Man kann und sollte sich vortrefflich über theoretische Probleme streiten. Nur die Auseinandersetzung über die schwierigen Herausforderungen für emanzipatorische Projekte in unserer Zeit, kann uns weiterbringen. Die betrifft Fragen der Organisation, der Aktion, von Strategien, danach, was überhaupt Herrschaft ist, was Staat, Kapitalismus und Patriarchat sind, was Subjekte sind, wie mit dem Unbehagen mit der Politik umzugehen ist und so weiter. Also, ganz ehrlich: Darüber streite ich mich sehr gerne, weil ich den Streit notwendig finde. Unter Anarchist*innen, wie unter sonstigen Leuten, mit denen wir Schnittpunkte haben. Zweifellos ist es auch so, dass es in verschiedenen Traditionen teilweise äußerst unterschiedliche Grundannahmen gibt.
Wenn in z.B. in der Kritischen Theorie angenommen wird, dass uns jegliche emanzipatorische Praxis verstellt ist und es deswegen eine rein negative Kritik und Anti-Praktiken geben sollte, so erscheint dies aus anarchistischer Sicht, als eine lächerliche Ansicht, die aus einem falschen Verständnis von Totalität und einem allzudeutschen Perfektions- und Reinheitsgedanken hervorgeht. Sie trifft selbstverständlich einen ernstzunehmenden Punkt, wenn mit ihr darauf hingewiesen wird, dass keine Praktik als per se emanzipierend und richtig angesehen werden kann und dass man sich nicht in die Hybris begeben darf, Menschen zwangsbeglücken zu wollen. Darin zum Beispiel ist die Kritische Theorie wichtig. Was sie gleichwohl nicht davon befreit, selbst völlig konformistisch und affirmativ zu werden. (Dazu kann man sich zum Beispiel das überaus lächerliche Buch Die Idee des Sozialismus von Axel Honneth (2015) anschauen.)
Offenbar in Folge meiner Anregung zu einer KANTINE KROPOTKIN im letzten Jahr hat sich die Orga-Gruppe des in Chemnitz stattfindenden Theorie-Festivals entschieden, sich in ihrer sechsten Aulage mit dem Anarchismus zu beschäftigen.
Die autodidaktischen Intellektuellen sind teilweise in der Kritischen Theorie, in jedem Fall im marxistischen Denken beheimatet. Wünschenswert ist daher, dass die Beschäftigung mit dem Anarchismus so respektvoll, vorurteilsfrei und informiert wie möglich geschieht. Und dies insbesondere, wenn es nicht primär darum gehen soll, ein anachronistisches und weltfremdes Anarchismus-Verständnis zu perpetuieren, sondern eine Aktualisierung anarchistischen Denkens zu wagen. Dafür braucht es Theoretiker*innen, die sich auch als Anarchist*innen begreifen und positionieren. Und es braucht viele Mitdenkende, die ihre eigenen Erfahrungen und das Wissen aus sozialen Bewegungen in den Diskussionsprozess beisteuern. Insofern wünsche ich mir, dass außer mir weitere anarchistische Personen teilnehmen und die Debatte suchen.
Thesen zum affirmativen Charakter der Kritischen Theorie und dem Konformismus der Linken
Ich kann es nicht anders ausdrücken: Endlich denkt mal wieder jemand. Hendrik Wallat, dessen Buch Fundamente der Subversion. Über die Grundlagen materialistischer Herrschaftskritik (2015) ich schon sehr begeistert gelesen habe, hat schon letzten September eine Intervention in zeitgenössische Debatten verfasst, welche ich unbedingt weiter empfehlen kann. Es wirkt, als würde der Autor selbst mit der Verzweiflung über die erschreckende Verblödung seiner Zeitgenoss*innen ringen, welche fälschlicherweise glauben zu denken, wenn sie denken.
Das differenzierte Denken Wallats führt ihn zu plausiblen Positionierungen, welche sich offenbar mittlerweile kaum mehr jemand traut einzunehmen. So gilt es die Tatsache auszusprechen, dass mittels der Pandemie-Regulierung ein neuer und tiefgreifender Zugriff auf staatsbürgerliche Subjekte erfolgte und damit Teile der Linken zum Konformismus getrieben wurden – und dies mit der Annahme, jeglichen Protest und sogar Klassenkämpfe im eigentlichen, unregulierten Sinne, als „konformistische Revolte“ abtun zu können.
Zwei Punkte gibt es, an denen ich dem Autoren widersprechen: Zum Einen würde ich trotzdem das russische Regime als faschistischbezeichnen. Dies ist keine unzulässige Gleichsetzung mit dem deutschen Nationalsozialismus, sondern eine ideengeschichtliche Verortung der ideologischen Tradition und Klassifizierung verschiedener Herrschaftstypen. – Dahingehend verwenden wir leicht unterschiedliche Begriffe, über die es sich zu streiten gilt.
Zweiten kann und will ich mich nicht mit der „negationistischen Anti-Macht“ zufrieden geben, welche Wallat als emanzipatorische, aber im Grunde genommen unmögliche, Position markiert. Ich kann seine Argumentation absolut nachvollziehen. Stattdessen meine ich, dass wir es uns nicht mehr leisten können in der Negation zu verharren, sondern uns (zunächst gedanklich) am Meta-Narrativ des libertären Sozialismus orientieren sollten – nicht als intellektuelle Kopfgeburt oder strategisches Möchtegern-Konzept ohne reale Basis, sondern aus Diskussionsprozessen und Erfahrungen in sozialen Bewegungen hervorgehend.
Dennoch kann ich den Text nur wärmstens empfehlen. Vielleicht lässt sich Hendrik Wallat ja auch einladen, von seinem Linkssein Abstand zu nehmen und anarchistisch zu werden. Dazu hätte er jedenfalls allen Grund. Unten folgen noch einige Zitate als mein Best-Off aus der Schrift
Auf theorieblog.de wurde ein weiterer Beitrag von mir als Antwort auf den Call for Papers zu „Souveränität“ veröffentlicht. Vor zwei Jahren schrieb ich dort bereits zu Soziale Revolution als radikale und umfassende Gesellschaftstransformation. Das vorgegebene Format des Blogs verlangte eine Überarbeitung des Beitrages und führte zu einigen Änderungen, die ich selbst nicht vorgenommen hätte. Trotzdem bedanke ich mich für die hilfreichen Änderungsvorschläge der Redakteur*innen.
von wikimedia commons
Während Marx eine Kritik der politischen Ökonomie hervorbrachte, entwickelten anarchistische Denker*innen eine Kritik der Form, die Politik in spezifischen Herrschaftsordnungen annimmt, als einen wesentlichen Ankerpunkt ihrer Gesellschaftstheorie. Ideengeschichtlich betrachtet entsteht der neuzeitliche, europäische Anarchismus als Hauptströmung im Sozialismus in jener Phase, als der Sozialismus als Graswurzelbewegung politisiert wurde. In Abgrenzung zum sozialdemokratischen Weg der politischen Reformen und dem parteikommunistischen Konzept der politischen Revolution wurden im Anarchismus die mutualistische Selbstorganisation, die Revolte, die Begleitung außerparlamentarischer Bewegungen, sowie die soziale Revolution als Transformationsstrategien entwickelt.
In diesem Beitrag wird ein wesentlicher Aspekt der anarchistischen Kritik der Politik dargestellt, die sich in ihrem Kern an der Anmaßung, Legitimierung und Durchsetzung der Souveränität des Staates festmachen lässt. Dem entgegengestellt werden andere gesellschaftliche Sphären, in welchen (auf bestimmte Weise und mit bestimmten Zielsetzungen) Souveränität erlangt werden soll. Ich werde im Folgenden zeigen, inwiefern die anarchistische Hoffnung darin besteht, der politischen Herrschaft zu entkommen und Alternativen zu ihr aufzubauen.
Die anarchistische Kritik der herrschaftsförmigen Politik
Exemplarisch findet die anarchistische Kritik herrschaftsförmiger Politik Ausdruck in dem Gründungsdokument der Anti-Autoritären Internationale, dem von 150 Jahren geschlossenen „Pakt von Saint-Imier“ gegen die Politisierung des Sozialismus. Ohne dass das dahinterliegende Politikverständnis einfach ahistorisch und kontextlos auf heute übertragen werden könnte, ist interessant, dass Anarchist*innen ursprünglich keine sozialistische, demokratische, gerechte, bessere oder linke Politik hervorbringen wollen, sondern stattdessen von einem Unbehagen mit der Politik der Gegenwartsgesellschaft umgetrieben werden.
Aus anarchistischer Perspektive ist Politik nicht gleich staatlich. Jedoch werden politische Aktivitäten meistens vom Staat vereinnahmt und dem Staat zugeordnet. In der Konsequenz formiert sich Staatlichkeit – über das staatliche Institutionenset hinaus – als politisches Herrschaftsverhältnis, welches vermittels Politik in alle gesellschaftlichen Sphären hineingetragen wird. Staatlichkeit kann dabei als autoritäres, zentralisierendes und hierarchisierendes Prinzip verstanden werden, welches durch legislative, juridische, bürokratische, ideologische und gewaltsame Instrumente und Verfahren gegen selbstorganisierte Gemeinschaftsformen, selbstverwaltete Wirtschaftsformen und sich selbst bestimmende Einzelne durchgesetzt wird.
Staatliche und anarchistische Souveränitäten
Mit staatlicher Souveränität wird der Anspruch und die Legitimation begründet, Menschen zu regieren und potenziell alle gesellschaftlichen Bereiche nach den Zwecken der privilegierten Klassen und nach den Plänen ihrer Verwalter zu regulieren. Daraus können äußerst unterschiedliche Herrschaftsordnungen hervorgehen, zwischen denen es unbedingt zu differenzieren gilt. Insbesondere der moderne Staat ist weit mehr als rohe Gewalt. Demokratische Herrschaft wird faktisch von zahlreichen ihrer (inkludierten) Bürger*innen getragen – was sich nicht allein mit ideologischer Manipulation oder materieller Befriedung begründen lässt, sondern einer aktiven und reflektierten Zustimmung bedarf. In Bezug auf dieses Thema variieren die Beiträge der anarchistischen Theorie stark. Dennoch wird von Anarchist*innen die Souveränität der staatlichen Herrschaft in ihrem Kern dafür kritisiert genau dies zu sein: Krátos oder Potestas – die willkürliche Autoritätsanmaßung der Stärkeren, wie institutionalisiert, legitimiert, historisch andauernd und mitgetragen sie auch sein mag.
Demgegenüber kann eine anarchistische Konzeption von Souveränität ins Spiel gebracht werden. Im Anarchismus beschreibt sie die Organisation von Autonomie als kollektiver Selbstorganisation und -verwaltung, die mit individueller Selbstbestimmung und -entfaltung verknüpft ist. Diese Vorstellung bildet damit einen Gegensatz zu „Staatsmenschen und Staatsmaschinen“. Um das anarchistische Denken zu verstehen, ist die Annahme, dass parallel zu den dominanten Herrschaftsverhältnissen erstrebenswerte gesellschaftliche Verhältnisse bestehen, entscheidend. Neben dem Kapitalismus ist eine dezentrale sozialistische Wirtschaftsweise angelegt, neben dem Patriarchat ein egalitäres Geschlechterverhältnis und parallel zur Naturbeherrschung ein konviviales gesellschaftliches Naturverhältnis. Gegen und jenseits des politischen Herrschaftsverhältnisses Staat ließe sich eine Föderation autonomer Kommunen, die dezentral und freiwillig angelegt sind, vorstellen – und organisieren. Munizipalistische und kommunalistische Bewegungen heute bringen auch ganz aktuell derartige Parallelstrukturen populärer Gegen-Macht („Dual Power“) hervor. Inwiefern oder ab welchem Grad der Institutionalisierung sich solche Formen der Selbstorganisation in größerem Maßstab wiederum zu politischer Herrschaft verfestigen, ist dabei ein Frage, die innerhalb des Anarchismus kontinuierlich umstritten ist. Jene kommt freilich erst dort auf, wo der Einfluss staatlicher Souveränität gezielt verlassen wird.
Auf der Suche nach einem anarchistischen Politikbegriff
Mit der anarchistischen Kritik der Politik im Hintergrund lassen sich verschiedene Wege gehen, um einen anarchistischen Umgang mit Politik zu finden. Diese gibt es in allen Varianten des mutualistischen, individualistischen, kommunistischen, insurrektionalistischen, syndikalistischen und kommunitären Anarchismus. Zunächst wäre da die Indifferenz gegenüber herrschaftsförmiger Politik im Allgemeinen zu nennen. Henry-David Thoreau kann hier als ein paradigmatischer Vordenker genannt werden, durch welchen gewaltfreier, passiver Widerstand inspiriert wurde. Weiterhin kann eine Wiederaneignung der Politik angestrebt werden, die mit einer Neudefinierung des Politikbegriffs einhergeht. Damit soll Politik „entstaatlicht“ werden, wie Rolf Cantzen es bezeichnet.
Drittens gibt es eine dezidierte Kritik der Politik, im anarchistischen Individualismus bspw. ausgehend von Max Stirner, im Mutualismus bei Pierre-Joseph Proudhon, im Kommunismus z.B. bei Johann Most, im Insurrektionalismus bei Luigi Galleani, im Syndikalismus archetypisch bei Émile Pouget und im kommunitärenAnarchismus bei Gustav Landauer. Diese Positionen sind deswegen relevant, weil mit ihnen – trotz ihrer Unterschiedlichkeit und scheinbaren Widersprüchlichkeit – ein gemeinsamer Nenner in den verschiedenen anarchistischen Tendenzen nachgezeichnet werden kann: Es handelt sich um ein Streben nach Autonomie. Mit unterschiedlichen Strategien werden Herrschaftsverhältnisse dabei verlassen, während zugleich Alternativen zu ihnen gesucht und entwickelt werden. Eric Olin Wright beschreibt dies mit dem Überbegriff der „Freiraumstrategien“.
Vor allem aus der grundlegenden Kritik lässt sich ein spezifischer anarchistischer Politikbegriff entfalten, der zum Verständnis des Anarchismus insgesamt beiträgt und ermöglicht, die staatliche Souveränität umfassend und grundlegend zu kritisieren, um gleichwohl Alternativen zu ihr aufzuzeigen. George Sorel taugt trotz seiner problematischen Aspekte mit seiner Logik der Zuspitzung – mit welcher er bspw. den Klassenkampf als Selbstzweck fetischisiert statt ihn als Strategie zu behandeln – zur Erarbeitung einer solchen Perspektive. Sie wird hier nicht als Wahrheit, sondern als Diskussionsangebot formuliert. Mit ihr lässt sich der anarchistische Politikbegriff charakterisieren als (a) gouvernemental, insofern Politik auf das Regieren bezogen wird. Er ist (b) negativ-normativ, das bedeutet, es wird bezweifelt, dass Politik der Einrichtung und Aufrechterhaltung einer „guten Ordnung“ dient, sondern davon ausgegangen, dass sie maßgeblich im Dienst einer spezifischen Herrschaftsordnung steht.
Der von mir verwendete anarchistische Politikbegriff ist (c) konfliktorientiert und verweist darauf, dass das politische Feld hegemonial geprägt ist und die Machtressourcen der politischen Akteur*innen enorm ungleich sind. Schließlich charakterisiere ich ihn als (d) ultra-realistisch, womit gesagt wird: Politik ist selbstredend nicht nur die nackte Gewalt und Setzung der Souveränität, sondern umfasst viel mehr. Aber: Mit Carl Schmitt und Giorgio Agamben (als dessen Negativfolie) gilt es sich bewusst zu machen, dass am Ursprung staatlicher Souveränität tatsächlich nichts weiter als der Wille zur Herrschaft, die Anmaßung des Regierens über Menschen und deren praktische Unterwerfung steht – und staatliche Souveränität zudem durch derartige Akte erneuert wird, wenn sie durch innere Widersprüche und ihre radikale Anfechtung in die Krise gerät.
Gegenpole der staatlichen Souveränität
Meines Erachtens eignen sich diese Überlegungen, um echte Alternativen sowohl zum liberal-demokratischen als auch zum marxistischen politischen Denken aufzuzeigen. In diesen politischen Theorien wird das Politische in einem kontinuierlichen Spannungsfeld zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ verortet. Daraus geht eine relative Autonomie des Staates hervor, welche – je nach Interpretation – durch Technokratie, kapitalistische Warenform, Populismus, Nationalismus, Faschismus oder autoritärem Kommunismus angefochten werde. Damit lässt sich die hochgradige Umkämpftheit des Politischen in der liberal-demokratischen Gesellschaft des kapitalistischen Staates erklären. Undenkbar ist es in diesem Rahmen jedoch, eine Politik gegen und jenseits des Staates zu formulieren, die seine Souveränitätsansprüche und deren Legitimierung tatsächlich überschreitet.
Erst durch die anarchistische Kritik der Politik kann das qualitativ Andere von Staatlichkeit gedacht und – als immer schon immanent vorhanden – entdeckt werden. Bezugspunkte dafür können dabei in den Individuen, dem Sozialen, der Gesellschaft, einer Projektion ultimativer Freiheit, in der Ökonomie und der Gemeinschaft gesucht werden. Sie entsprechen dabei den verschiedenen Tendenzen des Anarchismus. Darüber hinaus können anti-politischen Bezugspunkte quer zu diesen Strömungen in der Kultur, der Ethik und der Utopie gesehen werden.
Wenngleich es sich bei der Entdeckung dieser Sphären stets um unabgeschlossene und widersprüchliche Suchbewegungen handelt, eröffnen sich damit gewissermaßen ganze Welten, die in herkömmlichen Politikverständnissen nicht erfasst werden. Sie führen nicht zu einer apolitischen oder unpolitischen, sondern zu einer komplexen und paradoxen (anti-)politischen Einstellung. Es geht mit diesem Ansatz nicht darum, in der Politik auf den Großteil der z.B. von Jason Brennan als unwissend, desinteressiert oder fanatisch angesehenen Menschen, zu verzichten. Vielmehr sollen diese sich ihre Souveränität jenseits und gegen den Staat zurückerobern und selbst ermächtigen.
Weitergedacht überrascht es auch nicht, dass Anarchist*innen mit den Sphären, die der politischen Herrschaft des Staates entgegengesetzt werden, auch Souveränitäten ausmachen, die es egalitär, libertär und solidarisch auszugestalten gilt. Mit anderen Worten: Reichsbürger*innen, völkische Siedler*innen, Esoteriker*innen oder fanatische Religionsanhänger*innen mögen ebenfalls auf den ersten Blick aus der bestehenden Herrschaftsordnung austreten, entsprechen aber mitnichten anarchistischen Vorstellungen. Ebenfalls „herrscht“ in der Regel auch in sogenannten „failed states“ oder in Slums keine „Anarchie“ – sondern werden diese in der Regel von Warlords oder Mafiakartellen regiert, die formeller Staatlichkeit oftmals weit näher stehen, als gemeinhin angenommen wird.
So sind es die souveränen Einzelnen, die sich nicht beherrschen lassen, weil sie in der Lage sind, sich selbst zu bestimmen und verantwortlich zu handeln. Bezug genommen wird auf selbstorganisierte Nachbarschaften und communities, deren Angehörige sich selbst organisieren können. Aus „der“ Gesellschaft geht keineswegs organisch oder automatisch eine Alternative zur staatlichen Souveränität hervor, ist die „Zivilgesellschaft“ doch vor allem als Ausweitung von Staatlichkeit zu kritisieren. Dennoch dient dieser Metabegriff dazu, eine grundsätzliche Entfremdung von verstaatlichter Politik gegenüber der Bevölkerung zu markieren und auf eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform jenseits staatlicher Herrschaft als Ganzes zu rekurrieren.
Ein häufig romantisiertes Verständnis ultimativer „Freiheit“ zielt zwar auf ein faktisch nicht vorhandenes ideales Außerhalb von totalisierender Herrschaft ab. Dennoch wird mit ihm darauf insistiert, dass jegliche Herrschaft einem selbstbestimmten Leben entgegensteht. Sich entlang der Klassenspaltung zu organisieren und ökonomische Kämpfe hervorzubringen führt zum souveränen Selbstbewusstsein autonomerBasisgewerkschaften. Und schließlich setzt das „Neue Beginnen“ in alternativen Gemeinschaften die Souveränität voraus, sich bewusst von der Mehrheitsgesellschaft abzugrenzen.
Es kommt mir vor als würde ich auf den letzten Metern aus einem langen Winterschlaf erwachen. Der Frühling kommt, die Welt steht in Flammen und ich pfeife auf meinem Fahrrad auf dem Weg zur Bibliothek. Das müssen die Hormone sein. Täglich vernichtet die von Menschen gemachte mehr oder weniger anonyme, doch sehr konkret spürbare Herrschaftsordnung das Leben auf diesem einzigartigen Planeten. Ich denke an einen Menschen, den ich wohl etwas begehre – aber ich weiß noch nicht wie, warum, wozu – und freue mich, solches Begehren überhaupt noch oder wieder empfinden zu können.
Derweil zerfetzen Projektile Leiber in der Ukraine und explodieren Raketen in Wohnhäusern, Krankenhäusern und Einkaufszentren. Nicht so weit weg. Nicht so weit weg von mir. Doch das waren Syrien und Afghanistan auch nie. Eben mal wird die Militarisierung der deutschen Gesellschaft postdemokratisch beschlossen und durchgewunken. Die Stimmung ist gut um den Nationalstaat zu erneuern. Die Leute besoffen vor humanistischem Geseiere und Hilfsbereitschaft in Fahnenmeeren – als Kompensation der Leidenschaften, welche die Politik der Angst in ihnen einpflanzt und auslöst. Im Herzen der Bestie Kratos steht der Militärapparat und pure Gewalt zerschmettert das nackte Leben. Darin gleichen, ergänzen und stützen sich Staat, Kapitalismus und Patriarchat: Dass sie Leben verdinglichen, bewerten, hierarchisch anordnen und im Zweifelsfall vernichten können.
Was ist denn los? Wie kann die Sonne nur wieder so wunderbar scheinen? Ich bin ein Kind dieser Welt und die Hälfte meines kurzen Lebens, dieses chaotisch-träumerisch-sensiblen Windhauchs, ist bereits vorbei – wenn ich Glück habe. Und das habe ich. Denn ich lebe im privilegierten Teil dieser Welt und habe lange Zeit eigene Strategien gefunden, mich so gut es ging den Zumutungen dieser grausamen Realität aus Lohnarbeit, Unterwerfung und Schlachterei zu entziehen. Ich kenne Menschen, die darauf verweisen, dass es Entwicklungen zum Positiven hin gibt. Und das schätze ich, weil es in unserem Potenzial liegt die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern. Um die Enteignung und Vergesellschaftung des Reichtums werden wir dabei aber nicht herum kommen. Wie zu allen Herrschaftszeiten erzürnt dies das progressive Bürgertum in seinen moralisch aufgeladenen Debatten um die Weltverbesserung.