Tinder: Dating-Plattformen und ihr Versprechen

Lesedauer: 8 Minuten

zuerst veröffentlicht auf: untergrundblättle.ch

Direkt neben meinem Haus stiess ich zuerst darauf. Die Unternehmen „Match Group“, welche mindestens 23 Single-Börsen-Datingplattformen betreibt, hatte eine Werbeoffensive für ihr vermutlich bekanntestes Produkt „tinder“ gestartet. Neben verschiedenen Sprüchen, mit welchen etwas holprig offenbar regionale Bezüge geschaffen werden sollten, las ich auf einem der rosa-farbenen Plakate auch: „2020 schuldet dir was“. Dass die Firma, jetzt, wo der Frühling beginnt, Erfolge für ihr Geschäftsmodell verspricht, liegt auf der Hand. Denn sicherlich haben viele Leute arge soziale und sexuelle Defizite, welche sich durch die Pandemie-bedingte Rückgezogenheit vieler in der Masse betrachtet vermutlich sehr verstärkte.

Die Einsamkeit, welche in der staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsform mit ihrer Pseudo-Individualisierung und ihrer Sinnentleertheit, ja ohnehin fast alle Menschen betrifft, soll mit menschlicher Nähe kompensiert werden. Das ist nachvollziehbar, denn hierbei geht es um reale soziale und sexuelle Bedürfnisse. Wer sie beispielsweise während des letzten pandemischen Jahres nicht stillen konnte, wird umso mehr darauf gestossen sein, was ihr oder ihm alles fehlt – und wie schmerzlich das ist, wenn es sich aufgrund der allgemeinen Einschränkungen nur schwer anderweitig kompensieren lässt. Dass soziale und sexuelle Bedürfnisse gleichwohl immer auch gesellschaftlich gerahmt und die Vorstellungen und Möglichkeiten ihrer Erfüllung gesellschaftlich bedingt sind – darüber liesse sich viel erzählen.

Ohne Schulden kein Mangel, keine Sehnsucht, kein Markt

Was mich am Werbespruch jedoch eher irritierte, war der Aspekt der Schuld. Die Haltung, dass ein bestimmtes Jahr oder gar das Leben selbst jemanden etwas schuldig wäre, ist der Ausdruck für die kapitalistisch verstümmelte Subjektivität in der bestehenden Gesellschaftsform par excellence. Sie geht von einer Rechnung aus, die irgendwer vermeintlich mit „dem“ Leben abgeschlossen hätte. Im Endeffekt handelt es sich aber um den Arbeitsvertrag, die Bedingungen und die Bezahlung der Lohnarbeit – und das damit verbundene Selbstwertgefühl von Individuen, die kaum umhin kommen, sich an der sozialen Hierarchie zu orientieren, welche vornehmlich durch die Verfügung über Privateigentum beziehungsweise vergütete Arbeitsleistung definiert ist.

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poetische Urlaubsergüsse #1

Lesedauer: 4 Minuten

Ohne Urlaub wäre die Arbeit nur halb so schön! Ohne Urlaub für die mittleren Klassen würde der Kapitalismus zusammen brechen. Daher stand es im Corona-Sommer nicht wirklich zur Debatte, ob er gewährt werden kann, sondern nur wie. Urlaub oder Revolte hieß es. Dies war Anlass für mich genug, mal seit Jahren wieder zu versuchen, dem Geheimnis jenes Konsumguts auf meine deklassierte, bescheidene Weise, auf die Spur zu kommen. Dabei habe ich wohl einige weitere Gehirnzellen verloren, jedoch eine Erfahrung gewonnen. Um die volle Urlaubserfahrung zu genießen, wollte ich mich allerdings weniger mit der Fremde auseinandersetzen, sondern sie lediglich für meine eigene Regeneration und Inspiration konsumieren – wie man das halt so macht. Dazu gehört dann selbstverständlich auch deren Darstellung, der Bericht vom Erlebten. Herausgekommen sind unter anderem folgende Textfragmente.

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Piratinnen-Abenteuer auf feministisch

Lesedauer: 4 Minuten

Rezension zu Die Irrfahrten der Anne Bonnie von Koschka Linkerhand (Querverlag 2018)

zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #104, September 2019

von Simone

Als „Coming-of-Age-Geschichte“, als „Jugendroman“, bezeichnet die Leipziger Autorin Koschka Linkerhand ihren im letzten September erschienenen Roman Die Irrfahrten der Anne Bonnie, der schon einige Jahre zuvor die Grundlage für ein Theaterstück war. Das Setting ist das sogenannte „Goldene Zeitalter“ der Pirat*innen in der Karibik, wie es in der teils historisch fundierten, vor allem aber mythisch umwobenen Piratenlegende (offiziell) von Daniel Defoe im Buch A General History of the Pyrates (1724) bezeichnet worden war. Als Protagonist*innen dienen die Figuren der sich selbst suchenden Anne Bonnie, der mutigen, zwiespältigen Mary Reed und dem Captain „Calico“ Jack Reckham.

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Das rebellische Subjekt

Lesedauer: 10 Minuten

Originaltitel: Praktiken des Austretens und gemeinsamer autonomer Lebensgestaltung statt anarchistischer Gesellschaftsentwürfe und Programme

– wichtige Aspekte von Postanarchism (Saul Newman, 2016)

zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #92, August 2018

von Jonathan Eibisch

Der seit 2006 an einer Londoner Uni angestellte Professor der Politischen Theorie dürfte manchen Leser*innen ein Begriff sein. Immerhin prägte Newman stark den Begriff des „Postanarchismus“ mit seiner Arbeit From Bakunin to Lacan. Anti-Authoritarianism and the Dislocation of Power (2001), über Max Stirner (2011), wie auch mit dem äußerst inspirierenden anarchistischen politischen Theorie in The Politics of Postanarchism (2010). In Letzterem stellt er die interessante These auf, dass sich der klassische Anarchismus mit seiner Betonung von Ethik und Utopie bewusst nicht politisch organisiert und orientiert hätte, während der Postanarchismus darauf abziele, in das unauflösliche Spannungsfeld zwischen dieser Anti-Politik und dennoch notwendiger Politik hineinzugehen um neue Politiken der Autonomie zu entwickeln. Newman hatte 2010 geschrieben, Postanarchismus sei keine spezifische Form oder Strömung des Anarchismus mit neuen Programmen oder Richtlinien. Noch nicht einmal sei er eine bestimmte politische Theorie, sondern ein Projekt um die anarchistische Politik zu erneuern und zu radikalisieren. Dies sollte vor allem durch die Dekonstruktion verschiedener problematischer Annahmen im klassischen (= modernen) Anarchismus geschehen.1 Beispielsweise sei „Gesellschaft“ keine natürliche oder gar organische Form des Zusammenlebens, welche dem künstlichen Staat entgegen gesetzt werden könne. Zu problematisieren sind so auch weitere Annahmen der Aufklärung wie das teleologische Geschichtsbild, die (bürgerliche) Vorstellung des „autonomen“ Subjektes oder auch die Universalität von Moral und Vernunft. Schließlich kommt er zu dem Ergebnis: „Weil Anarchismus in einem unerwarteten neuen Licht erscheint, nämlich als Horizont von heutiger Politik, müssen wir seine klassischen Grundlagen auf Weisen überdenken, die zugleich seinem wesentlichen Ethos von Freiheit, Gleichheit, Anti-Autoritarismus und Solidarität treu bleiben. Mein Argument war, dass Anarchismus sich selbst etwas Neues zu lehren hat. Anarchismus ist beseelt durch einen lebendigen, atmenden ‚Geist‘ der Anarchie, welcher seine eigenen statischen Formen und fixierten Identitäten stört. Postanarchismus enthüllt diese freudvollen Moment von Anarchie innerhalb des Anarchismus und nutzt sie darüber hinaus, um das Politische und das Ethische in neuen Wegen zwischen den Zwillingspolen Politik und Anti-Politik zu denken“.2

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Politische Wechseljahre: Gedanken zur Einsamkeit der Radikalität

Lesedauer: 7 Minuten

zuerst veröffentlicht in: Lirabelle #19, Mai 2019

Mit einer Art ungewolltem Moral-Appell versucht Jens Störfried auf seine Situation aufmerksam zu machen. Beschrieben werden dabei Gedanken, Wahrnehmungen, vielleicht auch „nur“ Gefühle, die ihn offenbar in einer ausgedehnten Umbruchphase beschäftigen. Der Beitrag ist auch ein Weiterdenken von einigen Aspekten der Diskussion „Dem Morgenrot entgegen?“ in der letzten Lirabelle.

Ohnehin trieb es mich aus ganz persönlichen Gründen um, über die Thematik des Älterwerdens in linken politischen Zusammenhängen und dem Hadern mit der eigenen Weltanschauung zu schreiben. Dann las ich die Diskussion in der letzten Lirabelle1 und fühlte mich bestärkt, ebenfalls einige Gedanken in diese Richtung zu formulieren.
Denn seitdem ich vor einiger Zeit die magische 30 überschritten habe, spüre ich tatsächlich auch jenen Ticking-Point, an dem viele der verbliebenen Szene-Angehörigen die Entscheidung treffen, diese hinter sich zu lassen – oder ihr Verschwinden aus dieser einfach geschehen lassen. Dazu muss ich schreiben, dass ich (noch) keine Kinder habe, für die ich Verantwortung übernehme und keine alten oder gehandicapten Menschen pflege. Zudem habe ich (noch) die Möglichkeit, mich in einem Umfeld bewegen zu können, wo ich aufgrund meiner Einstellungen, Verhaltensweisen oder Äußerungen nicht direkt ausgegrenzt oder sogar angefeindet werde. Außerdem führten verschiedene Umstände dazu, dass ich bisher wenig lohnarbeiten musste und mich stattdessen ausgiebig und zu einem guten Teil wie es mir beliebte mit Politik, Theorie und Menschen beschäftigen konnte. Anforderungen hatte ich trotzdem auch zu bewältigen, klar… Allerdings weiß ich, dass sich meine Situation mittelfristig ändern wird. Mein bisheriges Leben unterhalb oder am Rande der Armutsgrenze gewährte mir als junger Mensch zweifellos viele Spielräume. Sicherheiten habe ich dagegen bisher keine aufbauen können.
Die Erzählung vom ewigen linken Jammertal und von der angeblich alles durchdringenden „Gesamtscheiße“ lehne ich ab, brandmarke Nihilismus und Zynismus vehement als „bürgerlich“ und bin stattdessen von einer stillen, aber tiefen Hoffnung erfüllt, deren Ursachen ich gar nicht zu ergründen anstrebe. Es gab Zeiten, in denen habe ich alles zerhackt. Das war notwendig, bringt mich jetzt aber nicht mehr weiter. Eine rein negative Kritik ist nichts für mich. Und dennoch erlaube ich mir hier mein Leiden formulieren, welches aus der Diskrepanz zwischen meiner Vorstellungswelt und den mich umgebenden Tatsachen entspringt. Errico Malatesta bringt das an einer Stelle wunderbar auf den Punkt, wenn er schreibt:
„Wir sind alle gezwungen, im Widerspruch zu unseren Ideen zu leben. Ausnahmslos. Wir sind jedoch Anarchisten und Sozialisten, weil wir darunter leiden und versuchen, diesen Widerspruch so weit wie möglich zu minimieren. Wenn wir uns einfach an die gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen, geht diese Dimension verloren und wir werden zu ganz normalen Bürgern; zu Bürgern ohne Geld vielleicht, aber nichtsdestotrotz zu Bürgern in unserem Denken und Handeln.“2

Im Artikel „Dem Morgenrot entgegen?“ ist vom wichtigen Thema der Alltags-Solidarität die Rede. Und ich weiß, dass auch Personen in meinem Umfeld sich mit diesem beschäftigen. Aber gibt es auch Gründe, warum es mir schwer fällt, mich auf diese umfangreich einzulassen. Zum einen sind da ganz individuelle Eigenheiten, Eigenbröteleien gewissermaßen, auf die ich nicht tiefer eingehen will. Sie gehen etwa in die Richtung eines hohen Bedarfs an Absprachen, eines Konfliktes zwischen Ruhebedürfnis und Gemeinschaftsorientierung oder der Angst vor gefühlten Erwartungen. Weil die meisten Personen, auf die ich mich beziehe, sehr eigen sind, ist dies nicht unbedingt ein Hindernis, sich verbindlich zusammen zu schließen. Zweitens ist für viele Menschen in meiner Umgebung ihre Lebensperspektive gleich meiner nach wie vor ungeklärt, was es mir selbst erschwert, mich langfristig zu orientieren. Immerhin scheint mir diese, meine, Orientierung an anderen ein Beleg für die Sozialität zu sein, welche Ausgangsbasis für eine stabile Gemeinschaftlichkeit wäre.
Drittens haben sich da Enttäuschungen angehäuft, die ich ebenfalls nur knapp umreißen möchte, da ich davon ausgehe, die meisten Menschen mit weiter Sehnsucht und großen Ansprüchen haben sie erlebt – nicht nur im kapitalistischen Spektakel insgesamt, sondern auch in linken Szenen selber. Da sind gescheiterte Kommunegruppen, sich verlaufende Freundschaften, auf der Stelle tretende politische Gruppen, erkaltete WG-Umfelder oder auch politische Orte, deren Betreten Unwohlsein hervorruft, weil sie mit Assoziationen von Konflikten, Leistungsdruck oder bestimmten Verhaltenserwartungen überlagert sind. Da sind die ganz persönlichen Träume und Bedürfnisse, welche enttäuscht wurden. Manche von ihnen wären vielleicht als jugendliche Schwärmerei oder Tatendrang zu bezeichnen. Damit sind sie jedoch nicht weniger berechtigt und weiterhin unerfüllt, wenn es heißt, dass wir auch – aus Notwendigkeit und Lust – für unsere Leben kämpfen…
Der vierte Grund für meine mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit, mich ernsthaft der Organisierung von Alltags-Solidarität zu widmen, ist anders gelagert und wiegt schwerer. Ich nenne ihn: Die Einsamkeit in der Radikalität.

Diese poetische Phrase klingt zunächst sehr abgehoben. So, als würde ich mich damit brüsten und herausheben wollen, dass ich es mir (aus ganz bestimmten Gründen!) leisten kann, radikale Ansichten zu kultivieren und dann über alle anderen zu urteilen, die meinen Vorstellungen nicht entsprechen können oder wollen. Doch mir geht es damit nicht um eine Inszenierung meiner Selbst oder etwa der Erschaffung einer „linksradikalen“ Figur, mit welcher ich den Maßstab für das aktivistische Soll festlegen möchte, gleich der realsozialistischen Leistungsnorm, die es zu erfüllen gälte. Im Gegenteil behaupte ich sogar, ein ausgeprägtes Gespür dafür zu haben, wo verschiedene Personen jeweils stehen und was ihre jeweils eigenen Möglichkeiten sind.
Die Motivation, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, ist nichts, was vermittelt oder verbreitet werden könnte. Sie ist ungewollte Berufung. Sie entspringt dem intimsten und unbewusstesten subjektiven Leidensdruck und Gerechtigkeitsempfinden und ist daher tatsächlich Segen und Fluch zugleich – Menschen, die sie haben, kommen nicht umhin, mit ihr einen Umgang zu finden, sie abzutöten oder daran zu zerbrechen. Damit möchte ich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gesellschaftliche Umstände sind, die solches Empfinden hervorrufen. Weil es sich also nicht um ein existenzielles Leiden handelt, weil seine Abschaffung im Bereich des Möglichen liegt, gehört dieses abgeschafft.

Dafür aber brauche ich keine „messianischen Bilder“ wie Ümit im Interview sagt. Was ich hier formuliere, ist die vermeintlich „egozentrische“ Perspektive der „ganz großen Befreiungshoffnung“, ohne, dass ich deswegen an eine „Weltrevolution“ glaube, wie Jesaja vermuten würde. Oder, dass ich – wie Anatol – denke, eine „Revolutionshoffnung“ würde lähmen und letztendlich den Rechten „in die Hände spielen“. Solche marxistischen Vorstellungen nannte Martin Buber „apokalyptische Eschatologie“, welcher er eine „prophetische Eschatologie“ entgegensetzte3. Letztere möchte ich hiermit ausdrücklich teilen: Die Soziale Revolution ist nichts Abgehobenes, kein großer Knall, sondern ein stetiger und voraussetzungsvoller Prozess, in welchem konkrete Auseinandersetzungen geführt, solidarische Beziehungen geknüpft und neue egalitäre Institutionen aufgebaut werden. Wenn ich sage, dass dieses Ziel nicht nach der Bekämpfung des Faschismus und der Kompensierung der schlimmsten Verwerfungen des kapitalistischen Staates verwirklicht werden kann, sondern genau jenes der Weg dazu ist, formuliere ich damit kein Programm, sondern eine Perspektive. Mit dieser Anschauung ist was mich motiviert doch nicht, dass heute „einfach vieles besser geworden ist“ als in den „1950er-Jahren“, wie Tovio meint – ohne, dass ich deswegen die Erfolge sozialer Bewegungen leugnen will. Eben jene konnten mit solcher Haltung jedoch nicht errungen werden, sondern mit der Hoffnung darauf, dass es für alle nicht nur weniger kalt, sondern warm sein könnte… Wir sollten tatsächlich auf die prozesshafte Überwindung der derzeitigen Gesellschaftsordnung abzielen und gemeinsam eine neue emanzipatorische Großerzählung weben, um die schlimmsten Auswüchse der laufenden Katastrophe zu bekämpfen.

Was hat dies nun aber mit meiner persönlichen Situation, meiner „Einsamkeit in der Radikalität“ zu tun, ist berechtigterweise zu fragen. Ist sie als eine fetischisierte Revolutionsromantik abzutun, wie bei manch einem komischen Kauz Hammer und Sichel, Che Guevara oder die Straßenbarrikade, deren Nachahmung sich manche Insurrektionalistinnen, öfters eher Wutbürgerinnen in Frankreich zu errichten erlauben, sicher jedoch niemand in der BRD? Nein, wenn ich von einer gewissen Einsamkeit in der Radikalität spreche, meine ich jene Erfahrung, die schon so manchen von uns nach Leipzig, Berlin oder Hamburg gezogen hat. Die viele in die post-politischen Feier-Szenen, in die zahnlose Rechthaberei vieler linker Akademikerinnen, in blinden Aktionismus oder das dogmatische Sektierertum getrieben haben, während andere ihren als „jugendlich“ gelabelten Radikalismus einfach ablegten, vergaßen und verwässerten. Und unter „Radikalismus“ verstehe ich hier keine aufrechenbaren Taten, sondern eine Haltung zur Welt, die auf die unbedingte Veränderung des Ganzen abzielt, tief wurzelt und darum einen langen Atmen hat.

Doch wo sind die einstigen Gefährtinnen und Genossinnen geblieben, mit denen ich solche Einstellung, nein Grundhaltungen, teilte? Oder bildeten und reden wir uns nur ein, dass wir sie geteilt hätten? Ist diese Beschreibung nicht allein schon eine Idealisierung der Vergangenheit, deren Unterschied zum Heute eigentlich nur darin besteht, dass wir mutiger, spontaner und energiegeladener, weil gedankenloser und weniger enttäuscht waren? Andererseits kann ich auch konkret benennen, welche Wege verschiedene Personen meiner Ansicht nach eingeschlagen haben, ohne, dass ich sie darauf festlegen möchte. Manche sind da, die hatten und haben viel mit sich selbst zu kämpfen und sich darin ziemlich verstrickt. Darum wünsche ich mir eine radikale Politik, die zu unserer eigenen Emanzipation beiträgt anstatt uns zu entfremden. Für andere greifen ihre Jobs in Form der Lebenszeit fressenden Lohnarbeit oder jene, in denen vermeintlich Selbstverwirklichung möglich ist. Doch ich finde keinen richtigen Umgang damit, wenn Freund*innen und Bekannte von der NGO-Arbeit, Bildungs- und Unijobs oder in der Politikberatung aufgesogen werden. Denn ich merke – schon ganz ohne selbst zu urteilen -, wie sie eigentlich an ihrer eigenen Zerrissenheit, der Diskrepanz zwischen ihren früheren Vorstellungen und der Realpolitik, für die sie sich verkaufen, leiden. Schließlich gibt es bei ihnen die Sehnsucht danach, raus zu sein, etwas ganz anderes zu tun, nach geteilter Autonomie, kollektiver Selbstbestimmung und echter Verantwortungsübernahme zu streben. Bei manchen aus dem linken politischen Umfeld um mich herum zeigte sich freilich im Zweifelsfall auch, dass sie im wesentlichen nur Fragmente und Rudimente linksradikaler Überzeugungen und Gedanken aufgesogen hatten, ohne sie jemals wirklich verinnerlicht zu haben. Der Wechsel zu einem angepassten, zynischen, pseudo-politischen Lifestyle war all zu schnell vollzogen.

Was ich mir dagegen vorstelle, ist viel und nicht viel zugleich: Ich wünsche mir, dass Leute Plakate, die in den Infoladen geschickt werden, selbstständig verkleben, dass wir uns weiterhin selbstbewusst raus wagen und anlassbezogen Banner an Autobahnen drapieren, dass ein Vortrag nicht danach beurteilt wird, ob die referierende Person die richtigen Szene-Codes beherrschte, sondern, ob ihre Aussagen für die Weiterentwickelung unserer Praxis etwas taugen, dass wir erkennen, dass Demos und Kundgebungen nur ein paar Mittel in einem weiten Spektrum an Handlungsmöglichkeiten sind, dass wir unsere begrenzte Zeit nicht auf zermürbenden Plena verschwenden, sondern uns in verbindlichen Bezugsgruppen organisieren, dass wir trotz aller Vorsicht uns nicht auf ein vermeintlich sicheres Szene-Geklüngel zurückziehen, sondern offen, anschlussfähig und bewegend werden. Und schließlich, dass wir und ich sehen, dass all dies ja auch geschieht.
Damit will ich ein Lob aussprechen – ein Lob des Basisaktivismus‘, welcher Parteipolitik und NGOs fernbleibt; der zugleich aber auch das Checkertum, die Exklusivität und Coolness vieler politischer Gruppen vermeidet, sondern ernsthaft nach Gemeinsamen in der Unterschiedlichkeit sucht. Nur solche Vergeschwisterung ist es, die meine Einsamkeit in der Radikalität zu überwinden ermöglicht und dann von sich aus dahin führt, unmittelbare solidarische Beziehungen im Alltag zu gestalten. So kann ich meinen persönlichen Schwur erneuern: Dass kein Stein auf dem anderen bleiben soll. Inzwischen beginne ich zu verstehen, dass damit gemeint war, mit diesen ein neues Haus zu bauen.

Großbürger kritisiert Kleinbürger – Marx&Proudhon

Lesedauer: 14 Minuten

Originaltitel: Großbürger kritisiert Kleinbürger, weil dessen Klasse nicht ihre Interessen verfolgt

Zum Kleinbürger*innen-Vorwurf von Karl Marx an Pierre-Joseph Proudhon und anarchistischen Umgangsmöglichkeiten damit

zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #86 / Feb. 2018

von Jens Störfried

Bei meiner Beschäftigung mit der Kritik am Anarchismus fielen mir in einem vom ZK der SED 1977 herausgegebenen und zusammengestellten Band (neben vielen anderen Dingen wie dem ätzenden Vorwort), zwei zentrale Textstellen ins Auge, die eine wunderbare Diskussionsgrundlage abgeben. Sie verkörpern beispielhaft einen wichtigen, – wenn er aber unreflektiert tausendmal wiederholt wird, total flachen – Vorwurf, welcher Anarchist*innen von Marxist*innen häufig entgegenschlägt: Sie seien Kleinbürger*innen, welche trotz vielerlei revolutionärer Phrasen die eigentlichen historischen Bewegungen und gesellschaftlichen Verhältnisse nicht verstehen könnten und sie falsch interpretieren müssten, da sie nicht die Ideologie des Proletariats vertreten könnten. Der aus großbürgerlichem Hause stammende Karl Marx kann dies jedoch offensichtlich, schließlich entdeckte er den wissenschaftlichen Sozialismus und weiß nun wie der Hase läuft und welche Interessen die*der Proletarier*in im Allgemeinen so hat – auch wenn es ihr*ihm oftmals selbst nicht bewusst ist. Nach einer Vorstellung der Auszüge und einer Zusammenfassung eines Teils von Marx‘ berechtigter Kritik an Proudhon[1], will ich beleuchten, was es mit dem Kleinbürger*innen-Vorwurf auf sich hat und aufzeigen, was eine anarchistische Antwort auf diesen sein könnte. Wer mir dabei widersprechen möchte, soll dies gerne tun.

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(M)ein Weg zum Anarchismus

Lesedauer: 8 Minuten

Originaltitel: (M)ein Weg zum Anarchismus – persönliche Reflexion über bisherige politische Sozialisation. Ein Anstoß

zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #76 / April 2017

von Simone

Der folgende Text ist bewusst subjektiv und aus der Perspektive eines Eigenbrötlers verfasst. Darin wird über verschiedene Erfahrungen und die Fähigkeiten und Möglichkeiten zu ihrer Interpretation und Reflexion nachgedacht. Unter anderem geht es um die Frage, mit welchen Gruppen sich Menschen identifizieren, wenn sich ihre politische Identität entwickelt und welche Gründe das hat.

Seitdem ich, in Kontexten wo es Sinn ergibt und wenn mir danach der Sinn stand, angefangen habe mich eindeutig als Anarchist zu positionieren und auch die Ideen des Anarchismus öffentlich zu propagieren, spürte ich doch eigentlich nie das Verlangen, Menschen wirklich davon überzeugen. Das klingt erst mal ziemlich seltsam, finde ich, denn welchen Grund sollte es sonst haben, sich öffentlich zu bestimmten politischen Vorstellungen und Bewegungen zu bekennen, wenn nicht den, andere auf die eigene Seite, in die eigene Gruppe, in das eigene Weltbild holen zu wollen? An einer Klandestinität lag es sicherlich nicht, denn was klandestin ist, dazu äußere ich mich nicht. Umgekehrt halte ich es aber für völlig unsinnig, meine Perspektive zu verbergen, da ich ihrer sicher bin; sie begründen kann; sie mit meinem ganzen Leben zu tun hat. Eine Art „Coolness“ war ebenfalls nicht der Grund, denn ich bin alles andere als cool – ausgenommen einer innerlichen Abgefucktheit, die sich aus einer großen Sensibilität speist und deswegen leider öfters eine Distanz zu den Dingen notwendig macht.

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Großevents – der Linken liebstes Kind

Lesedauer: 7 Minuten

Reflexion über meine Motivation daran teilzunehmen

zuerst veröffentlicht in: Lirabelle #11 / Dez. 2015

von Mona Alona

Frankfurt 18. März, Garmisch-Partenkirchen 3.-7. Juni, Berlin 21. Juni – hatte ich nichts anderes, sinnvolleres zu tun, als mir diese und andere antikapitalistischen Events anzuschauen? Wusste ich nicht zuvor schon, was mich jeweils erwarten würde und das es „realistisch“ betrachtet im Grunde genommen keinen Unterschied macht, ob ich mich als einzelne Person beziehungsweise mit einer Bezugsgruppe in routinierte Protestmodi hineinbegebe, die mit verschiedenen Argumenten kritisiert werden können und sollten? Gelegentlich scheint es, als würden Linke, wenn ihnen nichts besseres einfällt um ihre Ohnmachtsgefühle zu kompensieren, das tun, was sie eben gefühlt am besten können: eine Demo zu organisieren, damit sich im Zweifelsfall immerhin alle Aktivist*innen mal wieder treffen und durchzählen können, wie viele es von ihnen denn noch gibt.

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