedeutet stellt Adamczak nun dar, was die Revolutionäre als ihre Aufgabe erachteten, nämlich die alte Gesellschaft grundlegend zu zerstören, damit ein neue an ihre Stelle treten könne und somit auch neue soziale Beziehungen zur Entfaltung gelangen würden, welche aber explizit nicht ausgemalt werden. In Abgrenzung zum Frühsozialismus schienen sie dabei weithin anti-utopisch eingestellt gewesen zu sein, was ebenso auf Anarchist*innen zuträfe, die ein radikales Bilderverbot aussprächen, dass heißt keine Visionen einer kommenden Gesellschaft entwickeln wollen würden, sondern sich stattdessen einer zerstörerischen Negation verpflichtet fühlt: „In Bakunins Beschwörung fungiert nicht die Revolution als Fetisch, der das Eintreten der Utopie verhindert, sondern andersherum die Utopie als Verbrechen, das die Revolution behindert. Revolutionärinnen müssen sich darauf beschränken, die alte Welt zu zerstören, während sie den Aufbau der neuen Welt einer nachfolgenden Generation zu übertragen haben“ (46). Dem entgegen gehalten werden kann, dass beispielsweise Bakunin durchaus der Ansicht war, dass die sozialistischen Organisationen in sich die Prinzipien und demgemäß auch Beziehungsweisen einer kommenden Gesellschaft beinhalten und somit vorwegnehmen sollten, was auch den Kern seiner Kritik am Autoritarismus der Internationalen Arbeiterassoziation ausmacht, aus welcher die Antiautoritären nach 1871 ausgeschlossen wurden. Sicherlich ist es so, dass ein verkürzt utopisches Denken dazu tendieren kann, sich von den realen Bedingungen der Verwirklichung der Utopie zu entkoppeln, diese somit entweder ein schöner Traum bleiben muss oder gar die Tendenz beinhaltet, Menschen ihr Glück in Form von starren Reißbrett-Entwürfen autoritär aufzuzwingen. Ein Widerspruch entsteht, wenn Revolutionär*innen (harmonische) Utopien entwerfen aus ihrer Erfahrung der Unperfektheit und Gebrochenheit eines gegenwärtigen Zustandes, indem sie selbst gefangen sind, weswegen ihre Befreiung daraus eine grundlegende Veränderung der Menschen und das heißt auch von ihnen selbst verlangt: „Erst ändern sie die Gesellschaft, um sie ihren Bedürfnissen anzupassen, dann ändern sie sich selbst, um sich der Gesellschaft anzupassen. Auf dem Terrain der Utopie gibt es so eine vergleichbare Bewegung der fetischisierten Verselbständigung wie auf dem Terrain der Revolution. Die Entleerung der Utopie findet nicht nur in Beziehung zu und in Trennung von der Revolution statt, sondern bereits in einer spezifischen Konzeption des Utopischen selbst. Wo die Utopie als Negation der Topie, die Zukunft als Auslöschung der Gegenwart verstanden wird, bringt sie die Gefahr einer (Selbst-)Reinigung mit sich. Hierin besteht der Utopiefetisch. Nicht die Menschen brauchen zu ihrem Glück einen bestimmten Sozialismus, sondern der Sozialismus zu seinem Funktionieren bestimmte Menschen“ (53), schreibt Adamczak. Stattdessen gälte es eine Konzeption des Utopischen zu verfolgen, welche sich als Ensemble von Beziehungsweisen so rekonzeptionalisieren lässt, „dass es zugleich Stabilität wie Beweglichkeit transportiert und die utopische Gesellschaft ebensowenig zum Maßstab der Subjekte macht wie andersrum die gegenwärtigen Subjekte zur absoluten Begrenzung der utopischen Gesellschaft. Statt ein reines Ideal zu verfolgen, das sich nur grausam und also scheiternd erreichen lässt, müssen revolutionäre Politiken mit den Verletzungen und Beschädigungen rechnen und sorgsam Beziehungen flechten“ (54). Und weiter: „Vielleicht muss das Begehren, alles anders werden zu lassen, an etwas festhalten, das nicht verändert werden soll – und sei es auch nur jenes Moment, das nach dieser Veränderung begehrt“ (55). Zurecht kann hierbei festgestellt werden, dass diese Fragen auch Anarchist*innen angehen, denn meiner Wahrnehmung nach scheint ein sinnvoller Umgang mit utopischen Bestrebungen insgesamt noch nicht in ausgereiftem Maße vorhanden zu sein. Schließlich soll es ja eben nicht um die Verwerfung des Utopischen zugunsten der rein negativen Kritik, sondern um seine sinnvolle Thematisierung gehen, die emanzipatorisches Handeln in der Gegenwart motiviert. Gleichwohl habe ich den Eindruck, dass diese Problematik sich den Kommunist*innen an die sich Adamczak wendet wesentlich eher stellt, als Aktiven in der heute vorhandenen anarchistischen Bewegung. Die Vorstellung einer allumfassenden heilen Welt vollständig harmonisierter gesellschaftlicher Beziehungen ist nur noch selten anzutreffen. Vielmehr wird beispielsweise mit der Betonung der Freiwilligkeit eingegangener freundschaftlicher oder genossenschaftlicher Beziehungen darauf hingewiesen, dass es immer – und auch in einer radikal anderen, erstrebenswerten Gesellschaft – zu Missverständnissen, Konflikten und Streit kommen wird. Diese sind auch keineswegs schlimm. Die entscheidenden Fragen richten sich nach dem Modus, in welchem Differenzen verhandelt und der Anspruch nach kollektiver Autonomie und individueller Selbstbestimmung aufrechterhalten werden können.
Daran anknüpfend sieht Adamczak in der Revolution ein Bündel von Missverständnissen, allen voran jenem, dass im gemeinsamen revolutionären Aufbegehren davon ausgegangen wird, auf ein gemeinsames Ziel hinzustreben, was im Moment des Kampfes aufgrund des Gefühls der Verbundenheit nicht hinterfragt wird, im Verlauf seiner Realisierung sich jedoch als durchaus uneinheitlich herausstellt. Demgemäß besteht der „komplexe und breite Prozess der Revolution, in dessen Gefolge die Bolschewiki ermächtigt wurden, in viel mehr als der Übernahme des Staates: in Streikbewegungen, Rätebildungen, Straßendiskussionen, Wohnungsaneignungen, Bandengründungen, vor allem aber in Desertionen und wilden Landenteignungen. Der hartnäckige Glaube, eine revolutionäre Bewegung existiere nur dann, wenn sie sich in gemeinsamen, präzisen und einheitlichen Forderungen oder Parolen artikuliere, wird von der großen Russischen Revolution nicht gedeckt. Sie ist in Wirklichkeit ein Ensemble von Mikrorevolutionen, die häufig unkoordiniert und nicht selten widersprüchlich in- und zueinander verlaufen, von verschiedenen und gegensätzlichen Träumen motiviert werden und diese zugleich motivieren“ (65). Logischerweise gibt es nicht nur in Revolutionen Missverständnisse, dennoch sind diese „in besonderem Maße anfällig für sowohl Vervielfältigung als auch Vertiefung von Missverständnissen, weil in ihnen jene Konventionen außer Kraft gesetzt sind, die in anderen sozialen Situationen das Verstehen erleichtern. Die Freiheit der Revolution ist somit auch eine Freiheit, sich misszuverstehen“ (74). Der Clou liegt für Adamczak jedoch darin, dass das Missverstehen im Grunde genommen von einer Gemeinsamkeit, von einem Einverständnis ausgeht und dementsprechend auf vorhandene Beziehungen verweist, in denen das gegenseitige Verstehen jedoch gepflegt werden müsse. In diesem Zusammenhang empfinde ich die Beschreibung Adamczaks als recht euphemistisch, insofern sie sich auf die teilweise blutigen Auseinandersetzungen innerhalb der revolutionären Bewegungen der Russischen Revolution bezieht. Klar ist auch, dass die Spaltungen zwischen den verschiedenen Fraktionen nicht deutlich abgesteckt sind und diese vielmehr in den ersten Jahren äußerst verworren und widersprüchlich waren. Auch einige Anarchist*innen unterstützen zunächst den Kurs der Bolschewiki, weil sie der Gefahr der Verbürgerlichung der Revolution und der Reorganisierung konterrevolutionärer Kräfte entgegentreten wollten. Zudem hatten sie aus ihren vergangenen Kämpfen eine tiefe Sehnsucht nach der vollständigen Umsetzung der sozialen Revolution entwickelt, wie Adamczak es anhand eines Tagebucheintrages von Alexander Berkmann in ihrem anderen Buch zum Ausgangspunkt nimmt. Diese Hoffnung wurde freilich schnell enttäuscht, nicht aber in einer schlichten Desillusionierung, dass sich nicht noch weitergehender Umwälzungen durchführen ließen und sogar der Kapitalismus in der Neuen Ökonomischen Politik wieder eingeführt wurde, sondern dahingehend, dass Revolutionäre genommen aller Fraktionen, bis hin zu den Bolschewiki selbst von der Tscheka und in den späteren Säuberungswellen ermordet wurden. Dies als „Missverständnisse“ zu beschreiben ist – wenn Adamczak es auch nicht im vulgären Sinne tut – meines Erachtens einerseits eine unzulässige Relativierung des staatlichen Terrors. Zudem spricht sie den Oppositionellen und Dissidenten damit weiterhin indirekt ab, sich aus guten Gründen von der paranoiden Politik der Bolschewiki abzuwenden oder – sich ihres Verständnisses der sozialen Revolution treu bleibend – auch gegen sie zu wenden. Ein wechselseitiges Verstehen kann nur dann möglich werden, wenn die Beteiligten einander zuhören. Die Beziehungsebene, welche dies sowohl voraussetzt als auch ermöglicht konnte von den Bolschewiki zu einem bestimmten Zeitpunkt jedoch nicht mehr eingenommen werden.
Revolution in vermeintlich nicht-revolutionären Zeiten und das Dilemma marxistisch geprägter Intellektueller
Um einen möglichen Ausweg aus der Paradoxie einer harmonischen Utopie und der kämpferischen Revolution anzubieten, versucht Adamczak „Revolution als synaptische Konstruktion“ zu erfassen. Dazu ist wesentlich festzustellen, dass die „Revolution, die eine gute Zukunft realisieren will, […] einer schlechten Gegenwart, die sie überwinden will [entstammt]. Ohne die gefrorene Gewalt dieser vorrevolutionären Strukturen lässt sich die entfesselte der revolutionären Bewegung nicht verstehen. […] Denn zunächst ist die Aufgabe der Revolution negativ bestimmt, sie hat einen unerträglichen Zustand zu beenden. […] Insofern aber die Angst, die sich auf eine ungewisse Zukunft richtet, der Vergangenheit entstammt, ist das kommunistische Morgen nicht ohne kapitalistisches Gestern verstehbar“ (77f.). Die Revolutionäre von 1917 waren Gegner*innen des imperialistischen Kriegs, in welchem sie teilweise auf verschiedenen nationalstaatlichen Seiten hätten gegeneinander kämpfen sollen. „Die wenigen Kriegsgegnerinnen, die darauf beharren, dass die Welt kopfstand, während alle Welt behauptete, dass sie genau richtigherum stehe, musste so der Zweifel beschleichen, sie selbst seien vielleicht diejenigen, die verrückt geworden waren. Die Macht der herrschaftlichen Gewohnheit trübte die Sinne. Es ist dieser Schleier, den die Revolution zerreißt. Die wörtliche Umdrehung, die sie bedeutet, fördert das Unterste, weil Unterdrückte nach oben, ans Licht, sie erzwingt einer marginalen Wahrheit den Zugang zur Wirklichkeit“ (80). Im Zuge des Zusammenbruchs und der Umkehrung geschah die verstörende Erschütterung und Läuterung, welche den Revolutionären fortan Legitimität und Wirkmächtigkeit verschaffte. Endlich wurden sie verstanden und fand ihre Kritik am „Wahnsinn der Herrschaft“ Gehör – zumindest auf der Ebene derjenigen, die sich überhaupt politisch artikulieren können. Deswegen sei die Revolution heute zu thematisieren, eine weiterhin wichtige Aufgabe von Intellektuellen, welche durch sie die Möglichkeit (und die Fähigkeit) radikaler Gesellschaftskritik am Leben erhalten auch wenn dies unter gegenwärtigen Umständen „kontrafaktisch“, also zunächst der Intuition widersprechend und unplausibel erscheine (81). „In dem intellektuellen Bemühen kritischer Theoretikerinnen, den Begriff der Revolution durch nichtrevolutionäre Zeiten zu retten, ohne seine im tatsächlichen Verlauf der historischen Revolutionen zu Tage getretenen antiemanzipatorischen Momente zu reproduzieren, wird eine innere Zerrissenheit des Revolutionsbegriffs deutlich. Die zeitliche Unschärfe der Revolution, ihr Übergangscharakter, erscheint nun als ihr innerer Widerspruch: Die Revolution macht Geschichte und ist zugleich Teil von ihr. Sie will die Ordnung verändern, der sie selbst entstammt. Sie hat eine utopische Welt zu realisieren, der sie nicht angehört“ (82). So sehr ich die Argumentation aus linksradikalen Zusammenhängen kenne und ebenfalls durch diese geprägt bin, muss ich doch feststellen, dass es sich bei ihr hauptsächlich um ein Problem marxistisch geprägter Intellektueller handelt, bei dem Adamczak keine große Ausnahme zu machen scheint. Das wir nicht in revolutionären Zeiten leben, sei dahingestellt und ist mir keiner Rede wert, abgesehen davon, dass ich die Zukunft nicht kenne und aus subjektiven Gründen derzeit gar keine andere Möglichkeit sehe, als die Hoffnung auf eine grundlegend andere Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Statt die Akteure in den Blick zu nehmen, welche zumindest potenziell, auf vielfältige Weise auch heute schon durchaus revolutionär handeln, ohne deswegen immer nur unwahrscheinlich Kommendes vorzubereiten, richtet sich der Blick auf die nichtrevolutionären Umstände, über welche politisch handelnde Menschen bekanntermaßen nur äußerst wenig Einfluss haben. Das entscheidende Problem linksradikaler Ansichten heute ist, einen Widerspruch aufzumachen zwischen Abwehr des Schlimmeren und der Hoffnung auf das Bessere. Die notwendigen Abwehrkämpfen gegen den umfassenden und tiefschürfenden autoritären Rechtsruck – von dem wir bisher immer noch nur die Spitze des Eisberges sehen, der tendenziellen gesellschaftlichen Entwicklungen folgt und nicht hauptsächlich von der AfD oder offenen Faschisten verursacht, sondern von diesen vorangetrieben wird – werden gegen den Aufbau von anschaulichen, überzeugenden und wirkmächtigen Alternativen ausgespielt. Viele Versuche, Alternativen zu verwirklichen werden sogar oftmals belächelt, ignoriert oder als verkürzte Staats- oder Kapitalismuskritik kritisiert. Stattdessen gälte es vermittelbare Visionen und ein plurales emanzipatorisches Narrativ zu entwickeln, wie wir wirklich woanders hingelangen, uns zumindest mit vielen anderen in Bewegung setzen könnten. Demgemäß ist die Idee der Revolution aber auch nicht von Intellektuellen zu konservieren, die – so wie ich ebenfalls – ihr revolutionäres Begehren ins Schreiben kanalisieren, um sich der Reinheit radikaler Gesellschaftskritik zu erfreuen. Dieses Verständnis birgt meiner Ansicht nach die Gefahr einer idealistischen Betrachtung und daraus folgender schematischer Bewertung von Unruhen und Umbruchsituationen. Die Perspektive unmittelbar politisch Kämpfender kann nicht und wird von Adamczak (zumindest an diesem Punkt) nicht eingenommen. Im schlimmsten Fall ist es durch ihre Thematisierung von Revolution nun noch einmal auf höherem Niveau möglich, sich an dieser als Sehnsuchtsobjekt zu ergötzen, sie also zu fetischisieren und es dabei zu belassen, dass die historischen Bedingungen für revolutionäres Handeln nicht gegeben sind. Würden Menschen dadurch motiviert werden, sich mit ihrem revolutionären Begehren in langwierige und nervenaufreibende politische Alltagsarbeit einzubringen; würden sie sich damit sogar aus ihren linken Ghettos hinaus begeben anstatt sich im Rechthaben selbst zu genügen und gegenseitig zu zerfleischen, dann wäre es angemessen, das Sehnsuchtsobjekt zärtlich zu pflegen. Allein, dies ist zumeist nicht der Fall. Insbesondere marxistische Intellektuelle sind es, die sich nicht aus ihren Szenen herausbewegen. Doch es ist an ihnen selbst, die Übersetzungsarbeit zu leisten, mit ihrem intellektuellen Wissen und politischen Erfahrungen zu jenen zu gehen, die in unmittelbaren Kämpfen stecken. Wenn sie dies möglichst direkt und nicht dreimal vermittelt über linke Organisationen täten, wäre die Vorstellung den Gedanken an die Revolution intellektuell „aufzubewahren“ mit jener „Macht des Faktischen“ konfrontiert, die sie relativ absurd erscheinen lassen…
Revolution als „synaptische Konstruktion“ im Verhältnis zu Evolution, Utopie und Reform
Doch zurück zur Revolution als „synaptische Konstruktion“: Adamczak setzt den Begriff der Revolution ins Verhältnis zu Evolution, Utopie und Reform. In Hinblick auf Evolution ist festzustellen, dass sie der Revolution selbstverständlich nicht entgegen stünde, sondern vielmehr einen längerfristigen Prozess der schrittweisen Veränderung meine, statt einen Bruch, Aufstand oder Kampf: „In der klassischen Perspektive sind die Pole miteinander vermittelt, insofern eine bewusste Revolution erst stattfinden kann, wenn sich in der alten Gesellschaft – in ‚ihrem Schoß‘ – die neue entwickelt hat (Marx, MEW 13, 9). Dies lässt sich im Sinne von Produktivkräften verstehen, welche die ‚Fesseln‘ (Marx/Engels, MEW 4, 467) der überkommenen Produktionsverhältnisse sprengen, oder im Sinne einer Klasse, die ‚zum Totengräber‘ (Marx/Engels, MEW 4, 474) der bisher herrschenden wird, oder im Sinne von Produktionsverhältnissen und Verkehrsformen, die sich parallel zu den dominanten entwickeln, um sie schließlich zu ersetzen. Nur die dritte Möglichkeit kann den verschiedenen Einwänden standhalten, die in der Geschichte des Marxismus gegen sie erhoben wurden“ (89). Dass sich andere „Produktionsverhältnisse und Verkehrsformen“ parallel und unterhalb der dominanten staatlichen, kapitalistischen, patriarchalen usw. Verhältnissen befinden und von diesen ausgehend eine grundsätzliche Umgestaltung der Gesellschaft gedacht werden kann, war ein weit verbreiteter sozialistischer Gedanke. Wir brauchen nur an all die Formen der Selbstorganisation in der historischen Arbeiterbewegung zu denken: Arbeitsbörsen, Schulen, Sportvereine, Konsum- und Produktionsgenossenschaften, Banken, oder Wohnungsgenossenschaften. Zunächst entstanden sie aus der schieren Notwendigkeit des Elends heraus jenseits und gegen den staatlichen Kapitalismus, bevor sie unter tatkräftiger Mitwirkung von wohltätigen Unternehmer*innen, bürokratischen Sozialdemokrat*innen und christlichen Gewerkschaften im zutiefst konservativ-paternalistischen Sozialstaat nahezu komplett verstaatlicht, legalisiert und eingehegt wurden. Die Vorstellung von parallel und unterdrückt existierenden gesellschaftlichen Beziehungen ist jedoch keine marxistische und kann folgerichtig von Adamczak im Zitat oben nicht mit Marx belegt werden. Der Marxismus machte ein entweder vulgär-entmündigendes oder intellektuell-abstrahiertes Totalitätsdenken stark. Dies ist der Grund, warum die Betonung des Vorhandenseins selbstorganisierter Formen anderer Beziehungen vor allem als ein anarchistisches Verständnis gedeutet werden, welches verkürzt sei, da es nicht die gesellschaftliche Totalität erfasse. Dieser pauschale Vorwurf trifft jedoch nicht zu, da ein Verständnis für die Hegemonie staatlicher, kapitalistischer und patriarchaler Verhältnisse eben keineswegs dem Ansatz und Versuch entgegensteht, im Rahmen des Möglichen, andere verwirklichen zu wollen und damit zugleich logischerweise auch den Rahmen des Möglichen selbst zu verändern, anstatt sich lediglich in der alternativen Blase einzurichten. Im Vergleich zur revolutionären Situation der ungeplanten Massenproteste erfordere das „’Heranreifen‘ der neuen Gesellschaft aber […] die Gesamtheit an subjektiver Aufmerksamkeit. Es steht deswegen im Zentrum eines relationalen Revolutionsbegriffs, der auf soziale Konstruktionsprozesse fokussiert“ (90). Fairerweise gibt Adamczak auch an, woher sie ihr eigenes Verständnis entwickelt, wenn sie weiter schreibt, diese „Kritik am hegemonialen marxistischen Revolutionsbegriff wurde bereits aus der libertären Tradition heraus formuliert. Gustav Landauer etwa kritisierte die Vorstellung, der Sozialismus könne erst beginnen, nachdem die Revolution eingetreten bzw. abgeschlossen sei, und forderte, das Bild umzukehren […]“ (90f.). Der Sprache nach verbliebe Landauer hier wie Simone Weil oder Martin Buber in der Denkweise des marxistischen Rahmens, der tatsächlich aber lediglich der plurale sozialistische und vom Marxismus vereinnahmte ist. „Inhaltlich aber deckt sich die libertäre Kritik des dominanten marxistischen Revolutionsmodells mit der hier entwickelten. Die bloße Verkehrung von Insurrektion und Konstruktion jedoch schriebe die Beschränkung des revolutionären Transformationsprozesses fort: Die Konstruktion des Sozialismus ist weder Folge noch Voraussetzung des Aufstands, sondern umschließt ihn von beiden Seiten. Die Revolution ist ein komplexer Prozess längerer Dauer, innerhalb dessen der ‚Umsturz‘ nur ein Moment bildet, das nicht selten einige Male wiederholt wird […]. Ein Moment, das eher in dessen Mitte steht, aber nicht an dessen Ende oder Anfang“ (91). Und für den Moment ist dem nichts hinzuzufügen. Im Gegensatz beispielsweise zu John Holloway benennt Adamczak ihre eindeutig anarchistischen Bezugspunkte. Schade, dass sie vom hegemonialen Marxismus aber nicht lassen kann und Marx einfach wie jede vernünftige Anarchistin als grundlegende Inspirationsquelle ansehen will.
Wie erwähnt wären nach Adamczaks Darstellung Anarchist*innen selbst oftmals anti-utopisch eingestellt gewesen, wobei Ruth Kinna meinte, es hätte zugleich immer einen utopischen und einen anti-utopischen Strang gegeben, die wechselseitig in Spannung miteinander standen[2]. Jedenfalls argumentiert Adamczak gegen den anti-utopischen Sozialismus Rosa Luxemburgs und fragt, „ob es nicht gerade die von Utopien unbevölkerte Leere möglicher Zukünfte war, die eine Voraussetzung für die bolschewistische Politik des Misstrauens darstellte. Fühlten sich die Kommunistinnen nicht auch deswegen von Abgründen umstellte, weil sie ohne die geteilten Grundlagen eines utopischen Diskurses in eine ungewisse Zukunft schritten? Fehlte es ihnen an Orientierung, weil sie es versäumt hatten, ausreichend die utopischen Praxen ihrer Gegenwart zu reflektieren, die Selbstverwaltung der russischen Dorfgemeinschaft (mir) oder die in der Revolution von 1905 entstandenen Räte […]? Waren sie also gerade deswegen bemüht, den Eindruck eines fertigen Plans zu erwecken, weil sie als antiutopische Marxistinnen über keinen verfügten?“ (94f.). Und weiter konstatiert sie: „Wie sehr der Mangel an positiver Bestimmung die Theorie und Praxis der Revolution hemmte, ließ sich jedoch bereits vor der Russischen Revolution bemerken. Die utopische Praxis wurde zu wenig reflektiert, die utopische Phantasie zu wenig trainiert“ (96). „Vielleicht ist die Linke zu einem großen Teil immer schon in einem bestimmten Modus dessen gefangen, was Nietzsche Sklavenmoral nannte, in einer spezifischen Fixierung auf das übermächtige Gegenüber, das nur aus der Perspektive der Unterworfenen adressiert wird: Kritik, Widerstand, Subversion, Melancholie, Dekonstruktion“ (97). „Die Linke“ verfüge demgemäß über keine Konzepte zu siegen, was insofern konsequent ist, als das sie sich ja immer auf die Seite der Schwachen zu stellen beansprucht. Dies führte jedoch zu den verkürzten Vorstellung einer automatischen (d.h. historisch zwangsläufigen) Entwicklung hin zum Kommunismus oder einer problematischen Konzentration auf die Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft. Die Revolution, schlägt Adamczak hingegen vor, solle als „Konstruktion“ gefasst werden, was keineswegs ihre Kraft schwäche. „Gegenüber der Herrschaft bleibt sie eine gewaltige Aggression. Der Angriff ist dann aber ein positiver – ein Kampf nicht gegen den Kapitalismus, sondern für den Kommunismus. Die Revolution ist dann die Verwirklichung einer Möglichkeit, der sich eine spezifische Wirklichkeit als Hindernis in den Weg stellt. Deswegen muss es abgetragen werden. Aber dieses Abtragen selbst ist noch nicht die Revolution“ (99). Mit diesem Ansatz stößt Adamczak auf ein wesentliches Problem, insbesondere auch der deutschen Linken. Von dort aus erfasst die fundamentalistisch verordnete Utopielosigkeit sogar die anarchistische Bewegung. Im Übrigen ist die weit verbreitete Unterstellung, „alle anderen“ Menschen außerhalb linksradikaler Kreise, könnten und wollten sich ja keine andere Gesellschaft vorstellen nur eine Verlagerung des Problems. Allerdings sind Linke und auch Anarchist*innen in der längst überfälligen Bringschuld neue, plausible und verständliche Konzepte mit utopischem Gehalt zu entwickeln – eine Angelegenheit, die auch heute die Stärke des Anarchismus sein sollte.
Reform ist ein Reizwort für sich radikal wähnende Linke. „Der Maßstab, an dem zwischen Reform oder Subversion und Revolution unterschieden werden soll, ist derjenige des Umfangs – partielle oder totale Transformation, oberflächliche oder radikale (vgl. Loick 2007, 3ff.). Der Fokus auf totale Transformation verdeckt jedoch, dass es genau im Entscheidungsspielraum der Revolutionärinnen liegen muss, welche Momente der tradierten Geschichte sie ändern, welche sie fortführen und neu verknüpfen wollen. Die Vorstellung, dass ‚alles anders‘ werden müsse (Adamczak 2004), ist selbst eine Fetischisierung, die die Veränderung von einem Mittel zur Überwindung leidvoller Verhältnisse zum Selbstzweck macht“ (99). Stattdessen liegt der Unterschied von Revolution und Reform „nicht im Umfang der Veränderung, sondern in deren Qualität. Die Revolution ist eine transzendentale Wende auf dem Terrain der Geschichte. Sie ist eine praktische Reflexion auf die systemischen Bedingungen der sozialen Möglichkeiten. Die Revolution macht nicht Politik unter vorgefundenen Bedingungen, sondern politisiert die vorgefundenen Bedingungen der Politik. Das heißt, sie revolutioniert sie. Nicht Veränderung im System, sondern des Systems“ (100). Trotzdem gälte es, sich nicht auf Allmachtsphantasien zu beziehen, sondern die angestrebte „kommunistische Freiheit“ „demokratisch“, das heißt in diesem Zusammenhang mit den Betroffenen der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse zu verwirklichen. Autonomie bedeutet nicht, dass souveräne Subjekte anderen ihren freien Willen aufzwingen, sondern sich stattdessen in selbstbestimmte Abhängigkeit begeben und „auf die Phantasie einer unbegrenzten kollektiven Handlungsfähigkeit [zu] verzichten […]. Auch die Unverfügbarkeit und die mit ihr verbundene Angst lässt sich teilen“ (101). Dies anzunehmen bedeutet eine unheimliche Befreiung unserer Selbst: Es sollen und dürfen eben nicht die gewinnen, die am lautesten die am radikalsten klingenden Sprüche schreien, sondern jene, die möglicherweise im stillen, aber langfristigem und konsequentem Wirken nach ihren – immer begrenzten Möglichkeiten – dennoch versuchen, etwas grundsätzlich anders zu machen; die vorrangig mit anderen – und nicht hauptsächlich gegen andere – das Knüpfen von gelingenden Beziehungen ermöglichen. Gegen Marx wendet Adamczak ein, dass die utopische „Konstruktion der Zukunft“ durchaus unsere Sache sein soll. Doch auch die „utopische Konstruktion stellt nämlich ein mögliches Resultat der radikalen Kritik dar, das, wie von der Geschichte gezeigt, Anlass zur Furcht bieten kann. Daher die Notwendigkeit, auf die Konstruktion zu fokussieren. Eine relationale Revolutionstheorie fragt entsprechend weniger danach, was kritisiert, als danach, was projektiert wird, weniger danach, was verworfen, als danach, was angestrebt wird“ (101). Projekte zu starten ist wiederum ein Ding das Anarchist*innen – oder von anarchistischen Ansätzen beeinflusste Menschen – stark machen. Mag man sie als reformistisch abtun und einen falschen Widerspruch zur revolutionären Tätigkeit konstruieren – es sollte schlicht geht darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse und Institutionen strukturell zu erneuern, also etwas grundlegend aber konkret, zu verändern und zu beginnen. Von manchem Kapital-Lesekreis, hin zur antiimperialistischen Demo oder dem antideutschen Club muss dieser revolutionäre Gedanke, den Adamczak so formuliert, das auch Marxist*innen ihn verstehen können, offenbar noch Einzug halten. Den Anarchist*innen jedoch ist zu sagen, dass ihre Projektiererei zwar immer wieder inspirierend wirkt, aber fortwährend zu Frustration führt, brechen Gruppen und Vorhaben allzu schnell wieder auseinander, weil sie lediglich Projekt-bezogen funktioniert haben. Mikrorevolutionen sind – wo es sie denn tatsächlich geben sollte – schön und gut. Die Fragen nach größeren Projekten und Narrativen, die an den Lebens- und Vorstellungswelten von Menschen aus verschiedenen Milieus anknüpfen, bleiben allerdings weitgehend unbeantwortet. Für das erweiterte und aktualisierte Revolutionsverständnis Adamczaks hält sie jedoch fest: „Die Revolution ist dann weder nur Negation der alten Gesellschaft, die reinen Tisch macht, noch lediglich Exekution historischer Gesetze, die bloß der organisierten Beihilfe (Partei) zu ihrer Durchsetzung bedürfen. Die Revolution kann nicht erfolgreich verstanden werden, wenn ihre Herkunft nicht rekonstruiert wird, der sie entstammt und gegen die sie sich wendet. Aber sie kann zugleich nicht erfolgreich praktisch werden, wenn sie auf die Negation reduziert wird, durch die sie an ihre Herkunft gebunden bleibt. […] Der Revolutionsbegriff, für den hier angesichts des Scheiterns der Russischen Revolution plädiert wird, ist so weder deterministisch noch idealistisch, weder destruktiv noch kreationistisch, sondern konstruktiv-synaptisch. Er fokussiert weniger darauf, wie die alte Welt zerschlagen wird, als darauf, wie eine neue aus den Bestandteilen der alten erschaffen werden kann“ (102).
1917 und 1968 in wechselseitiger Kritik und solidarische Beziehungsweisen als Denken des „zwischen“
Mit diesem Verständnis betrachtet Adamczak nun die Revolutionen von 1917 und 1968 und bringt sie in wechselseitige Kritik. Dazu geht sie ebenfalls davon aus, dass beide Ereignisse jeweils auch Reaktionen in Form des Stalinismus einerseits und des Neoliberalismus andererseits auf den Plan riefen. In ersterer wäre das Streben nach der Verwirklichung von Gleichheit und letztere als den Versuch der Verwirklichung von Freiheit zentral gewesen. In Beziehungsweisen zu denken, ist nach Adamczak ein Versuch, den hierbei noch fehlenden dritten Begriff, – die Solidarität – in den Fokus zu rücken, welche von revolutionären Bewegungen zwar sowohl als Bedingung wie auch Ergebnis der Revolution, nie aber als eigens zu gestaltende Dimension, angesehen wurde. Weder die Totalität des Staates noch die Individualität einzelner Menschen solle nun gedacht werden, sondern Solidarität als ein „Denken jenes zwischen“ (von Menschen) als der Vermittlungsversuch gelten (vgl. 226). „Die Gegenüberstellung von Gesellschaft und Individuum, von Totalität und Singularität, Masse und Monade, wiederholt philosophisch verdichtet die Konstellation der Revolutionswellen 1917 und 1968 in ihren dominanten Strömungen, ohne damit einen Ausweg aus dem historischen Dilemma anbieten zu können, das sich in deren konterrevolutionären Gestalten von Stalinismus und Neoliberalismus stellt. Indem über tatsächliche wie mögliche Bindungen, auf deren Entmachtung die Macht des Staates präzise beruht, hinweggegangen wird, werden reale historische Alternativen zum Verschwinden gebracht“ (231). Dabei brauche es gar keine Abstraktion, sondern einen Blick für die vorhandenen Beziehungen, „von denen die Befreiung ausgeht und die befreit werden wollen“ (231). Insbesondere hierbei wird auch Adamczaks Bezugnahme auf feministische Theorien und Auseinandersetzungen sehr deutlich, die ja beispielsweise Beziehungsarbeit, Bedürfnisorientierung, Kommunikation usw. als Voraussetzung für emanzipierende Prozesse ansehen. In der marxistischen Theorie kamen Beziehungen lange Zeit (und im Grunde genommen ja bis heute, wogegen sich Adamczaks Buch richtet) zu kurz und wurden oftmals auf Produktionsweisen reduziert. Um Verhältnisse sozialer Akteure bestimmen zu können, bezieht sie sich auf den Soziologen Leopold von Wiese. Damit lässt sich das Verständnis von Revolution erneut erweitern und auf konkrete Veränderungen auf Beziehungsebene eingehen: „Aus Perspektive einer relationalen Revolutionstheorie braucht es […] einen Begriff konkreter Zeit, um Veränderungen unterschiedlicher Tiefe und Richtung zu unterscheiden. Dort, wo die am stärksten verdinglichten und verfestigten Beziehungsweisen, jene, die kaum überhaupt als Beziehung erscheinen, reflexiv zur Disposition gestellt werden, lässt sich von Revolution sprechen. Revolutionen zielen so weder auf die Transformation der Totalität, durch die alle Teile gezwungen wären, sich mitzuverändern – eine Politik, die sich meist auf den Staat konzentriert -, noch auf die Veränderung der Subjekte – ein pädagogisches Dispositiv, das historisch in der Erzählung vom Neuen Menschen mündete. Weder das Einzelne noch das Ganze wird in ihnen verändert. Sondern jene Verbindungen, aus denen die Gesellschaftlichkeit der Gesellschaft besteht. Die Veränderung selbst steht somit nicht außerhalb der Geschichte. Postrevolutionäre Ensembles solidarischer Beziehungsweisen dürfen sich auch vom Imperativ permanenter Veränderung emanzipieren“ (245f.). Im ersten Moment neigen die meisten von uns wahrscheinlich dazu, Beziehungen recht eindimensional als Grad der Nähe oder des Abstands zu bewerten. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass viele weitere Beschreibungsmöglichkeiten angelegt werden können, etwa dynamisch/statisch, harmonisch/konflikthaft, ritualisiert/unstrukturiert, hierarchisch/egalitär oder etc. (246). Weiterhin siedelt Adamczak den Begriff der Beziehungsweise „innerhalb einer Serie von binären Oppositionen an[…], deren Ausschließlichkeit er unterwandert: Individuum/Kollektiv, Gesellschaft/Gemeinschaft, Struktur/Handlung, Privatheit/Öffentlichkeit, Subjekt/Objekt, Einheit (Harmonie)/Zweiheit (Freund/Feind), Affektivität/Rationalität“ (247). Gleichzeitig verpflichtet sie sich bewusst einem „universalistischen Feminismus“, indem Beziehungsweisen eher auf die Sphäre der Reproduktion zielen, als auf die Produktion, so wie uns ja die Bezeichnung „Liebesbeziehung“ auch geläufiger sei als „Warenbeziehung“. Mit den Erfahrungen aus der Untersuchung der Revolutionen 1917 und 1968 schlägt Adamczak aus vier Gründen den Begriff der Beziehungsweise zur Beschreibung revolutionärer Prozesse vor: 1) Er eigne sich sowohl zur Erfassung von Reproduktions- und Produktionssphäre, von Mikro- und Makroebene, sowie von Nah- und Fernbeziehungen; 2) Er fixiere nicht auf die Totalität des Staates und auch nicht auf die Individuen, sondern auf die Verhältnisse (zwischen ihnen); 3) Der Begriff der Beziehungsweise ermögliche „Veränderung als Ergebnis pluraler kollektiver Praxis zu verstehen, das heißt weder als Regierung eines zentralistisch verfassten Staatssubjekts noch als voluntaristische Aktion widerständiger Individuen. Sowohl die Idee des totalen Bruchs als auch der ewigen Subversion lässt sich so überwinden“ (256) und schließlich 4) um nach der Gleichheitsorientierung von 1917 und der Freiheitsorientierung von 1968 nun die Solidarität ins Zentrum zu rücken.
Und Solidarität wiederum ist ansteckend. Sie kann nicht verordnet und anerzogen werden, sie entsteht nicht aus dem Nichts, sondern aus den vorhandenen Beziehungen, die sie sichtbar macht und stärkt. Gleichzeitig wird eine Bewegung mit dem Wachsen der Tiefe und Qualität ihrer Beziehungen verstärkt und intensiviert, während sie sich nicht allein nach innen richtet, sondern sich über Milieugrenzen hinweg ausbreitet (vgl. 258). „Die neue Gesellschaft entsteht im Kampf gegen die alte. Sie wird nicht am Reißbrett entworfen, nicht vom Zentralkomitee dirigiert und erfordert vor allem keine vorhergehende Machtübernahme. Der Widerstand enthält die Bewegung der sozialen Transformation, die über ihn hinausgeht“ (262). Revolution lässt sich auf der Ebene der Subjekte, der Institutionen aber eben auch auf jener der Konstruktion von Beziehungen beschreiben. „Doch sind die solidarischen und deswegen befriedigenden Beziehungsweisen weder bloß das Mittel einer emanzipatorischen Transformation noch deren bloßes Ziel, das sich zum Mittel indifferent verhielte, sondern beides zugleich in einem Transformationsprozess, der revolutionär gerade darin ist, dass er den Prozess einer synaptischen Konstruktion bezeichnet. […] Emanzipierende Revolution und emanzipierende Postrevolution dürfen, wenn die eine zur anderen führen soll, nicht voneinander abgespalten werden, sondern müssen eng miteinander vermittelt bleiben. Das gelingt, wenn die postrevolutionäre Gesellschaft als Ensemble solidarischer Beziehungsweisen gefasst wird und die Revolution als Knüpfen genau dieser Beziehungen“ (265). Nun handelt es sich bei der Entdeckung von Beziehungsweisen durch Adamczak selbstverständlich keineswegs um etwas völlig neues, sondern ist in der sozialistischen Tradition und auch aktuellen Praxis durchaus angelegt. Beispielsweise stehen die früheren und heutigen Commons (= Gemeineigentümer) sowohl für nicht-kapitalistische Produktions- und Konsumweisen, als auch für wohltuende Beziehungen, welche hinter ihnen stehen und sie zugleich hervorbringen (269). Auch die Vorstellung einer wirklich freien Assoziation beruht auf einer Idee schöner, nicht-erzwingender Verbindungen zwischen Menschen, während der stalinistische Staatskommunismus selbstgewählte Gemeinschaften und Bindungen zerstört hat, um Menschen in die Zwangsgemeinschaft einzugliedern. Ebenso steckt aber auch in der kapitalistischen Warenform ein Totalitätsanspruch, dieser alle anderen Beziehungen unterzuordnen und dienstbar zu machen (279). Um sich wiederum auf anarchistisches Denken zu beziehen, meint Adamczak „Gustav Landauers Erkenntnis, dass sich der Staat nicht zertrümmern, sondern nur durch andere soziale Beziehungen ersetzen lässt, ist nicht auf den Staat beschränkt. Sie trifft ebenso auf das Kapital zu, auf die Liebe, das Geschlecht, die Nation. Und so weiter. In den großen Revolutionswellen des 20. Jahrhunderts, jener von 1917ff. und jener von 1968ff., wurde das erkannt. Mehr oder weniger implizit, mehr oder weniger programmatisch wurde mehr verlangt als die Konstruktion einer veränderten Produktionsweise, einer veränderten objektiven ökonomischen Struktur und mehr verlangt als die Konstruktion neuer Menschen, anderer Bedürfnisse, neuer Subjektivitäten. Tatsächlich bemühten sich die Revolutionärinnen beider Revolutionswellen […] darum, neue Beziehungsweisen zu schaffen. Darin sollte die Spaltung und die damit einhergehende Verkümmerung der herrschenden Beziehungsweisen aufgehoben werden“ (275). Auf die normativen und miteinander verbundenen Werte Solidarität, Freiheit und Gleichheit gründen sich die erstrebenswerten und zu verwirklichenden Beziehungsweisen. Diese ernstzunehmen bedeutet einen Haufen Arbeit. Das Begehren nach solidarischen Beziehungen kann nicht einfach als Forderung an andere adressiert werden oder auf die Umstände, in denen sie ermöglicht werden reduziert werden. Vielmehr ist die aktive Mitgestaltung von Beziehungen durch alle gefragt. Dies bedeutet dann auch, sich bewusst auf Beziehungen einzulassen, sie zu pflegen und auch Konflikte in ihnen auszuhalten und zu vermitteln – eben um weiter miteinander zu wachsen. Dass ist Voraussetzung und Ergebnis der Revolution – aber verkörpert auch diese selbst.
Teil II – Diskussion
In der letzten Ausgabe habe ich umfangreich den ersten und dritten Teil des Buches von Bini Adamczak dargestellt. Dabei verwendete ich lange Zitate, einerseits um damit Fragen aufzuwerfen und zum Mitdenken anzuregen, andererseits, weil ich Material zum Weiterdenken an die Hand geben wollte. Auf den zweiten Teil „Das Geschlecht der Revolution“ bin ich nicht eingegangen, da ich Bedenken hatte, diesem gerecht werden zu können. Da ich mich keiner ohnehin unmöglichen Objektivität verpflichtet fühle und eine solche Darstellung immer auf spezifische Weise geschieht, habe ich den Text auch stellenweise relativ ungebunden kommentiert und kritisiert. Kritik brachte ich insbesondere an (1) in Hinblick auf Adamczaks – meiner Ansicht – nach relativierende Beschreibung von „Missverständnissen“ zwischen verschiedenen revolutionären Gruppierungen, (2) zur Behauptung es sei Aufgabe von Intellektuellen, das Denken von Revolution als Motivation für radikale Gesellschaftskritik aufzubewahren und die daraus folgenden Implikationen, sowie (3), bei der Aussage marxistisches Denken beinhalte auch die Möglichkeit soziale Beziehungen und Verhältnisse jenseits der staatlichen, kapitalistischen, patriarchalen etc. zu denken und zu theoretisieren. Letzteres sprach ich dem Marxismus ab, wobei es sich durchaus um eine weit verbreitete sozialistische Vorstellung handelte, für die sich Anarchist*innen besonders eingesetzt haben.
Adamczak hat die Fähigkeit und Motivation, mit einem weiten Horizont und unter Einbeziehung verschiedener Strömungen linken Denkens – marxistischem, feministischem, rätekommunistischem, anarchistischem, poststrukturalistischem, queertheoretischem – wichtige Fragen an gegenwärtige links-emanzipatorische Bewegungen zu stellen. Sie erhält das Denken von Revolution und Utopie aufrecht, anstatt es aufgrund ungünstiger historischer Bedingungen zu verwerfen oder es zu fetischisieren. Letzteres problematisiert sie ausdrücklich. Ihre Betrachtung der Revolutionen von 1917 und 1968, die sie in eine wechselseitige Kritik setzt, mündet in die Thematisierung von Beziehungsweisen, welche die Werte von Gleichheit und Freiheit um jenen der gestaltbaren Solidarität ergänzen. Dieser Blick ermögliche ein Denken unter anderem „zwischen“ Nah- und Fernbeziehungen, Produktions- und Reproduktionssphäre, zwischen staatlicher Totalität und der Individualität Vereinzelter, zwischen Revolution als abenteuerlicher Kampf und der kommunistischen Vorstellung einer harmonischen Utopie, deren gewaltsame Umsetzung Zwang, Stillstand und Langeweile bedeutet. Nun möchte ich die Art von Adamczaks Bezugnahme zu anarchistischem Denken, die paradoxe Struktur ihrer kommunistischen Beziehungstheorie und einen Abgleich mit anarchistischem Denken in Paradoxien vornehmen.
Bezugnahme zu anarchistischen Denkweisen
Wie auch in ihrem Buch Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkmann schon im Titel bezieht sich Adamczak als kommunistische Theoretiker*in an zahlreichen Stellen auf Anarchist*innen. Im Gegensatz beispielsweise zu John Holloway hat sie die Courage dies zuzugeben, was ihr selbst angerechnet werden kann, genauso aber auch für spürbare Veränderungen des Sag- und Schreibbaren in linken Debatten – und nun auch in der Theoriebildung – spricht. Diese werden sich freilich keineswegs allgemein im linken Diskurs durchsetzen, sondern sicherlich zunächst weiterhin vor allem Angelegenheit von emanzipatorisch gesinnten Linksradikalen sein. Zur Überwindung des Schmuddel-Images des Anarchismus‘ bräuchte es tatsächlich eine soziale Revolution, insofern die staatliche Herrschaft des Konstruktes ihres fundamentalen Antagonisten bedarf, um sich selbst zu legitimieren. Wie aus anarchistischem Denken abgeleitet werden kann – und Adamczak es auch zu fassen versucht -, ist jedoch der eine große Bruch viel weniger revolutionär als die kontinuierliche und tiefgreifende Beziehungsarbeit, die ihm ermöglichen kann. Insofern kann das konsequente Eintreten für anarchistische Positionen und Praktiken an verschiedenen Stellen durchaus dazu beitragen, diese zu verbreiten und verständlich zu machen.
In diesem Sinne möchte ich die Frage stellen, wie und warum Adamczak sich auf anarchistisches Denken bezieht. Letzteres, das Warum, ließe sich dabei insofern schnell klären, als das die politische Krise links-emanzipatorischer Bewegungen zwar viele Dimensionen hat, nicht zuletzt aber auch eine Krise linker Theorien darstellt. Die Mobilisierung verschütteter, abgewerteter und ausgegrenzter radikaler Denkweisen wie des Anarchismus‘ dient in diesem Zusammenhang als Inspiration und Erfrischungskur verkrusteter und selbstgenügsamer Traditionen[3]. Zwar gibt es verschiedene linke Strömungen, die sich oftmals sehr gern haben und miteinander um Einfluss und Deutungen in zumeist ähnlichen Milieus konkurrieren. Eine offene Auseinandersetzung auf inhaltlicher Ebene findet jedoch selten genug statt, wo es vielen vor allem darum zu gehen scheint, sich mit der Kritik der anderen selbst zu bestätigen und die Möglichkeit zumindest potenziell gemeinsamer Ziele oftmals von vorneherein verneint wird. Anarchist*innen bilden dabei in der Regel keine große Ausnahme, mit dem Unterschied, dass ihre Gedanken von den hegemonialen staatssozialistisch orientierten Marxist*innen nur selten ernst genommen, möglicherweise noch nicht einmal wahrgenommen wurden. Auf der anderen Seite bedienten sich Anarchist*innen ganz verschiedener Fragmente aus linken Theorien, die ihnen zu ihrer Praxis tauglich erschienen[4]. Eigenständige und gute anarchistische Theoriebildung als auch ihre Erneuerung gab es wenig, wäre aber erforderlich um gleichberechtigt diskutieren und sich überhaupt auch auf einer theoretischen Ebene mit verschiedenen links-emanzipatorischen Akteuren verständigen zu können[5]. Bevor nun eine umfassendere Erneuerung anarchistischer Theorien geschehen konnte, hat sich Adamczak schon an den ihr tauglichen Elementen für ihr Projekt einer beziehungstheoretischen Erneuerung des Kommunismus bedient. Dies ist völlig akzeptabel, da alle Menschen Gedanken und Handlungsweisen von anderen aufgreifen, umdeuten, einbauen und weiterentwickeln[6]. Zweifellos geschieht damit auch eine gewisse Verbreitung anarchistischen Denkens (innerhalb der kleinen Szene von Leuten, die so etwas überhaupt interessiert). Für mich stellt sich jedoch die Frage, wie sich Adamczak konkret zur anarchistischen Bewegung heute positioniert oder ob sie lediglich Fragmente anarchistischen Denkens „kulturell aneignet“ und dann als eigentlich kommunistische ausgibt. Aus einer anarch@-kommunistischen Perspektive heraus, mag diese vermeintlich klare Trennung relativ absurd wirken. Dennoch mache ich das Schema auf, weil ich die Frage interessant finde.
Wesentlich bedeutender als Adamczaks Bezugnahme auf anarchistische Personen (Bakunin, Goldman, Berkmann, Landauer) finde ich jene auf Denkfiguren, die als anarchistisch gelesen werden können. Da ist zum einen die bereits oben beschriebene Abwendung von einem marxistischen Totalitätsdenken hin zum Beziehungsdenken und somit ebenfalls zur Vorstellung, dass erstrebenswerte soziale Beziehungen parallel zu den herrschenden Verhältnissen immanent vorhanden sind. Auch die Beschreibung der Spannung zwischen einer zwangsharmonisierten Utopie der Postrevolution und dem kämpferischen Abenteuer der Revolution, welche sie zur Selbstkritik beider Verständnisse in ihren kommunistischen Varianten führen, liest sich zwar äußerst spannend und ist sehr wertvoll – aber aus anarchistischer Perspektive keineswegs etwas grundlegend Neues. Vielmehr wird ein in meinen Augen schlicht vernünftiger Umgang mit derart aufgeladenen Metabegriffen wie Revolution und Utopie vorgeschlagen – der allerdings noch weiterer Verbreitung bedarf, schaue ich auf Genoss*innen meiner Generation, die sich als Linke, Linksradikale oder auch explizit als Anarchist*innen verstehen. Der letzte Absatz beinhaltet, dass Adamczak sich auf zwei Arten anarchistischem Denken widmet: Sie tut es an einigen Stellen direkt (24, 41ff., 46, 56, 79, 91, 157f., 275)[7] und an anderen indirekt. Ihre indirekte Bezugnahme auf anarchistisches Denken hielt ich zu Anfang meiner Überlegungen für intuitiv in mehrerer Hinsicht gegeben.
Zunächst ist da die theoretische Figur der solidarischen Beziehungsweisen selbst, welche ich in anderen Formulierungen aus Debatten in anarchistischen Zusammenhängen kenne und die in sonstigen linken Kreisen meiner Wahrnehmung nach wesentlich weniger thematisiert wird. Deswegen kam ich auf den Gedanken, dass es sich um einen Aspekt anarchistischen Denkens handeln müsse. Tatsächlich scheint es mir jedoch der Fall zu sein, dass Anarchist*innen die Arbeit an Beziehungen als eminent politische Tätigkeit mittlerweile oft betonen, was auch am oftmals Netzwerk-artigen Charakter ihrer politische Sozialbeziehungen zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig muss ich jedoch einerseits eingestehen, dass das Gefühl von Solidarität und auch ihre Bedeutung für den politischen Kampf wahrscheinlich so alt wie dieser selbst und dementsprechend auch nicht allein auf linke Revolutionär*innen zu beschränken ist (wobei der Aspekt, sie freiwillig einzugehen und sich darin ebenfalls als Gleichberechtigte zu erfahren, von großer Wichtigkeit ist). Andererseits ist es offensichtlich, dass das Denken in Beziehungsweisen und die Betonung ihrer Gestaltbarkeit und Bedeutung insbesondere durch feministische Kritik, Praktiken und Diskussionen in das politische Denken und Handeln zum Beispiel von Anarchist*innen eingeflossen ist[8]. Dies gilt es zu betonen und damit zugleich die Affinität zwischen Feminismus und Anarchismus zu vertiefen.
Zweitens sah ich zunächst das Denken jenes Zwischen, welches „den eigentlichen Lebensraum der Beziehungsweise bildet“ (227) und zu einem adäquaten Verständnis von Solidarität erforderlich ist, ebenfalls als spezifisch anarchistische Denkweise an. Dafür spricht ebenfalls einiges, denke ich beispielsweise an die Beschreibung revolutionärer Subjekte und Subjektivitäten, die von Anarchist*innen nicht wie vor allem ausgehend von Marx im (Industrie-)Proletariat verortet wurden, sondern deren soziale Herkunft durchaus sehr unterschiedlich sein kann: bäuerlich, (lumpen-)proletarisch, kleinbürgerlich oder sogar aristokratisch. Menschen werden potenziell zu Revolutionär*innen, unter anderem durch ganz subjektive Erfahrungen des Herausfallens, die sich jedoch ebenso kollektiv in Prozessen der Deklassierung, Proletarisierung und Entwurzelung bestimmter sozialer Gruppen vollziehen: beispielsweise durch Immigration, Verfolgung, Abweichungen von der Norm usw..[9] Eben aus derartigen Erfahrungen kann im anarchistischen Denken eine Begrüßung von Abweichung, Vielfalt und Unterschiedlichkeit hervorgehen, welche Differenzen nicht als Gemeinsames verunmöglichend, sondern sogar als deren Voraussetzung in egalitärer Hinsicht ansieht[10]. – Dies sollte zumindest der Anspruch von anarchistisch inspirierten Menschen sein und sie gern auch vor anderen auszeichnen. Ob sich dies auch lebensweltlich bestätigen lässt, wage ich nicht zu beurteilen. Dagegen bezieht sich Adamczak in ihrem Denken ‚des Zwischen‘ auf eine Auslegung poststrukturalistischer Theorien: Die desaströse Erfahrung emanzipatorischer Veränderungsbestrebungen der Totalität der ‚ganzen‘ Gesellschaft durch die Revolution 1917, welche in totaler staatlicher Herrschaft mündete, hätte in der 1968er-Revolution zum Aufgeben des Anspruchs Gesellschaft insgesamt zu transformieren geführt. Deswegen sei Subversion zu einem Substitut für Revolution geworden. Jene neuen Theorieströmungen, die sich aus der Abgrenzung zu den totalitären Tendenzen des Staatssozialismus herausbildeten (Kritische Theorie und Poststrukturalismus) hätten unter anderen historischen Umständen weniger in die Sackgasse ausschließlicher Subversion des Bestehenden führen müssen. „Das Argument der Relationalität des Sozialen wäre dann nicht fortgeführt worden als Bedingung der Möglichkeit, die herrschende Ordnung zu subvertieren, sondern als Grundlage, eine herrschaftsfreie Un-Ordnung zu konstruieren. Eine Theorie, die eher auf geteilte Beziehungen als auf individuelle Handlungen fokussiert, setzt in der Tradition [… des] Poststrukturalismus […] am Zwischen an, kann dieses Zwischen aber unmittelbar als Sozialität interpretieren, um deren solidarische Gestaltung es geht“ (237).[11] Diskutiert werden kann sicherlich, in welchem Verhältnis Anarchismus und Poststrukturalismus stehen, aber dass letzterer gewissermaßen die Theorie ersteren wäre, wie Todd May meint[12], finde ich unplausibel. Trotz Schnittpunkten und Analogien kann poststrukturalistischen Theorien nicht unterstellt werden „eigentlich“ anarchistisch zu sein. Ebenso ist meine Intuition zu hinterfragen mit der ich ‚das Zwischen‘ Adamczaks als „eigentlich“ anarchistische Denkfigur gedeutet habe. Umgekehrt offenbart sich darin vielmehr die Prägung meines eigenen Denkens durch die Lektüre von postanarchistischen Schriften[13]. Dem steht jedoch wiederum durchaus nicht entgegen, dass die zuvor zitierte Aussage inhaltlich anarchistischem Denken entspricht, da es keineswegs auf einen (am Ende bürgerlichen) Individualismus abzielt, sondern Individualität ganz durch umfassende Sozialität und Verbundenheit begreift[14].
Drittens fällt es mir nach den vorherigen Feststellungen nochmals schwerer Adamczaks Verständnis von im Zusammenspiel gedachter Revolution und Utopie mit anarchistischen Vorstellungen zu abzugleichen, von denen es selbstverständlich auch verschiedene gibt. Zunächst schien es mir – wie oben zu lesen – unmittelbar einsichtig, dass sie dabei eine abwägende oder sogar vermittelnde Perspektive einnimmt, die ich schlichtweg (ganz von meiner Position her) als „vernünftig“ ansehe. Dies bedingte meine Assoziation und Unterstellung, dass es sich hierbei – meiner Wahrnehmung nach – im Grunde genommen um eine anarchistische Denkfigur handeln musste. Nun wurde mir hingegen bewusst, dass dieses Verständnis durchaus nicht selbstverständlich ist, sondern vor dem Hintergrund der Auflösungversuche der darin zum Ausdruck kommenden Paradoxie in vier Richtungen stattfindet. Schematisch gehe ich dazu davon aus, dass Revolution&Utopie von – verkürzt – „Linksradikalen“ und „Reformist*innen“ sowohl affirmiert als auch verworfen werden können. „Linksradikale“ affirmieren sie dort, wo sie beide Begriffe fetischisieren und als unerreichbare Sehnsuchtsobjekte und etwas Transzendentes begreifen. Sie verwerfen Revolution&Utopie, wo sie krampfhaft einer rein negativen Kritik verhaftet bleiben und auf die Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung unter „gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen“ hinweisen – und jene damit festschreiben. „Reformist*innen“ abzusprechen, dass sie eine Sehnsucht nach grundlegend anderen gesellschaftlichen Verhältnissen haben, möchte ich mir nicht anmaßen. Aus „realpolitischen“, pragmatischen Gründen entscheiden sie sich jedoch dafür Revolution&Utopie soweit zu reduzieren, dass sie sie höchstens noch in völlig unverfängliche Chiffren wie „gesamtgesellschaftlicher Transformation“ fassen. Reformist*innen verwerfen diese Vorstellungen allerdings dort, wo sie in ihnen die Gefahr des Totalitarismus schon angelegt sehen – als wären es die Worte, aus denen unmittelbare Folgen resultieren würden. Diese Tendenzen der Auflösung von Revolution&Utopie treten dort zu Tage, wo sie aufgrund historischer Erfahrungen enorm von Bedeutung aufgeladen und belastet sind, was seine Gründe hat. Das zu leugnen wäre eine ahistorische Betrachtung. Umgekehrt bedeutet Revolution&Utopie zu thematisieren jedoch nicht zwangsläufig die gegenwärtigen historischen und gesellschaftlichen Bedingungen zu verkennen. Wie ich im Text zuvor dargelegt habe, halte ich es zur Weiterentwickelung aller links-emanzipatorischen Perspektiven und Ansätze für zentral, schmackhafte Visionen und ein Meta-Narrativ zu entwerfen, auf welche Weisen und mit welchen Konzepten wir zu einer besseren Gesellschaft gelangen können. Dieser grundlegende Anspruch sollte nicht aufgegeben, sondern wiederentdeckt werden, anstatt die eigenen Zielvorstellungen allein negativ und in Gegnerschaft zu allem Schlechten zu formulieren. Dies ist, meine ich, eine anarchistische Betrachtungsweise die sich mit einem Verständnis von sozialer Revolution als struktureller Erneuerung gesellschaftlicher Beziehungen und Institutionen deckt und durch welche das alltägliche und begrenzte Handeln von veränderungswilligen Einzelnen und politischen Gemeinschaften unmittelbar im Zusammenhang mit sozial-revolutionären Intentionen gesehen werden kann. Ohne die Schwierigkeiten und Spannungen zu leugnen, die auch Anarchist*innen damit haben, habe ich den Eindruck das es ihnen tendenziell weit besser gelingt mit jenen umzugehen, als überzeugten Linksradikalen. Wenn dies zutrifft, gehe ich davon aus, dass dem – sowohl auf der Subjektebene als auch theoretisch – ein spezifischer Umgang mit eigenen Ansprüchen, Widersprüchen und Spannungen zu Grunde liegt. Dieser liegt meines Erachtens darin, jene zuzugeben, zuzulassen und darum in Paradoxien zu denken, wie ich es unten zu formulieren versuche. Auch wenn sich dies halten lässt, scheint es mir trotzdem von der Weise ihrer Herleitung ausgehend nicht legitim, Adamczak damit anarchistische Denkweisen unterzuschieben, die sie nicht haben muss, um ihre Perspektive formulieren zu können. Sie entfaltet eine sehr spezifische, häretische und erfrischend eigenwillige kommunistische Deutung von Revolution&Utopie, wozu sie auch anarchistische Kritiken und Gedanken aufgreift – das macht sie aber nicht zur Anarchistin[15].
Meine anfängliche Vermutung, dass Adamczak sich neben ihrer Bezugnahme auf einige Anarchist*innen viel stärker noch indirekt auf anarchistische Denkfiguren bezieht, lässt sich nach den vorangehenden Überlegungen nicht aufrechterhalten. Stattdessen bin ich zu dem Schluss gekommen, dass diese Vermutung meiner Intuition folgte, der ich zwar nicht misstraue, die jedoch einer genaueren Überprüfung bedurfte. Dass ich diese Intuition hatte, lag allerdings wiederum daran, dass die von Adamczak gewählten Argumentationsmuster, Inhalte und appellativen Schlussfolgerungen meiner Ansicht nach anarchistischem Denken in vielerlei Hinsicht stark ähneln. Darin zeigt sich der Versuch verschiedene links-emanzipatorische Perspektiven einzufangen, um Fragen danach aufzuwerfen, worum es grundsätzlich gehen sollte, was also das Gemeinsame der verschiedene Strömungen sein könnte. Wenn das stimmt, muss dies keineswegs bedeuten alle genannten Strömungen über einen Kamm zu scheren und in einen Topf zu werfen, sondern eine notwendige Diskussion zu eröffnen und einen Vorschlag zu machen, auf welcher Grundlage diese geführt werden kann. Dies empfinde ich als mutig, da Menschen sich mit dem Bestreben eine gleichberechtigte Diskussion zu initiieren – das heißt Vermittlungsversuche zwischen verschiedenen Positionen zu wagen, ohne dabei in Beliebigkeit zu verfallen-, von allen Seiten Kritik gefallen lassen müssen. Und es braucht mehr mutige Menschen, wenn wir etwas verändern wollen.
Die paradoxe Struktur kommunistischer Beziehungstheorie
In der bisherigen Darstellung ist schon mehrfach angeklungen, dass Adamczak auf eine Weise denkt, die ich für besonders halte und als Denken in Paradoxien bezeichne. Darunter verstehe ich, dass sie von Gegensätzen ausgeht, diese jedoch nicht lediglich als Widersprüche ausgibt, welche es entweder zu einer Seite hin aufzulösen oder in einer einfachen Synthese zu vermitteln gälte. Sie knüpft damit an die Tradition dialektischen Denkens an, versucht diesem jedoch eine spezifische Richtung zu geben, indem Gleichzeitigen und ein Ineinander verschiedener Aspekte gelten gelassen werden. Neben den Inhalten, die Adamczak vermittelt sehe ich vor allem auch diese Art des Denken für gewinnbringend an, weil somit eine Darstellung und Konsequenzen möglich werden, in denen ich emanzipierendes Potenzial sehe. „Damit wird ein anderer Blick auf kapitalistische Vergesellschaftung möglich. Dieser beansprucht nicht, wahrer oder wesentlicher zu sein als andere Kapitalismustheorien. Er behauptet nicht, radikaler oder umfassender zu sein als andere Kapitalismuskritiken. Er verlangt allerdings danach, die Überwindung von Kapitalismus anders zu konzipieren als in Begriffen der Negation, der Reform oder der Subversion. Nicht darum, Kapitalismus besser zu verstehen, geht es, sondern darum, ihn leichter zu verändern. Aus einer beziehungstheoretischen Perspektive erscheint Kapitalismus weder als geschlossenes System noch als Antagonismus unverbundener Klassenblöcke, sondern als Gefüge von ineinandergreifenden Beziehungsweisen, lebendiger wie dinglicher“ (248). Neben der Dialektik wurde schon angerissen, dass sie sich dafür auf poststrukturalistische Theorien bezieht, welche ein Denken des Zwischen und darauf aufbauend von Verhältnissen (= „Relationalitäten“) ermöglichen (237) und deutet weiterhin an, dass sich hierzu Inspiration in der Akteur-Netzwerk-Theorie finden ließe, welche „davon aus[geht], dass Handlungsmacht nicht aus einzelnen Akteurinnen entsteht, sondern aus Verbindungen hervorgeht“ (255). Zudem ist es aber hintergründig auch die Queer-Theorie, derer sie sich insbesondere im von mir nicht besprochenen zweiten Teil ihres Buches bedient (107ff.) und welche unter anderem die Konstruiertheit von Geschlechtskategorien zum Ausgangspunkt nimmt, um die bipolare Geschlechterordnung zu dekonstruieren, zu kritisieren und nach Wegen zu suchen, sie zu queeren. Nehmen wir Letzteres zum Ausgangspunkt und weiterhin an, das alle Menschen sowohl als feminin als auch als maskulin gelesene Merkmale und Verhaltensweisen aufweisen und Geschlechtsidentität sowie ihre Performance im Grunde genommen für alle Menschen eine Paradoxie darstellen, mit welcher allerdings auf äußerst unterschiedliche Weise umgegangen werden kann und muss. Dies ist jedoch nicht erforderlich, weil Menschen einfach „natürlicherweise“ weibliche oder männliche Anteile hätten, sondern nach der bipolaren Geschlechterordnung, welche der dichotomen neuzeitlichen Aufteilung der sinnliche wahrnehmbaren Welt in Gefühl/Vernunft, Natur/Kultur, Subjekt/Objekt (243), entspricht. Dass heißt, Paradoxien ergeben sich nicht aus einem vermeintlichen „Wesen des Menschen“ und einer „natürlichen Ordnung“, sondern aus der spezifischen Form der Gesellschaft in welcher wir leben. Versuche mit Paradoxien umzugehen stehen vor den Herausforderung, (a) die Pole zwischen denen sie sich bewegen nicht zu reproduzieren, (b) an ein problematisches Fortschrittsdenken gekoppelt zu sein wie der dialektische Materialismus und (c) in ihren Schlussfolgerungen äußerst schwammig zu bleiben, weil sie meistens keine einfachen Auflösungen finden können und diese auch nicht unbedingt anstreben. Dennoch finde ich es lohnenswert, sich diesen Herausforderungen zu stellen und zu schauen, was für emanzipatorische Perspektiven damit zu gewinnen sein könnten.
Wie zu Beginn des letzten Textes dargestellt, beginnt Adamczak ihr Buch mit der Paradoxie von kämpferischer Revolution und Postrevolution als der zwanghaften Verwirklichung einer harmonischen kommunistischen Utopie. Nach der Etablierung des sozialistischen Staates gründete sich dieser auf den Mythos der Revolution und rief somit ein Begehren nach Revolution hervor, welches revolutionäres Begehren fetischisiert, da es Revolution zum Selbstzweck und nicht zur Erreichung einer Utopie erstrebt, welche ja vermeintlich schon erreicht worden war und nur weiter ausgebaut werden müsste. Um diesem Paradox nachzugehen, zeigt Adamczak auf, dass sowohl die Vorstellung von Utopie als auch jene von Revolution in sich selbst paradox sind.
Auf der einen Seite bestanden herkömmliche Revolutionsvorstellungen in der reinen Negation des Bestehenden, waren also anti-utopisch. Auf der anderen Seite wurde der Kommunismus als das allumfassende Ideal der Harmonie, des Friedens und Glücks propagiert. Beides ist mehr als verständlich, erahnt man auch nur ansatzweise das unsagbare Leid, welches die Bevölkerung, insbesondere aber auch die Revolutionär*innen unter der herrschenden Ordnung, aber auch im Kampf gegen diese erlitten hatten. Davon ausgehend soll die Zukunft „aus der Vergangenheit entstehen, die neue Welt muss aus der alten geboren werden, die nur innerhalb von Herrschaft haben leben können. Das Paradoxon stellt sich in der Revolution, bei der Wahl der Mittel, als praktisches. Es stellt sich bereits davor, in der Formulierung der Utopie, bei der Wahl des Zwecks, als theoretisches. Schon die Praxis des Denkens, des Vorstellens, des Begehrens wird mit der Schwierigkeit konfrontiert, über ihre eigene Bedingtheit hinauszugehen. Die Utopie soll eine Zukunft beschreiben, die sich von der Gegenwart radikal unterscheidet, sie kann diese Zukunft aber zugleich nur aus der Perspektive eben jener Gegenwart betrachten, der sie entstammt“ (45). Mit dieser Problematik umzugehen führte weithin zum Abschied vom utopischen Denken, das als verdrängte Sehnsucht jedoch in stets neuer Gestalt wiederkehrt. Adamczaks Vermittlungsversuch liegt wie im vorherigen Text schon abgebildet, in einer Rekonzeptionalisierung des Utopischen, mit dem sich von reinen Idealen gelöst und gegenwärtige Subjekte nicht einfach abgeschafft werden, sondern sich stattdessen in Beziehungsarbeit weiterentwickeln können (54f.). Hierbei wird deutlich, das es ihr nicht um die Auflösung der Paradoxie sondern darum geht, einen vermittelnden Umgang mit dieser zu finden, weil sie den Versuch wagt, utopisches Denken zu reaktualisieren.
Darauf aufbauend beschreibt Adamczak Revolution als Missverständnis. Damit meint sie die Paradoxie zwischen dem Pol der Behauptung gemeinsamer Ziele und nicht zuletzt auch den daraus resultierenden Gefühlen der Verbundenheit im gemeinsamen Kampf einerseits, sowie andererseits der oftmals bitteren Erfahrung von Missverständnissen und ganz unterschiedlichen Zielvorstellungen verschiedener Gruppierungen und Fraktionen während der Kampf vorangebracht und vor allem, wenn dadurch schließlich auch Ziele errungen werden. „Das Missverständnis der Revolution lässt sich nicht ausräumen oder es lässt sich ausräumen nur auf Kosten der Revolution. Genau so aber wird das Politikmodell Lenins lesbar: als Versuch, die aufgerufene Vielstimmigkeit der Revolution zugunsten einer Logik der Einheit wieder zum Verstummen zu bringen und in der Stimme der Partei, der Parteilinie, des Zentralkomitees, des Vorsitzenden zu vereinigen“ (68). Statt dieser autoritären Auflösung der Paradoxie und ihren paranoiden Konsequenzen, sucht Adamczak – wie schon oben dargestellt wurde – nach einem anderen Umgangsweg. Allerdings wählt sie dafür nicht jenen der bürgerlichen Demokratie, in welcher Meinungen privatisiert und Differenzen über einen abstrakten parlamentarischen Prozess auf Grundlage des einheitlichen kapitalistischen Wertes in Beziehung treten. Denn „die Revolution als Missverständnis lässt sich nicht verstehen, wenn ihr als normativer und organisatorischer Bezugspunkt entweder die Einheitlichkeit oder die Differenz untergeschoben wird. […] In der Vereinzelung jedoch lebt das Gemeinsame so wenig wie in der erzwungenen Einheit. Weder in einer Vielheit, die sich in ihren Teilen verliert, noch in der Union, die sich durch Unterordnung konstituiert“ (76). Stattdessen ständen Menschen in Adamczaks Begriff von Missverständnissen (den ich zuvor kritisiert habe) in Beziehungen, welche deswegen gepflegt und gestaltet werden könnten (74). Auch hier verwirft sie die Paradoxie also nicht, sondern erhält sie aufrecht, um damit zu neuen Fragen und Erkenntnissen zu gelangen.
Beide in sich paradoxen Verständnisse – Utopie&Revolution – setzt Adamczak nun zueinander ins Verhältnis um für die Paradoxie Revolution/Postrevolution in einer „dreifachen Dialektik“ von Evolution, Utopie und Reform eine neue Umgangsweise zu finden. Revolution will sie damit als „synaptischen Konstruktionsprozess“ verstehen (102). Sie kann demnach nur gelingen, „wenn sie nicht von einer Fixierung auf Veränderung und damit Negation bleibt. Die Revolution hat weder die Aufgabe, alles zu zerstören, noch alles neu zu erschaffen, sondern Aktuelles wie Potenzielles anders zu verknüpfen“ (103).
Im Folgenden betrachtet Adamczak die „Geschlechterverhältnisse“ in den Revolutionen 1917 und 1968. Sie werden im Alltagsverstand zumeist als das Verhältnis bipolar orientierter Geschlechtsidentitäten angesehen. Bei ihr stehen sie aber eher für die gesellschaftlichen Verhältnisse, die die Kategorie Geschlecht erzeugen. Adamczak analysiert, dass 1917 auf die „Gleichmacherei“ der Geschlechtsidentitäten im Sinne einer „universellen Maskulinisierung“ abzielte, während 1968 auf ihre Pluralisierung im Sinne einer „differentiellen Feminisierung“ hinaus liefe, womit beide Revolutionen sich aber in Widersprüche verstricken: „Wo 1917 versucht hatte, das Private abzuschaffen, Reproduktion zu maskulinisieren, Emotionalität zu rationalisieren, das Sexuelle zu zivilisieren und menschliche Beziehungen zu ökonomisieren, versuchte 1968 das Private zu politisieren, Produktion zu feminisieren, Rationalität zu kritisieren, Kultur zu sexualisieren und die Ökonomie zu vermenschlichen“ (201). Und weiter: „Aus der weltrevolutionären Konstellation von 1917 und 1968 lassen sich in der Konfrontation der gesellschaftlichen Geschlechterkonstruktion zwei Schlussfolgerungen ziehen. Zum einen, dass Emanzipation sich nicht kraft eines dialektischen Automatismus aus der bestimmten Negation ergibt. Schließlich lassen sich verschiedene oder gar entgegengesetzte emanzipatorische Antworten auf etwa das gleiche gesellschaftliche Problem geben. Zum anderen aber, dass beide utopisch-revolutionären Konstruktionen, so historisch verschieden sie auch ausfallen, Antworten auf in etwa das gleiche Problem geben: die gesellschaftliche Spaltung in Produktions- und Reproduktionssphäre, Öffentlichkeit und Privatheit, Rationalität und Emotionalität. Der Versuch, dieses Problem zu lösen, machte mehr als die Konstruktion neuer ökonomischer Produktionsweisen oder subjektiver Existenzweisen, die Konstruktion neuer Beziehungsweisen nötig“ (216f.). Wiederum ist es also nicht Adamczaks Strategie, sich entweder für die „universelle Maskulinisierung“ von 1917 oder die „differentielle Feminisierung“ von 1968 zu entscheiden, sondern sie in eine Synthese zu bringen um somit ihren Begriff der Beziehungsweise weiter zu entfalten. Entscheidend dafür ist, die falsche Freiheit des Neoliberalismus zu entlarven, in der – nach intensiven Kämpfen der feministischen und LGBTI*-Bewegungen – zwar eine Pluralisierung von Geschlechtsidentitäten und sexuellem Begehren möglich, dieses aber privatisiert, damit entpolitisiert und die gesellschaftlichen Bedingungen ihrer Erzeugung nicht in Frage gestellt werden.
Im dritten Teil versucht Adamczak zwischen Totalität und Singularität zu vermitteln um zur Relationalität, dem Denken in Beziehungsweisen zu gelangen. Daran anknüpfend polarisiert Adamczak die Revolution von 1917 als „gleichheitsorientiert“ und jene von 1968 als „freiheitsorientiert“ (255), was ich insgesamt für etwas zu holzschnittartig halte. Dahinter liegt der alte Gegensatz von Gesellschaft und Individuen, der jedoch schon vor hundert Jahren von kommunistischen Anarchist*innen als Scheinwiderspruch des liberalen, aber auch des marxistischen Denkens entlarvt wurde. Zum Beispiel formulierte Erich Mühsam in populärer Sprache: „Gemeinsame Verantwortlichkeit aller für alles, das ist der eigentliche Sinn des Kommunismus. Gemeinsame Verantwortlichkeit aller für alles bedeutet aber genau dasselbe wie Selbstverantwortlichkeit eines Jeden für das Ganze, und das ist der eigentliche Sinn des Anarchismus. […] Der kommunistische Anarchismus lehnt die Unterscheidung zwischen Gesellschaft und Persönlichkeit ab. Er betrachtet die Gesellschaft als Summe von Einzelmenschen und die Persönlichkeit als unlösbares Glied der Gesellschaft“. Mühsam richtet sich gegen den Marxismus, der Gleichheit nur in ökonomischen Kategorien fasst, will jedoch eine „Gleichheit, die auf Gegenseitigkeit in allen, nicht bloß den materiellen Dingen, und die auf dem Gefühl der verbundenen Verantwortung aller und der Selbstverantwortlichkeit jedes Einzelnen beruht“[16]. Gleichzeitig wendet er sich jedoch auch gegen den Liberalismus, welcher einzelne Menschen aus ihren sozialen Zusammenhängen herausreißt und ihre Beziehungen zerstört. Stattdessen sei eine „Untrennbarkeit eines Ganzen von seinen Gliedern, dieses Ineinander-Verstricktsein der Teile, deren jedes ein Organismus mit den Eigenschaften des Ganzen ist, dieses Miteinander- und Durcheinander-Bestehen des Einzelnen und des Gesamten […] das Merkmal des organischen Seins in der Welt und jeder Verbindung in der Natur. […] Der kommunistische Anarchismus will diese natürliche Verbindung von Persönlichkeit und Gesellschaft mit Gleichberechtigung, gegenseitiger Unterstützung und Selbstverantwortlichkeit aller Einzelnen im Bewußtsein der Gesamtverbindlichkeit und gemeinsamen Verantwortung fürs Ganze wieder zur Lebensform auch der Menschheit werden lassen. Dazu erforderlich ist aber die vollständige Neugestaltung der Organisationsgrundsätze im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verkehr“[17]. Damit könnte nun behauptet werden, die Paradoxie, welche Adamczak zu vermitteln versucht, sei offensichtlich schon vor langer Zeit gesehen und wie beispielsweise hier von Mühsam in einen „organischen“ Einklang gebracht worden. Das Problem an seiner Argumentation ist jedoch genau diese Vorstellung eines natürlichen Organismus‘ in dem Einzelne und „Menschheit“ wunderbar zusammenwirken könnten. Sowohl Marxist*innen als auch Liberale haben nicht lediglich „falsche Verständnisse“ vom Menschen, Freiheit oder Gleichheit, sondern entwickeln diese anhand der ihnen vorfindlichen gesellschaftlichen Verhältnisse. Zu unterstellen, deren Perspektive sei „künstlich“, weil Menschen nun einmal „natürlicherweise“ in Beziehungsgeflechten eingewoben seien, ist äußerst problematisch, da hierbei ein Naturzustand angenommen wird, zu welchem Menschen zurückgelangen könnten. Damit verkennt Mühsam, dass Bedürfnisse selbst durch gesellschaftliche Verhältnisse produziert werden und sich deswegen nicht lediglich durch die Veränderung der Perspektive auf sie umwälzen lassen. Beziehungsweisen hingegen sind konkrete und lassen sich wohl nicht in Verbundenheit mit der ganzen „Menschheit“ erfahren und gestalten. Wenn dies akzeptiert wird, kann das Konstrukt „Natur“ allerdings zugunsten von Vorstellungen gelingender Sozialbeziehungen, in denen Einzelne nicht unterdrückt werden und sich als Teil eines größeren Zusammenhangs sehen, aufgegeben werden. Diese sind aber nicht vorab zu bestimmen, sondern von den Beteiligten in ihren jeweiligen Beziehungen auszuhandeln und zu gestalten. Damit dies gelingen kann, ist allerdings das (in den westlichen kapitalistische Gesellschaften) hegemoniale liberale Verständnis vom Individuum zu überwinden. Aus diesem Grund entwickelt Adamczak einen theoretischen Ansatz, um Beziehungsweisen denkbar zu machen, welche nicht „natürlicherweise“ gegeben sind, sondern durch gesellschaftliche Verhältnisse hervorgebracht werden, allerdings in diesen auch gestaltet werden können. Beziehungsweisen sind keineswegs an sich „gut“, da Menschen schließlich immer in irgendwelchen Beziehungen stehen und sei es in Abhängigkeit, Ausbeutung, Unterdrückung usw.. Deswegen gilt es um Beziehungsweisen Kämpfe zu führen, was bedeutet, eine ethische Dimension in die politische Auseinandersetzung einzubringen. Der Begriff Solidarität ist nach Adamczak hierfür insbesondere geeignet, um einem Chiffre für verschiedene ethische Aspekte und Kriterien darzustellen. Sie nennt das eine „normative Orientierung“, die in den vorangegangen Revolutionen unterthematisiert worden sei (226). Weitergedacht könnten Adjektive wie gleichberechtigt, freiwillig, gegenseitig, wertschätzend, inspirierend, respektvoll oder achtsam gefunden werden, um aus emanzipatorischem Blickwinkel erstrebenswerter Beziehungsweisen zu thematisieren. An dieser Stelle ging es jedoch hauptsächlich um die Darstellung Adamczaks Umgang mit der Paradoxie.
Anarchistisches Denken in Paradoxien in der Adaption Adamczaks Verständnis von Beziehungsweisen
Wie in diesem überlangen Text deutlich geworden sein sollte, halte ich Adamczaks Verständnis von Beziehungsweisen und den Versuch ihrer theoretischen Erfassung für sehr gewinnbringend. Neben ihren interessanten Überlegungen zu einem aktualisierten und handhabbaren Verständnis von Revolution finde ich insbesondere die Weise ihres Denkens inspirierend, die ich als Denken in Paradoxien bezeichnen würde, ohne sie an diesem Punkt klar zu einem in Widersprüchen abgrenzen zu können. Intuitiv hielt ich ihre Perspektive für „anarchistisch“, musste dies aber relativieren und eingestehen, dass sich ihr paradoxales Denken aus verschiedenen Quellen speist. Ich schrieb davon, dass sich Denken in Paradoxien verschiedenen Herausforderungen zu stellen hat. Wenn diese nicht ernsthaft angegangen werden, bleibt es ein beliebiges Sowohl-als-auch oder werden sogar erst Gegensätze konstruiert, welche es anschließend scheinbar neuartig vermittelt werden sollen. Dabei wurde deutlich gemacht, dass es sich bei den ermittelten Widersprüchen – z.B. jenem von Gesellschaft und Individuum, dem einer kämpferischen Revolution und einer harmonischen Utopie, welche wiederum in sich selbst paradox sind – nicht um naturgesetzliche Erscheinungen handelt, sondern das sie aus widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnissen resultieren. Mit diesen Widersprüchen umzugehen, sie nicht einfach in eine Richtung auflösen oder auf herkömmliche marxistische Weise dialektisch vermitteln zu wollen, sondern sie stattdessen als vertrackte Paradoxien zu behandeln, steht in der Gefahr, die drängenden Probleme die sie aufwerfen zu relativieren und sich somit mit ihnen abzufinden. Andererseits stellt Adamczak ausführlich dar, weswegen bisher noch keine emanzipatorische Auflösung des Paradoxons „Revolution“ gelungen ist und zukünftig auch nicht einfach gelingen kann. Anstatt jedoch Revolution zu fetischisieren oder sie als unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen unmöglich zu verwerfen, widmet sich Adamczak genau der Frage, wie Revolution hier und heute sinnvoll gedacht werden kann. Anstatt die eigenen Inhalte hauptsächlich in Abgrenzung zum Feind, den Abwehrkämpfen gegen ihn und in der Negation des Bestehenden zu definieren, fragt sie meiner Ansicht nach indirekt danach, wofür links-emanzipatorische Politik heute überhaupt noch steht, auf welche ethischen Werte sie sich bezieht und ob der Anspruch, Gesellschaft grundlegend zu verändern nicht eigentlich schon völlig aufgegeben wurde.
An dieser Stelle kann ein anarchistisches Denken von Paradoxien ansetzen, dass einerseits kommunistisch im besten – beziehungsorientierten – Sinn wäre, andererseits jedoch zur Folge hätte, sich nicht innerhalb von linken Organisationen wie beispielsweise der Interventionistischen Linken zu organisieren, da diese tendenziell zentralistisch aufgestellt ist und als Vorhut der Linkspartei agiert. Anarchistische Gruppen sollten ihren Fokus auf die jeweilige Mikropolitik vor Ort mit den lokalen Akteuren und ihren selbst gewählten Themen richten – eben weil sie auf diese Weise an Beziehungen arbeiten, anstatt reine Symbolpolitik zu propagieren und Events zu hypen. Gleichzeitig ist es entscheidend, dass sie einen weiten Blick auf verschiedene Themen, Orte und Ansätze gewinnen und weiterentwickeln, anstatt in lokalen Szenesümpfen zu versacken. Ein Denken in Paradoxien bedeutet dabei einerseits von utopischen und revolutionären Floskeln abzurücken, dort, wo sie inhaltsleere und identitäre Behauptungen darstellen, andererseits konkrete Utopien neu zu thematisieren und ins Gespräch zu bringen – um die soziale Revolution aufrechtzuerhalten und weiterzuentwickeln. Überlegungen zu grundlegenden gesamtgesellschaftlichen Veränderungen finde ich deswegen nicht absurd, weil ich es im Vergleich dazu wesentlich befremdlicher finde, wenn sich Menschen als Anarchist*innen oder Linksradikale verstehen, aber nicht (mehr) an die Möglichkeit einer anderen Gesellschaft glauben sollten. Selbstverständlich wissen wir dabei um die Begrenztheit unserer Handlungsmöglichkeiten, der Widersprüche zwischen unseren eigenen Ansprüchen und dem, was wir dann tatsächlich verwirklichen (können). Um genau unseren jeweiligen politischen Tätigkeiten weiterhin reflektiert nachgehen zu können, kann es eine Hilfe sein, Widersprüche als Paradoxien zu betrachten. Weil es sich um gesellschaftliche Widersprüche handelt sind wir nicht für ihre Entstehung verantwortlich. Aber wir können uns in ihnen-und-gegen-sie bewegen und damit zu neuen Fragen gelangen.
Schließlich bedeutet Denken in Paradoxien in anarchistischer Hinsicht ebenfalls, Umgangsweisen mit verschiedenen (emanzipatorischen) Akteuren zu finden. Damit anarchistische Projekte mit anderen sozialistischen Gruppierungen produktiv und gleichberechtigt zusammenarbeiten können, brauchen sie ein Bewusstsein über ihre eigene Theorie, ihre eigene Geschichte, aber auch von ihren eigenen Widersprüchen. Ob es sich um die Spannungsfelder von Individualismus/Kollektivismus, Anarchopazifismus/Insurrektionalismus, Spiritualität/Atheismus, Primitivismus/Cyberanarchismus oder das Verständnis von Staat und Gesellschaft geht – in vielerlei Hinsicht gibt es sich teilweise widersprechende anarchistische Ansichten und Ansätze. Sie als Paradoxien zu betrachten, ermöglicht mit der Vielfalt einen produktiven Umgang zu finden, dem es gelingt einen echten Zusammenhalt zu schaffen anstatt die anderen nur jeweils machen zu lassen und sich ansonsten um seinen eigenen Kram zu kümmern. Denn immerhin handelt es sich um soziale Beziehungen, welche widersprüchlich, aber auch gestaltbar sind. Es handelt sich um verschiedene Weisen von Beziehungen – jene, in denen wir bereits stehen und an denen wir arbeiten sollten (auch wenn das oft anstrengend ist), sowie jene, zu denen wir hingelangen, die wir immer weiter stricken und ausbauen wollen, weil wir sie aus bestimmten ethischen Überlegungen für gut erachten. Dazu vielleicht an anderer Stelle mehr…
- [1] Einen Widerspruch zwischen der Revolution als Neugründung und ihrer Institutionalisierung sieht auch schon Hannah Arendt am Ende ihres Buches „On Revolution“ von 1963 (1990: 215-281).
- [2] Kinna, Ruth, Anarchism and the Politics of Utopia, in: L. Davis/Kinna, Ruth, Anarchism and Utopianism, Manchester 2009.
- [3] Selbstverständlich gibt es alle Nase lang Personen, die auftreten und behaupten, völlig neuartige Perspektiven entwickelt zu haben. Dies ergibt sich schon aus der Schnelllebigkeit unserer Epoche wie auch der umfassenden Verwertungslogik, welche darauf drängt, immer etwas Neues, Spektakuläres präsentieren zu müssen. Theoriebildung, die ihre Erkenntnisse aus sozialen Bewegungen gewinnt, sich in deren Dienst stellt und sich somit nicht nur verbal radikal äußern würde, geschieht jedoch höchst selten. Dass scheint mir nicht zuletzt auch der Fall zu sein, weil die Vorstellung des Sagbaren teilweise stark mit den eigenen Karriereambitionen verknüpft ist.
- [4] Hierbei möchte ich jedoch nicht einer falschen Trennung von Theorie und Praxis das Wort reden. Es geht in diesem Zusammenhang um eine schematisch Trennung, die zum Ziel hat, aufgelöst zu werden. Unter Theorie wird hier jede Form tiefergehender Reflexion über das eigene Handeln, soziale Positionen, Traditionen usw. verstanden und ist keineswegs nur in Bücherwissen zu finden.
- [5] Als Beispiele fallen mir ein Colin Ward, Murray Bookchin, Rolf Cantzen, David Graeber und Uri Gordon. Diese betreiben meiner Ansicht nach eigenständige anarchistische Theoriebildung, auch wenn ich darin bestimmt nicht alles teile.
- [6] Im Übrigen bezieht sich Adamczak ja keineswegs nur auf Anarchist*innen, sondern beispielsweise auf die Feministin und Kommunistin Alexandra Kollontai, dem häretischen Kommunisten Karl Korsch, auf die Kritische Theorie, den Poststrukturalismus‘ und feministischen Theoretikerinnen wie Silvia Federici. An dieser Stelle frage ich jedoch nach ihrer Bezugnahme auf den Anarchismus unter der Annahme, das dies für eine gezielte Erweiterung der auf dieser Ebene diskutierbaren Strömungen steht.
- [7] Dass ich Unterstellung der Fokussierung Bakunins allein auf Zerstörung des Bestehenden (46) nicht vollständig teile, habe ich im vorherigen Text bereits dargelegt. Einer Kritik an Netschajew (24), welcher in seinem Revolutionären Katechismus schon Vorstellungen von Disziplin, Gehorsam, Verschwörung und Aufopferung formulierte, auf die sich auch die bolschewistische Partei gründete und welche damit einem fetischisierten Begehren nach Revolution statt eines revolutionären Begehrens entsprechen ist meiner Ansicht nach nichts hinzuzufügen. Inwiefern die Bezugnahme auf Landauers bekannte Aussage den Staat als Verhältnis zu begreifen (275) eher einer populären Tendenz folgt als eine tiefere Auseinandersetzung mit dessen Schriften darzustellen, kann ich nicht beurteilen. Im vorliegenden Zusammenhang scheint sie mir geeignet, aber kein Beleg für eine wirkliche Adaption anarchistischen Denkens durch Adamczak zu sein.
- [8] Ein anderer Strang Beziehungsdenken zu thematisieren findet sich allerdings auch bei Landauer und daran anknüpfend bei Buber, Martin, Pfade in Utopia, Heidelberg 1950, S. 217-233.
- [9] siehe z.B. auch: Graeber, David, There was never a west: or, democracy emerges from the spaces in between, in: Ders., Possibilities. Essays on Hierarchy, Rebellion, and Desire, Oakland/Edinburgh 2007, S. 329-374.
und: Lamborn, Peter Wilson, Piraten, Anarchisten, Utopisten. Mit ihnen ist kein Staat zu machen, Berlin 2009. - [10] Die anderen beiden Varianten des Umgangs einer solchen verstörenden Veränderung der sozialen Position sind:
1. Nach „innen“ gerichtet = Szene und/oder politische Subjektivität als Schutzraum und Hort der Wahrheit. Die Welt außerhalb erscheint vorrangig falsch und bösartig. Daher die problematische Vorstellung, Herrschaftsverhältnisse aus bestimmten Räumen einfach heraushalten zu können sowie der Ansatz, Nicht-Eingeweihten den eigenen Willen aufzwingen zu wollen und harte moralische Maßstäbe anzulegen.
2. Überanpassung und konformistische Revolte: Weil man sich selbst als unpassend empfindet und dadurch viel Leid erfahren hat, identifiziert man sich mit dem/der Unterdrücker*in und gibt sich als besonders loyale*r Untertan*in, welche*r die herrschenden Normen und Prinzipien auch mit Gewalt zu verteidigen bereit ist. Dies betrifft nicht nur Einzelne, sondern auch ganze Gruppen, z.B. auch Migrant*innen früherer Generation die sich rassistisch gegen neue Migrant*innen wenden, anstatt sich mit diesen verwandt zu fühlen und zusammen zu schließen.
Beides ist ein Hinweis darauf, dass Anti-Autoritarismus als Reaktion auf Herrschaft strukturell in der Gefahr steht, in Autoritarismus umzuschlagen. Eben deswegen ist es so wichtig, über Herrschaftsverhältnisse und die eigene Verwobenheit darin nachzudenken um einem nicht-erzwingenden Umgang mit sich selbst und anderen zu erlernen. - [11] Zum Versuch einer Konzeption über die Gleichzeitigkeit von Ordnung und Unordnung des Anarchismus siehe: Loick, Daniel, Anarchismus zur Einführung, 2017, S. 212-221.
- [12] May, Todd, The Political Philosophy of Poststructuralist Anarchism, Pennsylvania 1994.
- [13] Siehe z.B. Mümken, Jürgen, Freiheit, Individualität, Subjektivität, Frankfurt a.M. 2003; Kuhn, Gabriel, Tier-Werden, Schwarz-Werden, Frau-Werden. Eine Einführung in die politische Philosophie des Poststrukturalismus, Münster 2005; Newman, Saul, The Politics of Postanarchism, Edinburgh 2010.
- [14] Siehe z.B. Kropotkin, Peter, Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten, Aschaffenburg 2013, S. 34-46; Mühsam, Erich, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus?, in: Schwiewe, Jürgen/ Maußner, Hanne (Hrsg.), Erich Mühsam. Trotz allem Mensch sein. Gedichte und Aufsätze, Stuttgart 2009, S. 129f.; Kuhn, Gabriel, Jenseits von Staat und Individuum. Individualität und autonome Politik, Münster 2007, S. 89ff..
- [15] Wie schon angedeutet verstehe ich das politische Label hier nicht identitär oder gar als Qualitätsmerkmal. Letztendlich kommt es darauf an, was und wie Menschen denken und handeln und nicht welches Label sie tragen, auch wenn dies ein notwendiges Erkennungszeichen sein kann. Das sollte sich von selbst verstehen und jede für sich selbst entscheiden. Selbstverständlich gibt es auch Anarchist*innen deren Ansichten ich nicht teile, die ich problematisch oder einfach unsympathisch finde, wie auch Kommunist*innen mit denen ich gut zusammenarbeiten oder befreundet sein kann. Die abgrenzende Bezeichnung geschieht hier um eine Diskussion zu ermöglichen, in welcher es allerdings auch um die Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Standpunkten zu ihrer Herausarbeitung geht.
- [16] Mühsam, Erich, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus?, in: Schwiewe, Jürgen/ Maußner, Hanne (Hrsg.), Erich Mühsam. Trotz allem Mensch sein. Gedichte und Aufsätze, Stuttgart 2009, S. 129f.
- [17] Mühsam, Erich, Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus?, in: Schwiewe, Jürgen/ Maußner, Hanne (Hrsg.), Erich Mühsam. Trotz allem Mensch sein. Gedichte und Aufsätze, Stuttgart 2009, S. 132.