Vom Luxus der Freiheit, sich der Beschäftigung mit dem Gesetz entziehen zu können
Trotz aller gefühlter und realer Zwänge, aller verinnerlichten und geschichtlich eingeschriebenen Zwänge, bin ich in einem selten freien Zustand für einen zeitgenössischen Menschen. Meine Situation in Westeuropa zu leben, in einem wohlhabenden Land, ist ein Privileg – nicht die Freiheit, welche ich meine. Nein, ich bin in der luxuriösen Situation, mich so wenig wie irgendwie möglich, mit gesetzlichen und bürokratischen Abläufen befassen zu müssen.
Haha, das ist mal ein lustiger Hinweise auf meine eigenen absurden Verhaltensweisen. So habe ich es mir über viele Jahre angewöhnt, mich dauernd beschäftigt zu halten, um ja nicht in die Falle der Lohnarbeit zu tappen. So eine Art Prokrastination durch Aktivismus. Während andere brav arbeiten gehen, schreibe ich zum Beispiel diesen Blogbeitrag. Während andere dann „Freizeit“ haben, mache ich mir immer noch über irgendwas Gedanken, die irgendwo wieder eingebaut werden oder auch nicht. Eine völlige Entgrenzung der Arbeitszeit, wenn man so will.
Das ich wunderlich bin, ist jetzt keine Neuigkeit. Die Erkenntnis wurde kurz nach meiner Geburt verkündet; So bin ich ins Leben gestartet und ist mir die Welt begegnet, So habe ich mich über sie gewundert. Da sind so wunderbare Dinge und Vorkommnisse, die es sich lohnt zu betrachten. Täglich stumpfe ich mich ab, um dieser Tatsache nicht nachgehen zu müssen, um funktionieren zu können unter den Bedingungen einer Herrschaftsordnung, welche das Wunder der Existenz kontinuierlich vernichtet, indem es sie verwertet und unterwirft. Wer sich darüber ernsthaft wundert, muss mit der Verzweiflung kämpfen, welche sich bei der Erkenntnis über Zustand, in welchem wir leben, einstellt. Die Alltagsroutine wischt die Wahrheit weg. Wir belügen und selbst und lassen uns belügen.
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Wer sich im fortgeschrittenen Erwachsenenalter noch wundert, wird misstrauisch beäugt. Denn wer zu viel fragt, wird oft nervig und unbequem. Er gilt als unreif und wird nicht ernst genommen. Im selben Zuge wird auf ihn eine kindliche Naivität projiziert, welche seinem Wesen aber gar nicht entspricht. Schließlich ist er ja kein Kind, sondern nur ein Wunderling. Und eines seiner hauptsächlichen Probleme ist: Wie kann er sich denn wundern und gleichzeitig ernst genommen werden? Aus diesem inneren Konflikt – dessen Ursache in gesellschaftlichen Rollenerwartungen liegt – entstehen Selbstzweifel und Aggressionen, die leider zu selten verstanden werden und die richtigen Adressaten treffen.
Leider war’s alles zu viel in letzter Zeit. Vermutlich kennen viele diese Gefühl, im Scheitern der eigenen Bestrebungen, ob in der Liebe, im Alltag, dem Tätigkeitsein, der Selbstverwirklichung, im Leben. Dann wird alles anstrengend. Zu anstrengend. Ein weiterer loster Mensch sucht irgendwie nach Bestätigung und Aufmerksamkeit – und rafft doch immer noch nicht, dass ich nie verstanden habe, warum ich Personen einfach nur in ihrer Existenz bestätigen soll. Das müssen sie schon selbst hinbekommen, auch wenn ich mich häufig ebenfalls in diese erbärmliche Bittstellung begeben habe.
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Schon zu lange funktionieren die Dinge nicht mehr; Begreife ich meine Lebenssituation nicht, und auch nicht, wie ich in sie gelangt bin. Sich daraus befreien zu können, war früher schwer, weil man sich selbst nicht genug kannte. Heute ist es schwer, weil man sich selbst genug kennt – und daran resigniert. Wenn die Kraft zum rebellieren fehlt, bleibt die Einkehr. Neue Kräfte werden wachsen. Ich freue mich, wenn sie wieder in die Rebellion gegen eine schlichtweg wahnsinnige Herrschaftsordnung münden, welche die Würde des Menschen täglich missachtet und die Lebensgrundlagen der biologischen Existenzen auf diesem Planeten täglich weiter vernichtet. Ich sehne mich nach dem großen Kladderadatsch. Doch weiß ich, das es sich um eine Projektion handelt. Die soziale Revolution ist Alltagssache. Und kann nur so emanzipierend wirken, wie wir uns im Hier und Jetzt organisieren und handeln.
Seit 10 Jahren erscheint die Literaturzeitschrift Abwärts! Einer der Herausgebenden, Bert Papenfuß, war so freundlich, dort vier Teile meiner Reihe Selbstreflexion in Umbruchszeiten unterzubringen, auf welche er gestoßen war. Also danke ich mit einem Hinweis auf die Zeitschrift und der nach wie vor lebendige Post-Ost-Berliner Literatenszene im gentrifidingsmäßigen Prenzlauer Berg und anderswo. Für einzweiviele anarchistische Kulturkneipen!
Seit einiger Zeit habe ich festgestellt, dass ich mich immer stärker in Szene-Streits, Abgrenzungs- und Zugehörigkeitsdebatten verstrickt habe, als mir lieb ist. Es hat etwas gedauert, bis ich verstanden habe, warum das so war und was ich daran problematisch finden. An sich spricht nichts dagegen, Statements zu bringen, wie man sich in Bezug auf bestimmte Themen oder gesellschaftliche Entwicklungen positioniert. Per se ist auch nichts an Begründungen und Ausformulierungen anarchistischer Gedanken einzuwenden, um sie von anderen unterscheidbar zu machen. Und selbstverständlich darf es im Umgang mit der ideologischen Konkurrenz auch mal polemisch zugehen, denn schließlich geht es auch um was.
Aber um was geht es ist, ist die Frage. Und so ist nicht ausgeschlossen, dass ich im Anschreiben gegen die verbohrte Rechthaberei, die dogmatischen Versatzstücke und romantischen Phrasen meiner anarchistischen und sozialistischen Konkurrent*innen, selbst deren schlechte Stile und Umgangsweisen übernehme. Also beispielsweise, indem ich ihnen Grundannahmen oder Absichten unterstelle, welche sie bei genauerer Betrachtung gar nicht haben. Oder indem ich mir vor allem ihre ausformulierten Gedanken anschaue – die ich ja zurecht als verkürzt oder aggressiv kritisieren kann – anstatt meinen Blick darauf zu richten, wie die Betreffenden sich tatsächlich verhalten und wie sie handeln.
Insgesamt steht im Hintergrund meines Bedürfnisses nach Abgrenzung, Klarstellung und Debatte natürlich auch eine gewisse Arroganz. Diese ergibt sich daraus, aus subjektiven Gründen für eine Minderheitsposition einzutreten, die tatsächlich oftmals diffamiert und ausgegrenzt wird. Außerdem ist sie komplex und muss deswegen erklärt werden. Soweit ist das in Ordnung. Zu überprüfen ist darin aber ein etwaiger Führungsanpruch – welchen im Übrigen auch Personen, die offensiv vor sich hertragen „gegen jede Autorität“ zu sein durchaus selbst haben können. Das wäre der antiautoritäre Reflex, der andere auf das eigene Niveau herabzieht und ihnen Führungsgebaren unterstellt, um intrigant selbst die Fäden in der Hand zu halten.
Während diese Reihe von Kurzgeschichten entsteht, wartet der Autor auf die Prüfung seiner Arbeit, mit welcher eine Lebensphase abgeschlossen wird und nach der eine ebenso ungewisse Zukunft bevorsteht. Während dessen begegnen ihm verschiedene anarchistische Denker, die ihn geprägt und beeinflusst haben. Er freut sich, sie wieder zu treffen, muss aber auch schauen, wie er mit ihnen weiter macht. Denn es ist klar, dass es sich um einen Verein weißer Typen handelt, die – wie der Autor ebenfalls – einige Probleme in ihren Leben und in ihrer Geschlechtsrolle haben… Dies gilt es zu reflektieren um einen Eindruck davon zu vermitteln, wie die besagten eigenwilligen Leute auf ihn wirken. Im selben Zuge wird auf einige Aspekte ihres theoretischen und aktivistischen Denkens hingewiesen, die wiederum auf subjektivistische Weise mit ihren jeweiligen Persönlichkeiten in Verbindung gebracht werden. Damit wird auch eine Brücke durch Zeit und Raum geschlagen. Ganz schön irre alles. Diese und ganz andere Texte sind bereits auf paradox-a.de, untergrund-blaettle.ch und knack.news erschienen.
Sorel betritt den Raum durch die Hintertür (erste Geschichte)
Es kommt mir vor als würde ich auf den letzten Metern aus einem langen Winterschlaf erwachen. Der Frühling kommt, die Welt steht in Flammen und ich pfeife auf meinem Fahrrad auf dem Weg zur Bibliothek. Das müssen die Hormone sein. Täglich vernichtet die von Menschen gemachte mehr oder weniger anonyme, doch sehr konkret spürbare Herrschaftsordnung das Leben auf diesem einzigartigen Planeten. Ich denke an einen Menschen, den ich wohl etwas begehre – aber ich weiß noch nicht wie, warum, wozu – und freue mich, solches Begehren überhaupt noch oder wieder empfinden zu können.
Derweil zerfetzen Projektile Leiber in der Ukraine und explodieren Raketen in Wohnhäusern, Krankenhäusern und Einkaufszentren. Nicht so weit weg. Nicht so weit weg von mir. Doch das waren Syrien und Afghanistan auch nie. Eben mal wird die Militarisierung der deutschen Gesellschaft postdemokratisch beschlossen und durchgewunken. Die Stimmung ist gut um den Nationalstaat zu erneuern. Die Leute besoffen vor humanistischem Geseiere und Hilfsbereitschaft in Fahnenmeeren – als Kompensation der Leidenschaften, welche die Politik der Angst in ihnen einpflanzt und auslöst. Im Herzen der Bestie Kratos steht der Militärapparat und pure Gewalt zerschmettert das nackte Leben. Darin gleichen, ergänzen und stützen sich Staat, Kapitalismus und Patriarchat: Dass sie Leben verdinglichen, bewerten, hierarchisch anordnen und im Zweifelsfall vernichten können.
Was ist denn los? Wie kann die Sonne nur wieder so wunderbar scheinen? Ich bin ein Kind dieser Welt und die Hälfte meines kurzen Lebens, dieses chaotisch-träumerisch-sensiblen Windhauchs, ist bereits vorbei – wenn ich Glück habe. Und das habe ich. Denn ich lebe im privilegierten Teil dieser Welt und habe lange Zeit eigene Strategien gefunden, mich so gut es ging den Zumutungen dieser grausamen Realität aus Lohnarbeit, Unterwerfung und Schlachterei zu entziehen. Ich kenne Menschen, die darauf verweisen, dass es Entwicklungen zum Positiven hin gibt. Und das schätze ich, weil es in unserem Potenzial liegt die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern. Um die Enteignung und Vergesellschaftung des Reichtums werden wir dabei aber nicht herum kommen. Wie zu allen Herrschaftszeiten erzürnt dies das progressive Bürgertum in seinen moralisch aufgeladenen Debatten um die Weltverbesserung.
Ich freue mich innerlich-äußerlich. Denn für mich wird es anders werden. Was auch immer kommt, anderes kündigt sich an. Der Erwachsene in mir weiß: Dieses Gefühl wird rasch verwehen. Neue Anforderungen, Rückschläge, Ängste und Zurückweisungen werden kommen. Allzu sehr neige ich ja selbst dazu mir Probleme zu verschaffen – wohl, weil ich es so gewohnt bin. Umgekehrt gilt es die Flüchtigkeit der Freude im Beenden, Auftauen, Ausbrechen, Aufbrechen zu genießen wie sie mich nun einmal überkommt. Her mit dem schönen Leben sag ich mir da! Her mit der ganzen Bäckerei! Und so lache ich kurz. Und statt mich um die Unterbringung von Geflüchteten zu kümmern oder sonst wie die Welt retten zu wollen freue ich mich auf die Gewalt.
Bei all den Merkwürdigkeiten, die mir so begegnen, überraschte mich nämlich, dass ich gestern – aus heiterem Himmel und kurz vorm Ziel – noch einmal bei George Sorel anlangte in meinem Arbeiten und Nachdenken. Die Windungen des Hirns sind unergründlich, denke ich einerseits. Und andererseits aber, dass ich mit meiner intellektuellen Tätigkeit in den letzten Jahren aktiv im thematischen Bereich der politischen Theorie des Anarchismus eine Anordnung meiner Neuronenstruktur geschaffen habe, welche kollektives und damit intersubjektiv geteiltes Wissen abbildet. In diesem Zusammenhang mag es daher logisch erscheinen, dass ich auf der Suche nach der Benennung einer methodisch vorausgesetzten Arbeitsdefinition von Politik, wieder auf Sorel stoße, ja stoßen muss.
In meiner Arbeit geht es um die anarchistische Kritik der Politik, weswegen ich – um einen theoretischen Ankerpunkt zu haben – erst mal von einen Politikbegriff ausgehe, den ich (ultra-)realistisch genannt habe. Nicht „mehr“, „bessere“, „endlich wieder“ oder „demokratischere“ Politik soll damit betrieben, sondern die ganze Politikmacherei selbst infrage gestellt werden. Das führt dann im Anarchismus zu allerlei Paradoxien, doch dazu an anderer Stelle mehr… Weil Sorel so unerwartet reinkam gestern, gibt es noch einmal ein kleines Blingbritzelfunkel in meinen Synapsen, bekomme ich noch einen latent manischen Kick im Erkenntnisprozess, in meinem bescheidenen Dasein geschenkt. Toll! Während Menschen auf Menschen schießen für die Interessen der jeweils herrschenden Fraktionen. Wie ich ebenfalls ausgiebig erarbeitet habe sind anti-politische Tendenzen, Praktiken, Denkweisen und Stile vielfach in allen Varianten des Anarchismus vorhanden. So dass die Frage gestellt werden kann, ob sich darin ein gemeinsamer Nenner dieser so verwirrend pluralistischen Strömung finden lässt.
Also: Wir finden eine anarchistische Kritik der Politik besonders ausgeprägt bei Stirner (Individualismus), bei Proudhon (Mutualismus), bei Most (Kommunismus), Pouget (Syndikalismus) und bei Landauer (Kommunitarismus). Selbstredend auch im Insurrektionalismus, den ich theoretisch allerdings als Kehrseite bzw. Negativfolie des Anarch@-Kommunismus gefasst habe und ihn für meine Untersuchung beiseite lasse, weil er in der reinen Negation verbleibt und ich mich stattdessen für eine sozial-revolutionäre Perspektive entschieden habe. Doch wie auch immer, warum also Sorel? Es gibt ja noch genug andere Typen mit Geltungsbedürfnis und kleinbürgerlicher Kränkung in diesem ganzen Verein (#Ironie).
Immerhin war Sorel kein Vordenker des Anarch@-Syndikalismus – sondern höchstens ein Nachdenker. Seine theoretischen Einsichten gewann er in Reflexion über die starke bestehende anarch@-syndikalistische Bewegung seiner Zeit. Doch die Bekanntheit seines Buchs Über die Gewalt ist in gewisser Weise ein Treppenwitz der anarchistischen Theoriegeschichte, da seine Übersetzer und Rezensenten ihn als kryptische und phantasierende Strohpuppe für das anarchistische Denken aufbauten, während die genuinen Faschisten – allen voran Mussolini – sich an darin enthaltenem Heroismus, Kampf, der Dekadenz und dem Gewaltfetisch erbauten. Wohlgemerkt in Zeiten vor dem Ersten Weltkrieg, aber während seiner Ankündigung in der Phase imperialistischer Hochrüstung – Was mir wiederum auf skurrile Weise eine Parallele zur heutigen, politisch herbei gefaselten, journalistisch herbei geschriebenen und militärisch herbei gebombten Blockkonfrontation aufzeigt.
Hier ist nicht der Ort, um ins Detail zu gehen. Einen weiteren Einblick habe ich vor einer guten Weile schon formuliert – weswegen ich ja wie gesagt gerade überrascht bin, dorthin zurück zu kehren. So schließt sich ein Kreis in den Windungen des Denkers. (Aber nur ein einzelner, denn da ziehen verschiedene Gedankenströme ihre Bahnen …) Was mich an Sorels Buch fasziniert und worin es theoretischen Gewalt besitzt, ist die Reflexion der in Politik enthaltenen Gewalt – mit der (völlig übersteigerten) Androhung diese den Herrschenden zurück zu bringen. Die proletarische Gewalt sei dabei deutlich weniger brutal als die institutionalisierte Gewalt des liberalen Bürgertums, als auch der politischen Revolutionär*innen, welche aus Rachebedürfnis zur Grausamkeit tendierten.
Ein gutes Stück Rachebedürfnis ist bei Sorel durchaus noch enthalten. Doch er reflektiert und entfernt sich gerade daher von der politischen Gewalt – und schafft somit die Grundlage für eine fundierte, proletarische Anti-Politik. Für die Androhung und Durchführung ihrer Sezession vom Bürgertum und verbürgerlichten sozialistischen Politiker*innen, ist Gewalt nicht entscheidend, aber eben ein wesentliches Element im Streben nach Autonomie. Bedeutend fast noch stärker in ihrer Fiktion, die aber nur durch Taten generiert werden kann. Leider haben dies vor allem die Feinde – die Kubitscheks der Welt – erkannt bzw. in den letzten zweidrei Dekaden praktiziert.
Darin steckt aber eine politisch-theoretische Wahrheit, die uns Anarchist*innen nicht mit dem Faschismus „auf dem anderen Extrem“ vergleichbar macht – wenn sie verstanden und entsprechend sinnvoll angewandt wird. Und darin liegt übrigens auch Sorels Fehler, welcher Gewalt als Selbstzweck fetischisiert und sie heroisiert, damit also Anlass für das Umkippen von Antiautoritarismus in den Autoritarismus gibt. Entscheidend ist, gemeinsam mit vielen den Bruch zu wagen und die Balken im morschen Herrschaftsgebäude zu brechen. Statt irgendwie linke Politik zu betreiben oder sich noch etwas von sozialstaatlichen Reformen zu erwarten, gilt es einen völlig anderen Weg einzuschlagen: Die Selbstorganisation der Betroffenen von Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung und Zerstörung. Ihr Streben nach Autonomie, mit welchem (wiederum im strikten Gegensatz zum Faschismus) auch die Ermächtigung der Einzelnen und die Wiedererlangung ihrer Würde einhergeht.
Für Aktive in emanzipatorischen sozialen Bewegungen heute gilt es gezielt die Konfrontation einzugehen – anstatt diese (auf instrumentelle Weise) an kleine, radikale Aktionsgruppen zu delegieren und sich sonst den Anschein von Vernunft und Vermittlung zu geben. Die multiple Krise der Gegenwartsgesellschaft spricht eben sehr dafür, solche Wege zu beschreiten. Statt der omnipräsenten Angst, nicht mehr Anteil zu haben, nicht mehr mitreden und mitsein zu können, gilt es, sich mit den Anteillosen und Ausgeschlossenen gemein zu machen und – dort wo wir stehen und mit den Mitteln, die wir haben – die libertär-sozialistische Gesellschaft aufzubauen.
Dies lässt sich auch in anderen Kategorien denken als dem „sozialen Krieg“. Denn ja, das Thema ist selbstredend komplexer und die Schreiberlinge und Rednerinnen dürfen anderen Betroffenen nicht ihre Sichtweise aufzwingen und sie instrumentell für ihr Geltungsbedürfnis und ihre Wahnvorstellungen verheizen. Und überhaupt, was ist das: Konflikt, Kampf, Kämpfen, Klassenkampf? Es kann eben vieles verschiedenes sein und ist den Kämpferinnen selbst zu überlassen, was sie darunter verstehen und wie sie ihre Auseinandersetzungen führen wollen. (Abgesehen von den Rahmenbedingungen, die uns Möglichkeiten schaffen, Grenzen setzen und gewaltvolle Bedingungen auferlegen …) Aus eigenen Erfahrungen würde ich aber sagen: Wenn du eine Auseinandersetzung führst und – im Sorel’schen Sinne weitergedacht – kämpfst, dann merkst du es. Du merkst den Unterschied zum Politikmachen. Und dies ist im Übrigen etwas ziemlich anderes als gerade hauptsächlich in der Ukraine stattfindet. Denn damit wird der nationalstaatliche Rahmen der bestehenden Herrschaftsordnung gesprengt wird um einem eminenten Antipatriotismus nachzugehen, wie ihn Sorel – trotz all der problematischen Implikationen, die sein Denken mit sich bringt – selbst leidenschaftlich verfolgt.
Epilog. Sonne, Krieg und Bibliothek. In der Endphase von einem seltsamen fünfjährigen Traum, der mein Leben war (und sein wird, haha) britzeln die Synapsen noch einmal. Ich freue mich über mein Dasein. Ich freue mich, den Raum zum Denken zu haben und denken zu können in einer Welt, in der Medienheinis, weltfremde Politiker*innen und die Hools der herrschenden Klasse in ihren anerkannten Institutionen (Theatern, Hochschulen, Kirchen, Berufsverbänden etc.) uns die Birne weich machen mit ihrem Propagandafeuer. Ich freue mich in-gegen-und-jenseits dieses Wahnsinns denken zu können und das ist bitter nötig. Gegen den realen Krieg, der täglich das reale Menschenleben vernichtet – Und damit vor allem Ausdruck der Gewalt im angeblich friedfertigen 21. Jahrtausend ist – wie ein Kasper wie Steven Pinker behauptet. Aber auch gegen dem Krieg in unseren Herzen und Köpfen, installiert, um uns zuzurichten und einzugliedern in dieses verrottete, elende System.
Ich freue mich, so mehr oder weniger, so halbhalb, so wie es halt geht, raus sein zu können. Mit allen Folgen, die es mir schwer machen, hier noch sein zu können. So gut es eben geht draußen von den Zwangsinstitutionen und den idiotischen Käfigen der bürgerlich-liberalen, der staatlich-kapitalistischen Herrschaftsordnung sein zu können. In meinem Fühlen, in meinem Sehnen, in meinem Denken zumindest. So gut ich’s eben schaffe wegzukommen von den patriarchalen, weißen und Mitwelt-zerstörenden Denk-, Verhaltens- und Seinsweisen; weg von den Institutionen der Erniedrigung und Schande. Auch wenn ich weiß, dass ich immer Teil davon sein werde, bin ich motiviert weiter zu kämpfen. Und ich ahne zumindest wie schwierig es ist, lachend und würdevoll unterzugehen.
Auch das eigenständige, häretische Denken kann dazu einen Teil beitragen. Damit meine nicht die Querdenker*innen und sonstigen Verschwörungsfreaks, die glauben, das sie denken, weil sie denken, was sie glauben – nicht aber wie Sorel, der über den Mythos reflektiert und ihn damit transparent macht. Die Bibliothek ist eine komische Umgebung, gerade bei Frühlingsbeginn und vor der Fertigstellung eines wirklich irren Buches. Meine Gedanken schweifen ab und mein Begehren irrlichtert wieder zur Person, der ich letztens begegnet bin. Denn die war so eigenartig verrückt, dass sie einen Eindruck bei mir hinterließ. Daran merke ich, dass ich sehr beziehungsorientiert bin – Denn ich suche nach Menschen mit denen ich gemeinsam verrückt sein kann, um gegen den Wahnsinn der bestehenden Herrschaftsordnung zu bestehen.
Arbeit drucken, Druck abschütteln
Bakunin stattet mir einen Besuch ab, um mich persönlich zu agitieren (zweite Geschichte)
So, jetzt ist’s fertig. Nach viereinhalb Jahren reiche ich meine Doktorarbeit zur politischen Theorie des Anarchismus ein. Zu überqualifiziert und eigenbrötlerisch für Maloche-Jobs, zu unterqualifiziert und politisch-weltanschaulich positioniert für die Academy, wird es spannend, wie ich dann den Rest meines Lebens an Ressourcen komme. Doch das beschäftigt mich eigentlich nicht. Da ich ohnehin immer arm war, sind meine materiellen Ansprüche gering. Wichtige andere Fragen werde ich stattdessen in näherer Zukunft wälzen müssen: Wo kommt überhaupt die Kohle her? Wie kann ich mich langfristig gut organisieren, um meine Fähigkeiten und Perspektiven einzubringen? Was fühlt sich überhaupt sinnvoll an für mich? Was hat das Leben noch zu bieten, außer meine Umtriebigkeit, Heimatlosigkeit, meinen Veränderungswunsch und Tatendrang in intellektuelle Arbeit zu kanalisieren? Und was ist mit der Liebe?
In den letzten zwei Wochen, der wirklich letzten Phase der Arbeit an meiner Dissertation, habe ich merkwürdig und unruhig geschlafen. Die schrecklichen Kriegsereignisse verfolgte ich weiter, wusste aber dennoch, was nun dran und endlich fertig zu stellen ist. So spielte sich wieder eine alte Szene vor meinem inneren Auge ab. Etwas naiv, zurückhaltend und gelegentlich schreckhaft wie ich bin, saß ich da und sann darüber, wie ich mich sinnvoll engagieren könnte. (Ich weiß nicht warum, aber solche Situationen spielen dann entweder immer verlassenen Landhäusern, auch wenn ich nie in einem gelebt habe oder mich in einem aufhielt. Oder in verruchten Kaschemmen in dämmrigen, verwinkelten Gassen von Altstädten, wie in diesem Fall…)
Während ich unzufrieden mit der Welt und mir darin vor mich hin sinniere, zerrt es plötzlich an der Holztür und eine riesenhafte, verwegene Gestalt betritt den Raum. Sie setzt sich neben mich und fährt sich durch den Bart. Eine leichte Alkoholfahne weht zu mir rüber, während der grobe Kunde in seiner Geldkatze kramt und dann Rotwein beim Wirt bestellt. Dann blickt er auf, mich an und ich erkenne ihn: Es ist Bakunin. Der gute Mann hatte auch schon mal bessere Tage gesehen. Schweigend sitzen wir da und trinken den Wein. Die leicht beklemmende Ruhe überrascht mich, kenne ich doch sein aufbrausendes Temperament, seine rastlose Aktivität. Und natürlich war es nicht so, dass Bakunin mich grundlos aufgesucht hat. Gerade, weil ich recht klein bin, erscheint mir, als wäre es ein Bär, der bedächtig seinen Arm um meine Schulter legt und mich vertrauensvoll zu sich heran zieht.
Der Berufsrevolutionär spricht von mir, von großen Schlachten, die zu schlagen seien, vom Geheimbund, der sich weiter organisieren und vorbereiten müsse, von den Genoss*innen an allen Orten, die sich bereit machten für die kommenden Ereignisse. Die unterdrückten Völker würden aufbegehren, ihr Sehnen sei auf die Zukunft gerichtet, ihr Hass auf Obrigkeit verbittert und entschlossen wie lange nicht mehr. Dann schweift er in philosophische Gewässer ab und erläutert neben einigen Hasstiraden gegen den Gotteswahn und das Pfaffentum, warum die Sozial-Revolutionäre unweigerlich siegreich aus dem sozialen Krieg hervor gehen müssten: Trotz mancher Niederlage in der letzten Zeit und der Inhaftierung einiger unserer Besten, müsse sich das Lager der Negation unaufhaltsam Bahn brechen, da dass Positive sich mit jedem Repressionsschlag selbst untergraben und der sozialen Demokratie weitere Vorlagen schaffen würde…
Gebannt und eingeschüchtert lausche ich den bewegenden Worten, dieses von Gefangenschaft, Verfolgung und Aktionismus gezeichneten Mannes. Dann überkommt ihn ein Hustenanfall. Als er um Luft ringt frage ich ihn schließlich: „Michail, ich verstehe, was du sagst. Aber sag mir bitte, warum erzählst du mir das alles? Was möchtest du von mir?“ – Und bis jetzt könnte ich nicht sagen, ob es tatsächlich sein Anliegen war. Oder ob er einfach nicht aus seiner Rolle als Premiumagitator heraus kam, sich nicht einfach mal einen Abend freinehmen und eingestehen konnte, dass seine Pläne gescheitert waren. – Mich wieder unangenehm an sich heranziehend, sprach er in verschwörerischem Tonfall: „Du hast gehört, wovon ich gesprochen habe. Nun überlege dir gründlich, was dein Platz in der sozialen Revolution ist. Und wenn du Zerdenker, Zweifler und Glückssucher dich gerade gekriegt hast, melde dich und wir schauen, was du für den Geheimbund taugst“!
Dann fuhr er fort von Barrikadengerangel, vom Befreiungsdrang der unterworfenen Volksklassen, von der klassenlosen Gesellschaft zu erzählen. Schließlich zog er noch über einige wankelmütige Ex-Genossen her, die die Sache verraten oder aufgegeben hatten, richtet sich vom Stuhl auf, sodass dieser laut knarzte, schwankte zur Tür, deren Rahmen der fast völlig ausfüllte, warf einen letzten Blick aus seinen manisch glänzenden Augen zu mir, und verließ die Kaschemme. Wieder allein, war ich erfüllt von gemischten Gefühlen. Wie sollte es auch anders möglich sein, bei so einer eindrucksvollen Wesenheit?
Doch als ich zu mir kam und aufwachte, überkamen mich wieder die Zweifel. War dies ein Weg, den ich gehen sollte? Die ganze Geheimbündelei und Aufständerei? Ja und nein. Bakunins Weg war nicht meiner. Aber Wege suchen Menschen sich auch nicht immer aus. Sie ergeben sich beim Gehen, aber nicht beim Zuhause bleiben. Und die Wege der Herren sind oft unergründlich in ihrer ganzen Rechthaberei. Deswegen fand ich auf jeden Fall seine Art super unangenehm, also dieses väterlich-patriarchale Ich-bin-ein-Idol-Ding, was er ausgestrahlt hat. Und dann auch dieses Kader-Bro-mäßige coole-Kids-sind-halt-bei-der-sozialen-Revolution-Geschwafel. Nun ja, ich weiß nicht… Die einen faseln vom Weltgeist, Bakunin dagegen hat tatsächlich den Teufel im Leib. Das beeindruckt schon und ich habe ehrlicherweise nicht die gleiche Scheiße gesehen und gefressen wie er. Aber trotzdem auch genug plus in Verbindung mit dem radikalen Humanismus ist es nun mal nicht meine Schuld, das die Welt ist wie sie ist, aber meine wäre es, wenn sie so bliebe.
So bleibt meine Frage also offen, wo es hingeht, wo ich mich sinnvoll einbringen kann, wo mein Platz ist. In den letzten kanalisierte ich meinen Veränderungswunsch und Tatendrang in eine große Arbeit über die politische Theorie des Anarchismus. Niemand hat mich danach gefragt. Nur wenige wird es in Zukunft interessieren. Der Titel – wenn ich denn bestehe – ist mir persönlich auch sowas von egal. Doch ich habe das gleichermaßen nur für mich, wie nur für die Sache getan. Und es war verdammt anstrengend aus verschiedenen Gründen. Damit will ich sagen: Ich habe wie immer einige Ideen, was ich anfangen könnte. Und trotzdem sage ich auch: Bitte verwendet mich! Wenn ihr mal einen anarchistischen Intellektuellen braucht: Hier hab ihr einen!
Abgabe – Angabe – Absage?
Kropotkin begleitet mich ein Stück des Wegs (dritte Geschichte)
Nun habe ich die Bücher also in vierfacher Ausfertigung eingereicht. Mensch ey, was für eine Arbeit, was für ein Stress! Was für eine Selbstdisziplinierung in prekären Lebensverhältnissen in den letzten Jahren! Da habe ich viel zurück gestellt. Ich weiß warum und habe mich auch dafür entschieden. Ob ich das nochmal so tun würde? Keine Ahnung. Empfehlen würde ich es struggelnden, zappelnden Personen, die nicht in dieses Milieu hineingeboren sind jedenfalls nicht unbedingt. Damit kommt aber auch unmittelbar die Bewusstwerdung über meine Privilegiertheit hinein. Natürlich macht es einen Unterschied, weiß zu sein, Bildungskram frühzeitig vermittelt bekommen zu haben. Was die Männlichkeit angeht, bin ich mir in meinem Fall nicht so sicher, da ich in der Hackordnung immer weit unten stand. Aber diesem Thema wollte ich mich jetzt auch mal wieder widmen.
Gut, die Dissertation liegt nun in einem Dekanat herum bis die bürokratischen Verfahren eingeleitet und mein Werk dann begutachtet und beurteilt werden – wie es sich gehört. Ließe sich sicherlich auch anders gestalten. Doch auch auf diese Form und diesen Ablauf habe ich mich eingelassen, im Wissen um ihre Widersprüchlichkeit und die herrschaftlichen Aspekte einer akademischen Betriebs und seiner Gilde. Ach, da gäbe es so einiges zu kritisieren! Der Neoliberalisierung der Hochschulen widerspricht ja nicht der Muff der tausend Jahre, welcher auch manch reaktionärem Professor ein Refugium bietet. Aber das wäre ein eigenes Thema für sich. Und vielleicht habe ich auch nicht so viel länger mit dem Laden zu tun. Aber wer weiß…
Auf dem Weg meiner Abgabe direkt begleitete mich niemand meiner Freund*innen und Bekannten. Einige von ihnen habe ich später noch getroffen. Zeit zum Feiern ist auch erst, wenn das Ganze geprüft und verteidigt und vereidigt wurde. Das dauert noch. Weil ich den Weg zur Einreichung alleine angetreten bin, wird mir auch bewusst, was ist, was war: Viele meine früheren Gefährt*innen, Freund*innen, Genoss*innen gehen einer strukturierten Lohnarbeit und/oder haben Kinder bekommen. Manche von ihnen haben viel mit eigenen Problemen zu tun, die nach den Dreißigern für jene, die mit bestehenden Gesellschaftsstrukturen und Anforderungen hadern ja nicht weniger werden. Klar, einige sind wohl auch durchgestartet und in einer bürgerlichen Lebenswelt angekommen, haben ihre rebellische Phase hinter sich gelassen. Umso wichtiger erscheint daher, dass doch noch manche auf die eine oder andere Weise bei der Sache geblieben sind.
Im Zug setzt sich Kropotkin neben mich. Wie so ein beiläufiges Gespräch eben beginnt, sprechen wir über die Bahn, in der übrigens auch einige Reisende sitzen, die ukrainisch sprechen. Nein, auf die Bahn lasse ich mir nichts kommen, ich fahre meistens wirklich gerne mit dem Zug. Umso ärgerlicher, dass die Preise so unverschämt hoch sind, gerade bei den mittleren Strecken. Pjotr geht es ähnlich. Im Unterschied zu mir gerät er aber regelrecht ins Schwärmen darüber, wie die moderne Eisenbahn das gesellschaftliche Leben verändert, Menschen zusammenbringt, den Güteraustausch auf völlig neue Grundlagen stellt und wie sie potenziell völlig staatenlos organisiert werden könnte, wenn sie vergesellschaftet werden würde.
Ich schaue durch das Abteil. Die meisten Reisenden – nicht alle – schauen entweder gerade auf ihr Smartphone oder werfen zumindest alle fünf bis fünfzehn Minuten einen Blick darauf und streicheln ein wenig über seine Oberfläche. Ich schaue zu Kropotkin und ziehe meine Augenbraue hoch um eine irritiert-fragende Miene zu zeigen. „Du, es gab hier in letzter Zeit noch einige andere Entwicklungen, die das gesellschaftliche Zusammenleben grundsätzlich verändert haben – und verändern werden“. Ich habe mal irgendwo gehört, es würde ungefähr 200 Jahre dauern, bis Gesellschaften einen adäquaten Umgang und eine selbstbestimmte Verfügung mit einer wichtigen technologischen Erneuerung gefunden haben. Das bedeutet, so ungefähr in diesen Jahren hätten wir kollektiv verstanden, wie der Eisenbahnverkehr funktioniert – was er mit uns macht und wie wir ihn sinnvoll nutzen können. Sechssieben der Mitreisenden in meinem Blickfeld wischen in diesem Moment über ihr Smartphone. Was für eine unnötige Arbeit! Ich frage mich, wie lange es dauert, bis die neuronale Schnittstelle so weit ist, dass Menschen sich einfach zurücklehnen und die Augen schließen und dann ihren Smartphone-Kram vor dem inneren Bildschirm klären. Oder auch nicht zurücklehnen und die Augen schließen, sondern sehenden Auges, permanent mittels des Chips auf ihrer Großhirnrinde kommunizieren, sich informieren, shoppen, zocken, Filme schauen, swipen…
Können wir unter diesen Umständen noch an einen sozialen Fortschritt glauben? Daran, dass die Menschheit einen qualitativen Sprung nach vorn macht und mit ihren Produktions- und Eigentumsverhältnissen auch ihr soziales und ethisches Miteinander grundlegend weiter entwickelt? Landauer hat demgegenüber schon kulturpessimistische Skepsis an den Tag gelegt. Und das zurecht, denn trotz aller Annehmlichkeiten, der Maschinisierung von Arbeiten, der Verlängerung der durchschnittlichen Lebenserwartung und den Potenzialen geteilten Wissens, wird es die Technik nicht richten. Die Hippies wollten daher in ein spirituell verklärtes New Age eintreten. Was daraus folgte waren esoterische Sekten, die Entstehung der Musikindustrie, die Verbreitung von Drogen, Asientourismus und die maßgebliche Prägung von IT-Industrie, inklusive der Entwicklung des Internets. Der soziale Fortschritt der Menschheit scheint aber keinen wirklichen Sprung nach vorne gemacht zu haben. Wer ihn heute wie die Partei der Humanisten propagiert, wirkt nahezu anachronistisch.
Gleichwohl gibt es keinen Weg zurück, weder als verklärte Projektion, noch als ernsthaft denkbare Alternative. Nicht an diesem Punkt, wo die Zerstörungsdynamik staatlich-kapitalistischer Gesellschaften solche Ausmaße angenommen hat, dass Leben täglich unwiederbringlich in ungeheuerlichem Maßstab vernichtet wird. Wenn wir nicht an die Rettung durch ein höheres Wesen glauben – was hier aber auch nur dreinschlagen und aufräumen könnte, wenn wir ehrlich sind und ergo zählt dazu auch der vergöttlichte Staat – bleibt uns nur die bittere Einsicht darin, dass Menschen die Giftsuppe auslöffeln müssen, welche sie eingebrockt haben. Das geht nur durch sozialen Fortschritt. Und weil ihn die privilegierten Klassen, der Strukturkonservatismus, die Ängste vieler Leute und ihre Deformation blockieren, verlangt dies wohl die soziale Revolution. Denn eher katapultieren und graben wir uns aus dem Nullpunkt heraus, als dass das Besitzbürgertum von seiner Verfügungsgewalt abrückt….
Dahingehend sind Kropotkin und ich uns alles in allem völlig einig. Und es tut ja auch mal gut, sich gegenseitig zu bestätigen. Was mir mit der Abgabe der Diss eher etwas zu schaffen macht, ist, dass ich Angst habe, als Angeber und Akademacker gelabelt zu werden. Denn es war nun wirklich nie so, dass ich mich damit profiliert oder über andere erhoben habe. Sondern ich habe eben mein Ding durchgezogen – auch wenn es wie gesagt lange gedauert und an meinen Nerven gezehrt hat. Auch wenn ich mir damit einiges Schöne versagen musste und nicht im Moment leben oder mich um meine Zukunft kümmern konnte. Ebenso schätze ich an Anderen, wenn sie ihre Wege gehen und tolle Fähigkeiten entwickeln, von denen ich keinerlei Plan habe. Wunderbar ist es, wenn wir uns mit unserem unterschiedlichem Können und unseren verschiedenen Seinsweisen ergänzen können!
Wenn ich darüber nachdenke kommt meine Angst vor dem Labeling als Angeber und Besserwisser eigentlich nicht daher, das ich gegenüber den Personen, an die ich damit denke, materiell in irgendeiner Form besser gestellt wäre. Wäre es mir um den Aufbau einer materiellen Sicherheit gegangen, hätte ich das ganze Vorhaben nicht anfangen oder durchziehen, sondern nach meinem Studium die Kurve kriegen und irgendwie ins Berufsleben starten sollen. Nein, die Kommentare und Wahrnehmungen von Personen, die ich meine, liegen glaube ich darin begründet, dass diese mit sich selbst unzufrieden sind. Ihr Gefühl, fremden und eigenen Ansprüchen nicht gerecht zu werden, vielleicht nicht erreicht zu haben, was sie sein wollten oder ihnen suggeriert wird, sie müssten es sein, wird dann gelegentlich auf mich projiziert. Und das nervt mich. Denn es hat nichts mit mir als Person zu tun. Ich fordere keine Anerkennung dafür ein, was ich gemacht habe. Aber ich bin eben auch nicht bereit, mich dauernd verstecken und verbergen zu müssen, dafür, dass ich mir bestimmte Fähigkeiten angeeignet habe. Warum auch? Es bringt doch niemandem was, wenn ich sie verberge, damit Menschen mit Minderwertigkeitskomplexen, mich unterbuttern können, um sich selbst in der sozialen Hierarchie zu erheben…
Vielleicht waren es auch besonders komische Begegnungen, die ich da hatte, wer weiß. Dennoch sprechen Kropotkin und ich länger über das Thema, weil ich ihn fragte, wie er damit umgegangen ist. Und es überrascht mich nicht, dass er damit auch ziemlich zu tun hatte. Aber eben anders als ich, weil er ja einer Elite entstammt und diese Position hinter sich gelassen hat. Wir neigen dazu, die mehr oder weniger großen Revolutionär*innen zu verklären und tun so, als wäre es allein ihre Entscheidung gewesen, sich von ihre Privilegien zu verabschieden. Doch da kommt immer eins zum anderen und ist mit Verzicht und Versagung verbunden. So gestand mir Kropotkin wehmütig, dass er in einem anderen Leben wirklich gerne Professor der Geographie geworden wäre – zweifellos, den Geist und Forschungsdrang dazu hat er. Auch hat er dazu die Leidenschaft und Innovationskraft, sich marginalen Themen zu widmen und sie in die Debatte zu bringen. Doch so sollte es eben nicht kommen nach seiner Inhaftierung in Petersburg, seiner Flucht in die Schweiz, erneuten Inhaftierung in Frankreich, dem Exil in England. So stellte er sein Können, seine Leidenschaft und sein Leben in den Dienst der sozial-revolutionären Bewegungen. Die Umstände seiner Zeit machten es ihm eben nicht möglich, irgendwie angepasst zu leben und die ganze Scheiße um ihn herum zu ertragen.
Sieht es dahingehend heute wirklich anders aus? Ich glaube nicht. Ich glaube, es gibt viele progressive Lehrerinnen, Natur- und Sozialwissenschaftlerinnen, Ärzt*innen und andere Menschen mit universitärer Ausbildung, die innerhalb von bestehenden Institutionen etwa verändern und voranbringen wollen. (Selbstverständlich auch in anderen Bereichen, aber ich spreche hier gerade vom Widerspruch in Kreisen mit akademischem Hintergrund.) Etwas verändern und voranbringen zu wollen, ist aber nicht das gleiche, wie eine sozial-revolutionäre Einstellung zu gewinnen und mit den eigenen Fähigkeiten aktiv emanzipatorische soziale Bewegungen zu unterstützen. Kropotkin hat diesen Weg gewählt, wollte und musste ihn wählen. Und ich … muss meinen eigenen Weg nach wie vor finden – folge ihm dabei zugleich schon die ganze Zeit und harre der Dinge, die da kommen.
Darüber unterhalten ich mich mit Pjotr noch eine gute Weile unserer Bahnfahrt. Er ist ein angenehmer Gesprächspartner. Manchmal etwas sehr rechthaberisch und mit Mansplaining könnte er sich auch mal auseinandersetzen. Insgesamt aber genieße ich die Umfassendheit, Weite und Tiefgründigkeit seines Denkens, verbunden mit seinem starken Glauben an die Menschenwürde und das schon als trotzig zu bezeichnende Beharren darauf, dass sich die gesellschaftlichen Verhältnisse doch besser einrichten lassen müssten. Im Übrigen schätze ich ihn auch sehr für sein klares Bewusstsein darüber, dass es nicht „guten Ideen“, „Gedanken“ oder „Konzepte“ sind, die eine Gesellschaftstransformation möglich machen (wie die bürgerlichen Ideolog*innen glauben), sondern der Organisations-, Bewusstseins- und Aktionsgrad von Kämpfenden in sozialen Bewegungen. Wir verabreden uns lose, uns mal wieder auf einen Spaziergang im Park zu treffen, wenn es sich denn ergibt. Vielleicht war es auch mehr eine Floskel, denn ich weiß, er ist vielbeschäftigt und eingenommen von seinen Projekten. War bei mir bisher ja auch stark so. Jetzt erst mal öffnet sich aber ein Fenster mit Zeit und emotionalen Kapazitäten, dass ich spontaner sein und mich auch auf etwas Neues einlassen könnte. Wir verabschieden uns, als ich an meinem Zielbahnhof aussteige. Als ich hinter mich blicke, lächelt Kropotkin mir noch mal verschmitzt aus seinem wallenden Bart zu. Komischer, lieber, sehnsüchtiger, kämpferischer Kauz, denke ich mir. Vielleicht haben wir doch mehr gemeinsam, als ich mir eingestehen wollte… Und ich schleppe die vier Bücher ins Tal, um sie abzugeben und mich dem Prüfverfahren auszusetzen.
Rückfahrt, Umbruch, Übergang
Landauer trifft mich beim Runterkommen (vierte Geschichte)
Auf dem Rückweg sitzt auf dem Zweiersitz im Zug neben mir ein schnöseliger Typ. Er hat Lederschuhe an, einen offensichtlich teuren Mantel in beige neben sich hängen und eine runde Brille auf. Ich neige nicht wirklich dazu, Menschen in Kategorien zu pressen. Weil ich selbst meine, in diverse Kategorien nicht hinein zu passen und sie zu überschreiten. Naja, da kann man natürlich auch die Fiktion der eigenen Besonderheit draus konstruieren… In diesem Fall fällt es mir aber wirklich schwer, meine Vorurteile zurückzustellen. Denn er liest den aktuellen GegenStandpunkt, das Magazin dieser hyper-marxistischen Sekte, einer längst zugrunde gegangenen Unterunterströmung der Neuen Linken.
Das Problem aus marxistischer Perspektive ist nicht er als Person, sondern er als Subjekt. Das Großbürgerkind Karl reflektierte den Standpunkt des Bürgertums ja sehr gut – und ermöglichte deswegen seine radikale Kritik. Daher kann ich von außen nicht beurteilen, ob der Studi vor allem damit beschäftigt ist, seinen bürgerlichen Standpunkt zu rechtfertigen und dementsprechend auch zu verteidigen – wie die antideutschen Intellektuellen.Oder, ob er tatsächlich an seiner Selbstdemontage arbeitet. Beziehungsweise den Verhältnissen, deren Produkt er ist. Oder – was die komplizierteste Variante wäre – ob er den schnösel-bürgerlichen Habitus mimt, um sich in der radikalen Kritik an ihm zu ihm zugehörig zu fühlen, weil er tatsächlich einem Milieu entstammt, dass in der sozialen Hierarchie weiter unten steht. Klingt seltsam, habe ich aber schön öfters mal erlebt… Mit den Studierenden- und Schlaumeierkreisen habe ich jedenfalls nur noch selten zu tun.
Und darum bin ich froh. Warum also kreisen meine Gedanken in solchen absurden Bahnen? Es wird immer irgendwelche Besserwisser-Studies geben, die super klug und super elitär sind und de facto nichts für sozial-revolutionäre Veränderungen beitragen – so wie die Leute bei Platypus und so weiter. Was verändert sich eigentlich wirklich in linken Debatten und Szenen, außer die Aufmachung der Labels? Sind es nicht immer dieselben Irrwege, welche Jahrzehnt für Jahrzehnt wieder gegangen werden? Und während ich dies denke, weiß ich natürlich auch, dass andere das gleiche von meiner Position sagen. Ein Unterschied ist allerdings, dass ich tatsächlich nicht nur dagegen stehe, sondern protestiere, also für etwas einstehe – und weiß, was es ist.
Blühende ostdeutsche Landschaften ziehen an mir vorbei. Die vierundzwanzigstündig brennende Flamme auf dem Turm der Schadstoffverbrennung in Leuna zieht an mir vorbei. Ganze Jahre ziehen mir vorbei… Ich fühle mich, als wäre ich in den letzten zwei Wochen vier Jahre gealtert – um das chronologische Alter zu erreichen, welches ich jetzt habe?! Wie alt bin ich eigentlich? Älter oder jünger als die Zahl klingt? So genau könnte ich das nicht gerade gar nicht sagen… Leider hatten mich vor zwei Tagen noch mal Dämonen der Vergangenheit beschlichen. Hatte nichts mit der Doktorarbeit oder meinen (anti-)politischen Aktivitäten zu tun. Aber gut, vielleicht wird auch das eines Tages ein Ende haben. Wenn ich Glück habe, vor meinem Tod. Das Wetter ist wieder auf kaltgrau umgeschwenkt und ich bin etwas angeschlagen. Normale Menschen würden jetzt chillen. Ich kann nicht chillen, sondern schreibe diesen Text, nachdem ich Emails geschrieben und etwas bürokratisches geklärt habe. Vielleicht morgen dann, vielleicht morgen. Vielleicht auch demnächst, schön wäre es. Denn ich habe mir eine Auszeit verdient.
Zeiten des Umbruchs und Übergangs sind oftmals viel unspektakulärer, als man sie sich vorstellt oder als sie oft gezeichnet werden. Was auf die soziale Revolution zutrifft, stimmt auch für das individuelle Leben, finde ich. Weil mein Verstand und meine Emotionalität gut funktionieren, ist meine Seele krank von der Gesellschaftsform in der ich lebe. Ausgebeutet, unterdrückt, entfremdet … doch auch so sinnentleert führen wir unsere Leben. Von Urlaub zu Urlaub, Silvester zu Geburtstag, Begegnung zu Begegnung, Ereignis zu Ereignis zieht unsere kurze Zeit an uns vorüber – in einem so fremdbestimmten Dasein. So fremdbestimmt, dass es vielen schon als der eigene Wille, die eigene Entscheidung vorkommt. Und ich denke darüber nach, weil ich mich selbst frage, wo mein Platz war, ist und sein soll; wo mein Weg wohl hinführen mag.
Schon einige Stunden bin ich angekommen an dem Ort, wo ich nun bin und lebe. Eigenartig ist es hier. Nun ist es schon abends und ich hole die Tiefkühlpizza aus dem Ofen. Landauer hat sich zu mir gesetzt und wir unterhalten uns über den Nullpunkt, der zu durchschreiten ist, bevor es Frühling werden kann. „Ach, manchmal ist mir so weh“, sage ich verbittert, „da frage ich, ob mir besser wäre, wenn ich einen Kubitschek, Höcke, Sellner oder Dugin erschiessen würde“. Gustav erwidert: „Aber, aber, mein Lieber! Das will ich nicht noch mal hören! Du wirst dich aufraffen und ein neues Beginnen wagen. Sehen wir die neue Welt nicht aller Orten anbrechen und die sozialistischen Formen wachsen?! Sei nicht so kleingläubig!“. Ich schweige. Denn Recht hat er. Auch wenn ich wieder leicht genervt bin, weil er diese väterliche Art an den Tag legt, wie die anderen Dudes. Und ich mich dann wieder frage, ob ich immer noch diese Ausstrahlung eines kleinen Jungen habe oder was da los ist. Bei Landauer kommt dann noch diese phasenweise Schwurbeligkeit hinzu, die mich anstrengt und ermüdet. Nach der letzten Zeit weiß ich definitiv auch, was Erschöpfung bedeutet.
„Was isst du da überhaupt?“, fragt er, auf meine TK-Pizza deutend. Und ich weiß, was er meint. Denn es ist die Nahrung, welche der industriellen und individualisierten Massengesellschaft entspricht, die wir überwinden müssen. Doch ich stehe dazu, Teil des Ladens und nichts Besseres zu sein. Vielleicht auch, weil ich allzu mäkelig und skeptisch gegenüber den Alternativen bin, die hier und dort vorgebracht werden. Wann aber wird dies zur Ausrede, die Mühen der Veränderung nicht auf sich nehmen zu wollen? Denn da ist ja auch der Wunsch nach persönlicher Veränderung, nach einem guten, schönen und erfüllten Leben auch für mich. Bei mir oder niemandem, heute oder nie, jetzt oder niemals beginnt es anderes zu schaffen und zu verwirklichen.
In aller Ruhe unterhalten wir uns noch eine Weile über den Geist und sein Wirken zur Integration von Gesellschaft entgegen dem Kunstprodukt Nation und der Staatsmaschinerie – in der doch so viele mitlaufen. Und immer mehr wollen wieder mit ihr im Gleichschritt marschieren, anstatt selbst ihre Wege zu finden; gemeinsam, in echter Verbundenheit. Ja, auch tiefe Gemeinschaftlichkeit wäre etwas, was ich mir im Übergang wieder zu lernen wünsche. Was ich zurückgestellt habe in den letzten Jahren – aufgrund der Arbeit, sage ich mir. Aber eigentlich wohl auch aufgrund mancher Enttäuschungen. Und weil ich sie selbst nicht so gut leben konnte. Doch das kann wieder anders werden. Fragend schreiten wir voran und entdecken allerorten und allerzeiten Menschen, die auf der Suche nach libertären und sozialistischen Seinsweisen sind. Wir müssen sie nicht im Außen suchen, sondern im Inneren. Denn dort ist alles angelegt. Am Nullpunkt der vielen Einzelnen, die den Abgrund geschaut haben, entfaltet sich zaghaft-explosionsartig eine mannigfaltige Welt in der viele Welten Platz haben.
Gustav richtet sich auf, nimmt bedachtsam seinen Hut und verabschiedet sich herzlich, wie es seine Art ist. „Danke, dass du dir die Zeit genommen hast“, sage ich zu ihm. Denn ich sehe einen Menschen, der weiß, was Zeit und Zeitlichkeit ist. Gleichzeitig existieren gleiche, freie, solidarische Verhältnisse neben den dominierenden der Hierarchie, des Zwangs oder der Konkurrenz. „Gerne, auf bald!“, erwidert er und ich freue mich, dass auch er nicht „Bitte“ sagt. Denn gebeten habe ich ihn um nichts. Sondern nur etwas Zeit mit ihm geteilt. So bin ich gespannt, was mir begegnen und der Frühling bringen mag…
Suche, Sucht, Sehnsucht
Stirner hängt mit mir ab und ärgert mich (fünfte Geschichte)
Es kann doch wohl nicht wahr sein! Noch nicht mal eine Woche ist es vorbei, dass ich meine Arbeit eingereicht habe und schon fange ich wieder an, über neue Projekte nachzusinnen und produktiv sein zu wollen. Gut, einige Dinge hatte ich auch aufgeschoben. Und am Ende ist die Frage der eigenen Produktivität, ja immer eine von abstrakten Vergleichen mit von außen gesetzten Maßstäben. Aber einfach mal ganz raus zu kommen aus diesem Hamsterrad gelingt mir offenbar nicht. Auch, wenn ich es mir zu großen Teilen selbst geschaffen habe und auch, wenn das, was ich tue, eben nicht dazu führt, dass ich einen anerkannten Job kriege, mir einen Namen mache oder mein sexuelles Kapital steigern könnte. Im Gegenteil! Eher fühlt es sich so an, als würde ich kontinuierlich an meiner Selbstdemontage schrauben, an der Selbstsabotage meines eigenen Glücks.
Und ein Grund dafür ist sicherlich: Die Angst vor der Leere, die Angst vor dem Nichts. Die Verdrängung des Wissens darum, dass ich nur einmal lebe und dann tot sein werde, führt dazu, dass ich krampfhaft etwas erschaffen möchte – und dabei das Leben selbst verpasse. „Oh ha, der abgerissene Möchtegern-Intellektuelle (von der organischen Art…) hat wieder seinen existenziellen Nachmittag!“, höre ich euch da lästern. „Kaum kiffen sie mal Gras mit mehr High, schon denken die Bücherwürmer, sie wären Künstler!“. Und doch kann ich euch sagen, dass mich die Frage mit dem Nichts schon ausführlicher beschäftigt hat früher. Es war mit ungefähr 13, als ich das erste Mal in den Ab-Grund geschaut habe, dass ich in die schwärzeste Schwärze der tiefsten Tiefen gefallen bin. Und weil das später noch mehrmals geschah, habe ich mir vermutlich angewöhnt, den Leerlauf und die Leere zu vermeiden…
Ich sitze mit einem Bier in der Hand am Bordstein in einer verhipsterten alternativen Gegend, in der generell viele Leute stranden, die einen Neustart wagen wollten. Stirner setzt sich neben mich und wir stoßen an. Komischer Typ, denke ich. Je zu einem Viertel reformpädagogischer Lehrer, rotziger Punker, sensibler Philosoph und narzisstischer Selbstdarsteller. Ich weiß, den Syndikalist*innen und anarchistischen Kommunistischen gefällt es nicht, wenn Stirner auftaucht. Sie wollen ihn auch öfters rausschmeißen, so wie sie selbst aus der ersten und zweiten Internationale rausgeworfen und rausgeekelt wurden. Es mag den straighten Gewerkschafts- und Politaktivist*innen gefallen oder nicht – Aber ohne Leute wie den unheiligen Max (bzw. Johann Casper) gäb es wohl auch keinen Anarchismus. Und so ist es kein Zufall, dass Stirner die Angewohnheit hat aufzukreuzen, wenn relativ privilegierte Kleinbürgerkinder sich in der Gosse wähnen.
Der egoistische Individualismus ist die letzte Verfallsstufe des Anarchismus. Es stimmt aber eben auch, dass er seine Initialzündung ist. So befinden sich Alles und Nichts, Chaos und Ordnung, mal wieder in einem wunderbaren Spannungsfeld. Es macht blopp und schäumt als Stirner das nächste Bier öffnet und wir wieder anstoßen. Ja, die Angst vor dem Nichts und Suchtaffinität liegen eng bei einander, habe ich immer wieder festgestellt. Stirner sagt: „Nichts nährt das Nichts und füllt die Leere mehr als Nikotin“ und zündet sich eine Kippe an. Ich nicke. Und dann fängt er an mich zu ärgern. „Na, heute schon wieder für die soziale Revolution geschuftet, wieder Pläne gemacht für die libertär-sozialistische Gesellschaft??“, sagt er kichernd. „Scheint ja gut zu laufen mit der Agitation der großen Massen aktuell – nur eben mehr auf Seiten des liberalen und konservativen Bürgertums“, meint er und ich seufze angestrengt. „Ich mach nur Spaß“, fügt er hinzu, um noch tiefer in die Wunde zu stoßen: „Fände es nur scheiße, wenn du anderen mit deinem post-humanistischen Weltverbesserungsdrang beglücken würdest. Wenn die Leute sich selbst nicht befreien wollen, brauchen sie auch deine Programme nicht, Meiner“.
Und ich erwidere: „Verdammte Axt, Max, is gut. Niemand von meinen Leuten will die Macht an sich reißen und anderen unsere Gesellschaftssysteme aufdrücken, das weißt du. Wir haben darüber reflektiert und daraus ergibt sich der sozial-revolutionäre Weg – also sei nicht so unfair!“. Doch so leicht lässt er nicht locker. „Wäre schon mal Zeit, dass du dich um dich selbst kümmerst, um deinen Selbstgenuss. Sonst wirst du ungenießbar, völlig vertrocknet und einsam für ‚die Sache‘ krepieren. Dagegen ist die Empörung Selbstzweck – und darf sie auch sein. Empörung muss nicht verzweckt überhaupt inhaltlich vorbestimmt werden. Denn die Einzigen, geben ihr ihre Inhalte und Zwecke – welche Milliarden sind.“ Und ich so: „Weißt du, was mich nervt? Dass du so tust, als hättest du das voll geblickt mit dem Nichts, dem Rumgegeistere, der Empörung und der Selbstschöpfung. Wenn ich dich so ansehe, hab ich um ehrlich zu sein nicht den Eindruck, dass du so gut kannst, wovon du faselst.“ Stirner wieder: „Auweia, jetzt wirst du aber plötzlich ganz grantig. Mir geht es halt gegen den Strich, dass Leute als weiße Blätter angesehen werden, auf die alle meinen ihren Kram drauf kritzeln zu dürfen, anstatt das eine jede selbst ihr Leben beschreibt und beschreitet.“
Und so streiten wir noch eine Weile weiter, während sich der Bordstein mit leeren Flaschen und Kippenstummeln füllt. Ab und an geht jemand an uns vorbei und wirft einen erheiterten oder abfälligen Blick auf uns abgerissene Gestalten, denen nichts über sich geht und dann wieder alles über sie. Die ihre Prinzipien haben, nur um sie dann wieder einzureißen; die messerscharfe Kritik üben, nur um sie wieder zu relativieren; die geduldig zuhören und dabei viel Genervtheit in sich reinfressen; die Menschen und Dinge gefunden, und sie wieder verloren haben; die über die Welt und sich darin dauernd nachdenken müssen, obwohl sie sich vor allem wünschen, ungefragt in den Arm genommen und intensiv geküsst zu werden.
Es ist schon lange sehr kalt, wie wir da sitzen und quatschen, streiten, pöbeln, verstehen und missverstehen. Der Frühlingsdurchbruch lässt wie gewohnt auf sich warten und ich bin schon völlig durchgefroren. Wir stehen auf und Max klopft den Staub von seinem fleckigen grauen Mantel, zauselt sich durch die grün gefärbten Haare und rückt seine Brille auf der Nase gerade. Zwinkernd sagt er noch: „Ich hab da neulich diesen Verein gegründet. Komm doch gerne mal vorbei und schau dir eine wirklich freiwillige Assoziation an.“ „Klar, die nächste Kleingruppe, die um sich selbst kreist und nach weniger als einem halben Jahr wieder auflöst“, entgegne ich gähnend, wohl, um unser Zusammentreffen mit dieser Formulierung abzurunden. Stirner geht leise pfeifend, ich aber schweigend meiner Wege. Und ich sage zu mir: Dass es einen Versuch wert ist, die Leere zuzulassen und auszuhalten, um zu erkennen, was denn alles da ist in meinem Leben.
Konsolidierung und Wartehaltung
Pouget sagt mir, dass ich arbeiten gehen soll (sechste Geschichte)
So war es dann also, dass ich immer noch nicht wirklich entspannen konnte, in den Tagen und Wochen nach der Abgabe meiner Arbeit. Ich warte ja auch noch… Auf die Gutachten, auf die Verteidigung. Und je länger der fabrizierte Text ist, desto länger dauert eben das Warten darauf. Was grundsätzlich auch nicht verkehrt ist, denn ich brauche eben auch einige Zeit zur Neuorientierung nach so viereinhalb Jahren Auf und Ab, Ökozid, Faschismus, Pandemie und Krieg. Nach viereinhalb Jahren an etwas arbeiten, von dem du zwischendurch das Zutrauen darin verlierst, dass du das Ganze wirklich einreichen, also auch innerlich halbwegs damit abschließen kannst. Alles recht anstrengend wie gesagt. Und das gute Wetter lässt auch noch auf sich warten…
Neben diversen Selbstverpflichtungen habe ich aber tatsächlich wieder mehr Zeit. Deswegen war ich zumindest mal etwas wie feiern – ein Beitrag, um die Tage später krank zu werden. Bin also doch wieder über die eigenen Kräfte gegangen – keine gute Eigenschaft, die mich an wen erinnert… Aber mehr Zeit, Zeit, ja. In komplett selbstverantwortlich eingeteilter Arbeit ist das kein objektiver Fakt, sondern mehr ein subjektives Empfinden. Denn die Zeit ist ja immer die gleiche – nur der Druck, denkerische Leistungen zu erbringen ist eben unterschiedlich. Das bedeutet, ich konnte ausgiebig während unserer Vorbesprechung für den kurzen Radiobeitrag kiffen und ebenso als Nachbereitung des Ganzen. Und meine Bekannte und ich haben wunderbar qequasselt und herumgeblödelt, das kann ich wohl sagen. Nachdem ich wieder aufgewacht bin und deutlich länger brauchte, um in den Tag zu starten, simulierte ich Arbeit, in dem ich Emails schrieb, eine Broschüre setzte und vermutlich irgendwas im Internet tat. Das Ganze war sicherlich eher eine Vermeidungsstrategie, um mich nicht mit meinem Leben zu beschäftigen: mit Zukunftsängsten vor Krankheit, Prekarität und Einsamkeit, sowie verschiedenen lange zurückgestellten und unbefriedigten Bedürfnissen.
Wo soll ich auch anfangen, in diesem Erwachsenenleben, jetzt, wo die Schule beendet habe?, frage ich mich ironisch-resignierend. Soll ich mir erst eine eigene Wohnung suchen, um mich sortieren zu können oder erst einen Job, um sie bezahlen zu können? Aber warum einen Job? Überhaupt einen Job? Für ungelernte Tätigkeiten bin ich oft ungeeignet oder überqualifiziert oder beides. Für das, was ich gelernt habe, gibt es eigentlich keinen Beruf, außer in der Universität. Denke ich mir zumindest. Dort werde ich aber mit dem, was ich aus eigenem Antrieb erforscht habe, wiederum nicht reinkommen. Ironisch irgendwie. Denn trotz vielfältiger intellektueller Arbeit, habe ich nicht für die richtigen Bände Beiträge verfasst und auf den falschen Konferenzen gesprochen. Ohnehin scheint die Welt der Akademacker nicht meine zu sein.
~ So sinniere ich also gedämpft vor mich hin und merke, dass ich noch eine Weile brauche werde mit der Orientierung. Als ich das Pouget erzähle, lacht der mich hingegen direkt aus. „Get a job, Hippie!“, sagt er zu mir. „Stell dich doch nicht so an, Junge! Die einen erkennen es früh, die anderen eben sehr spät, dass sie proletarisiert werden. Gut, arm warste schon vorher. Jetzt kannste halt noch arbeiten und arm sein. Oder auch nicht, ist wohl eher die Frage, an wen du dich verkaufst. Letztendlich läuft es aber darauf hinaus, wenn du kein Lump sein und klauen willst. Und glaub mir, dass ist die schlechteste aller Arbeiten. Vollkommen sozial unabgesichert, miese Zwischenhändler und du trägst das gesamte Risiko selbst.“ So also spricht der berühmte Anarcho-Syndikalist zu mir. Was ich auch nicht anders erwartet habe. „Klar, Lohnarbeit macht Probleme. Aber deins ist, dass du dich gar nicht mit den Arbeiter*innen identifizieren willst – und darum auch kein Klassenbewusstsein entwickeln kannst. Auch deine schönen Theorien bleiben dann Luftschlösser“.
Doch da kontere ich und sage: „Alter, ich kann es nicht mehr anhören, dieses Du-musst-erst-mal-richtig-arbeiten-Gelaber. Was soll der Quatsch? Ich habe jahrelang gearbeitet und ja, das war unbezahlt. Was ich kann, ist im Kapitalismus so gut wie unverwertbar, wenn ich mich nicht entgegen meiner ethischen Wertvorstellungen verkaufe. Für dich ist es halt erst Arbeit, wenn sie an Lohn gekoppelt ist und du dich rein gezwungen fühlst.“ Émile lässt aber nicht locker: „Ich meine ja nicht, dass ich das Lohnarbeitsverhältnis gut finde oder den Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit als Naturgesetz hinnehme – ganz im Gegenteil! Ja, wir wollen den Kapitalismus und das Privateigentum überwinden, um den tätigen, produzierenden Mensch vom Joch seiner Ausbeuter zu befreien. Aber das muss eben ein kollektiver geführter Kampf einer schlagkräftigen proletarischen Organisation sein. Kein Politiker-Geschwätz, kein Parteien-Geschachere, keine Parlamentariererei. Und kein individualistisches Rumgewurschtel!“
„Klar hast du allgemein Recht“, stimme ich zu. „Das bedeutet aber trotzdem nicht, dass mit meinem Hintergrund als waschechter Arbeiter durchgehe. Und ja, vielleicht ist es auch ein echtes Privileg, dass ich mich damit nicht identifizieren muss, trotzdem ich arm bin. In der autonomen Gewerkschaft wie sie aktuell aufgestellt ist, ist kein Platz für mich. Deswegen wär’s schön, verschiedene Situationen von Menschen mitzudenken. Und dabei weiß ich, dass das Arbeitslosengeld nur die Kehrseite der Lohnarbeit ist. In dieser Hinsicht bin ich ganz Syndikalist: Ich möchte eben keine Kämpfe für andere führen, sondern mit ihnen und nach eigener Betroffenheit.“ Und Pouget – seiner Ausbildung nach übrigens Journalist, also mehr ein Arbeiter der Zunge und des Stifts wie ich – meint versöhnlicher: „Das wird schon, werter Genosse. Der Arbeitszwang wird dich noch früh genug ereilen. Umso mehr solltest du beginnen, dich gewerkschaftlich zu organisieren und Arbeitskämpfe zu führen lernen! Nebenbei ist dir das vielleicht gar nicht so fern. Du bist doch pfiffig und weißt, wozu man einen Schraubschlüssel alles verwenden kann.“ Und er ergänzt augenzwinkernd: „Sonst kommst du dann irgendwann an und willst die Beratung als Dienstleistung abgreifen, so wie die Kohle vom Amt. So nicht, mein Lieber! Komm raus aus deinen Abhängigkeiten, ermächtige dich, übernimm Verantwortung!“
Leider kann ich nicht von der Hand weisen, dass mich seine Argumente überzeugen, auch wenn ich die Lebensrealität aktuell nicht teile. Nicht teilen muss, wie gesagt. Und ebenfalls nicht wie Gleichaltrige oder gar jüngere Genoss*innen, die einen proletarischen Hintergrund haben, über meine Rente nachdenken muss. Mir ist klar, dass ich ohne Menschen mit denen ich solidarisch verbunden bin, abschmieren werde. Nicht erst mit 67, sondern übermorgen. Trotzdem halte ich Kämpfe in-und-gegen die Lohnarbeit für wichtig. Und damit bin ich also wieder mal im Zwischenraum und Zwiespalt zu meinen „autonomen“ – oder wie auch immer – Genoss*innen. Kann es eben stehen lassen, das andere tun, dabei Verbindungen knüpfen und meinen eigenen Weg gehen.
Tja, aber wenn ich darüber nachdenke, wie ich das auf Dauer stellen soll – weil ich aus dem Alter heraus bin, mich für Momente aufzuopfern – komme ich unweigerlich zur Frage zurück, was ich brauche, um langfristig (anti-)politisch aktiv sein zu können. Geld, ein stabiler und vielleicht sogar schöner Wohnraum, frei verfügbare Zeit und niemand, der mich gängelt, machen die Angelegenheit deutlich leichter… „Da beißt sich die schwarze Katze wohl in den Schwanz“, meint Émile noch selbstsicher und verlässt mich, um zur nächsten Person auf seiner Tagesliste zu gehen, von der er einiges über die Arbeitsbedingungen in ihrem neuen Job wissen möchte. „Fuck it!“, sage ich mir. „Ich hab zu viel zu tun für Lohnarbeit!“. Schweigend und sinnierend starre ich den Sonnenuntergang an und sehne mich nach dem Tag nach der Arbeit.
Eine Lektion für den zögerlichen und wankelmütigen Skeptiker
Ich bekomme veranschaulicht, was der Most-Faktor ist (siebente Geschichte)
Und da sitze ich nun auf einer Parkbank, niesend vom Heuschnupfen, latent, aber grundlos nervös, gestresst von der Vergangenheit und davon, was die Zukunft bringen mag. Wie jede vernünftige Person versuche ich diese Gedanken zu verdrängen oder lasse sie zumindest nur phasenweise zu. Denn würde ich mir ernsthaft die Fragen stellen, wo es mit mir hingeht, wie ich innerhalb der bestehenden Herrschaftsordnung gute Miene zum bösen Spiel machen kann und ob ich von ihm gespielt werden sollte, nun ja… so würde ich vermutlich ebenfalls keine Antwort finden und trotzdem mein Leben bestreiten müssen. Manchmal beneide ich die Menschen, die einen Plan haben oder zumindest vorgeben und selbst daran glauben, dass sie einen haben. Und manchmal beneide ich auch den strukturierten Alltag und die feststehenden Verpflichtungen und Sozialgefüge, über welche einige Menschen verfügen. Denn ich stelle mir vor, dass damit vieles Einfacher wäre.
Als notorischer Skeptiker habe ich es mir nie einfach gemacht. Und wurde es mir nicht besonders einfach gemacht. Dies ist ja auch einer der Gründe, warum ich den Dogmatismus und Fundamentalismus im eigenen Lager so schlecht ertragen kann – egal ob in syndikalistischer, nihilistischer oder kommunistischer Ausprägung. Es ist ja schön, wenn Menschen ihre Wahrheiten haben. Wenn ich aber per se den insurrektionalistisch-nihilistischen Politikbegriff ablehne oder die Annahme, es nun mal klar, was Anarchismus sei und wie mensch sich „in Feindschaft zum Bestehenden“ positionieren müsste, ärgert das diese Leute. Wie Donnerstag als mich vier von ihnen trollen wollten. Oder was auch immer sie wollten.
Mit einem weiteren Genossen aus einer anderen Stadt kam ich beim anarchistischen Parkfest ins Gespräch. Und war überrascht, dass er einige meiner Texte kennt, denn so viele lesen sie ja tatsächlich nicht. Er meinte aber auch, dass meine Theorie ganz schön „Pomo“ wäre. Ich fragte irritiert nach, denn ich lese kein twitter und keine Foren. „Postmodern“ meinte er. Und das schien dann irgendwie auch ein Urteil zu sein. Wahrscheinlich würde er demgegenüber für ein „materialistisches“ Denken oder so etwas eintreten. Keine Ahnung. Ich bin raus bei solchen oberflächlichen Debatten. Sie interessieren mich nicht. Das ist für mich politisch-theoretischer Kindergarten. Doch ein Problem mit dem betreffenden Genossen hatte ich trotzdem nicht. Denn er schien für die Sache engagiert zu sein und kein Arschloch zu sein und das zählt für mich letztendlich.
Wenn dann ist meine Theorie porno. Und das in einem durchaus langweiligen Sinne. Sie stellt recht offensichtlich dar, was ist, um eine Reflexionsebene zu ermöglichen. Spannend wird es immer, wenn damit die Phantasie angeregt wird und Menschen ins Ausprobieren eigener theoretischer Praktiken kommen. Doch das geschieht glaube ich nur selten. Wenn Leute Theorie konsumieren, umgehen sie oftmals die eigene gedankliche Beschäftigung mit einem Gegenstand. Sie finden eine Theorie-Person, deren Gedankengänge, Sprache und Bilder sympathisch, interessant, abstoßend oder schlecht. Und dementsprechend gewinnen sie den dargelegten Gedanken etwas zu einem gewissen Grad ab oder nicht.
Da Theorie eine Reflexionsebene eröffnet, muss sie zunächst einfach plump darstellen. Und es ist auch in Ordnung, wenn spezialisierte Personen die theoretische Interaktion, Debatte und Streiterei stellvertretend übernehmen, sodass Menschen sie sich anschauen können. Der Wert der Theorie für emanzipatorische soziale Bewegungen sollte sich nicht an einem Zeugungs- und Fruchtbarkeitsparadigma messen lassen, sondern für sich selbst gelten. Die Flucht in die Theorie kann eine legitime Verweigerung einer schlechten Realität sein. Wenn theoretisches Denken und Arbeiten aber wirkmächtig werden soll, um sie zu verändern, ist mit ihm die Phantasie, Reflexion, denkerische Schärfe und Selbsttätigkeit aller anzuregen, die daran interessiert sind, über die bestehende Herrschaftsordnung hinaus zu gelangen.
Diesen Überlegungen hänge ich also in einer Kneipe nach, während der Freund, der mit mir hier ist und ich schweigen und Pommes essen. Doch werde ich jäh aus meinen Abstraktionen gerissen, als Most polternd den Raum betritt und alle Anwesenden mit den Worten begrüßt: „Na ihr Stiefellecker, übt ihr euch immer noch im Katzbuckeln? Gönnt euch mal eine Pause davon und putzt zur Abwechslung mal eure eigenen Schuhe, damit ihr den Bonzen mal einen gehörigen Arschtritt verpassen könnt, der ihrem Clan angemessen ist.“ Eine Person am Tisch neben dem Eingang schaut verlegen weg, jemand am Tresen lacht höflich und der Wirt sagt: „Hallo Johann, heute wieder das Übliche?“ während er schon dabei ist, ihm ein großes Helles zu zapfen. Nun ja, diese Kaschemme wird von so einigen Gestalten aufgesucht. Nicht ganz ohne Zufall bin ich in dieser Lebenslage ja auch mal wieder hier gelandet. Mich freut es, mir ist es aber auch etwas unangenehm, dass der große Agitator sich dann zu uns gesellt.
Die meisten sind von Mosts polterigem Auftreten gleichermaßen beeindruckt und eingeschüchtert. Da ich ihn etwas kenne und die Menschen kenne, weiß ich, womit das zu tun hat. Ein subjektiver Ausgangspunkt war freilich der Knochenfras und die Operation in seiner Kindheit. Seine Schulkameraden und die Nachbarskinder nannten ihn Hackfressen-John. „Hau dem mal eine rein, Hans, damit sein Gesicht wieder schöner wird“ – und dann lachten sie alle. Ja, das hatte sich tief eingegraben und der wilde Bart verdeckte vielleicht die körperliche Narbe etwas, kurierte aber nicht die seelischen, die sich ihm eingeschrieben haben. Was ich an Most aber immer faszinierend fand, war, dass er aufgrund seiner Kränkung eben nicht wie so viele nach unten tritt oder selbst zum Speichellecker wird, um Anteil an der Macht zu haben. Sondern das er alle Gekränkten, Ausgebeuteten und Unterdrückten zusammenbringen will, damit sich diese kollektiv ermächtigen und die Ursache ihrer Schmach an der Wurzel bekämpfen können. Und damit hat er es durchaus weit gebracht – wenn auch nicht in Kategorien seines individuellen Glücks bemessen, weswegen er seine menschlich unangenehmen Seiten immer schlechter kaschieren konnte. „Danke, Mäuschen“, sagt er zur Kellnerin, die ihm ein Schnitzel bringt und ich runzle meine Stirn, wohl wissend, dass ich diesen Haudegen auch nicht mehr ändern werde.
„Na ihr beiden? Wie gefiel euch die Demo letztens durch das Reichviertel“, fragt er uns – ohne wirklich an der Antwort interessiert zu sein. „War doch ne famose Sache, den Säcken etwas Feuer unterm Hintern zu machen, damit sie sich noch mal überlegen, die Steuern rauf zu setzen. Inflation, Inflation, rufen sie jetzt ja fortlaufend. Als wenn es ein Naturgesetz wäre, dass sie uns auf immer neue Weise ausquetschen wollen, diese Blutsauger!“. „Naja“, entgegne ich pro forma, um ins Gespräch einzusteigen, „die Leute verstehen die wirtschaftlichen Vorgänge eben nicht so leicht und das verunsichert sie. Es ist ja auch wirklich schwierig durchzusehen bei all den globalen Verflechtungen, dem Finanzmarkt und so weiter“. Johann kontert: „Ach Papperlapapp, jetzt schwätz du mal nicht. Die Proleten wissen was nen Bonze ist, wenn sie ihn sehen und die politische Ökonomie dieser Diebesbande ist doch schnell erläutert. Hören wollen sie doch vor allem, dass sie sich nicht unterkriegen lassen müssen und das sie sich wehren können! Dies gilt es dem Volk entgegen zu rufen und praktisch zu veranschaulichen!“. Damit ist Most ganz in seiner Rolle. Seinen sozial-revolutionären Anarcho-Populismus, beziehungsweise das voran peitschende Element in ihm, nenne ich daher persönlich auch den „Most-Faktor“. Aber das habe ich ihm nicht gesagt. Er weiß, dass die Leute über ihn reden, reagiert darauf aber oft sehr gereizt…
„Schau mal hier. Neulich die Versammlung in Chemnitz“, spricht er und zeigt mir ein Foto auf seinem Smartphone. „Wie viele Leute denkst du sind das?“, fragt er mich. Ich sage: „Naja, so viele scheinen es nicht gerade zu sein. Ich schätze mal grob siebzig“. Und er: „Was siebzig? Quatsch mit Soße, doppelt so viele sind ja nicht im Bild, weil se auf der anderen Seite vom Platz stehen und ein paar sind schon mit einer Sponti voran geprescht!“. Er wischt auf dem Gerät herum und fotoshopt recht zügig eine Sprechblase in die Ecke oben links, in welche er die Worte einfügt: „Dem Klassenstaat das Fürchten lehren! Erneut Kundgebung mit 300 Leuten am roten Turm. Voller Erfolg für die sozial-revolutionäre Bewegung!!!!“. Ja wirklich, er tippt dann fünf Ausrufezeichen ans Ende, bevor er das Bild in seinen social media Kanälen teilt.
Ein Kämpfer, ein Hater, ein Verachter des Reichskasperletheaters, in welches er tatsächlich mal für eine Legislaturperiode gewählt wurde, bevor er mit dem ganzen Parteienzirkus brach. Ein gekränkter Mensch, der sich aber nicht aufhalten lässt von Skepsis, Zweifeln, Selbstmitleid, die er einfach verdrängt. In gewisser Hinsicht, könnte ich mir schon manchmal eine Scheibe von ihm abschneiden, sage ich zu mir. Vor allem darf man halt nicht ganz einsam werden, wenn man sein Leben mit kämpfen verbringen muss – und darum verbringen will. Und auch Anderen Raum geben, ohne sich selbst dauernd zurück zu stellen. Diese Balance zu halten, ist schwierig, aber wichtig. Dann verabschiedet Johann sich schnell und murmelt etwas davon, noch einen Artikel fertig schreiben zu müssen. Vielleicht, so denke ich, braucht er aber auch mal etwas Zeit für sich und seine Zweifel?
Eine (anti-)politische Romanze
Malatesta erweist mir die Ehre (achte Geschichte)
„Lasst euch nicht erzähl’n, ihr hättet ein Problem! Propaganda der Yuppi-Schweine, Arbeit hat man besser keine!“ höre ich, während ich am See liege, ein Seminar vorbereite, daran denke, dass ich Freitag wieder mal einen Vortrag halten werde und auch daran, dass ich meine Diss in ein handliches, verständliches Buch umschreiben müsste. Also ein neues Buch, dessen Lohn darin bestünde, dass vielleicht ein paar hundert Menschen mehr sich mit meinen Gedanken auseinandersetzen und weiterbilden könnten. Machen wir uns nichts vor: Meine Tätigkeiten sind extrem unsexy und stellen ja vor allem eine Prokrastination von Verantwortungsnahme und eigenem Lebensgenuss dar. Wieder einmal beschleicht mich dieses erschreckende Gefühl, dass mein Leben an mir vorbei zieht und immer schneller läuft. Und auch wenn ich denke, dass dies vielleicht allen bisweilen mal so geht, frage ich mich doch, ob sich hier nicht der Schraubschlüssel rein werfen ließe. Doch Leben ist Wandel und Stillstand ist Tod – die Konsequenz daraus wäre also das Gegenteil von dem, was ich anstrebe.
Wenn ich ehrlich bin, möchte ich ja nur meine Ruhe. Und ja, ich beneide auch die Menschen, die ihre Arbeit, ihre Familie, ihren geregelten Alltag, ihren Kleingarten haben. Sie sind damit im Durchschnitt sicherlich nicht mehr oder weniger zufrieden als ich, der ich permanent herum renne in meiner kleinen Welt. Oftmals auch nur innerlich. Naja klar, da fehlen eben Dinge. Sie fehlten schon immer, ebenso wie das Zutrauen darin, dass es besser werden könnte und mein Leben mehr wert sein sollte. Gegen einen gesunden Pessimismus ist nichts einzuwenden, denke ich mir. Gegen funktionale Depression schon. Denn andere können die Dinge eben etwas leichter nehmen oder lassen sich das eigene Glück zumindest nicht vermiesen, weil sie es sich wert sind.
Ich weiß, das klingt wohl ganz schön niederschmetternd. Besser aber die Dinge klar zu benennen, als die ganze Zeit um den heißen Brei herum zu reden. Es hat ja Gründe, warum ein Mensch zum Theoretiker und Anarchisten wird. In meinem Fall als anarchistischer Theoretiker kommen dann noch zwei ungünstige Dispositionen zusammen. Da will ich voranschreiten, doch die Meta-Reflexion hindert mich am unmittelbaren Leben, wie ich unterstelle, dass es meine Gesinnungsgenoss*innen könnten. Und als Theoretiker bin ich eben auch nicht mit mir im Reinen, weil ich wieder das Gefühl habe, ich müsste das erwähnte oder ein anderes Buch schreiben. Doch wozu, wenn es niemanden in der eigenen Szene interessiert und es im akademischen Raum ebenfalls nicht gewertschätzt wird?
Doch nun gut, was soll ich resignieren? Immerhin ist das Wetter wirklich schön, denke ich mir. Und gerade als ich auf das Fahrrad steigen will, erhalte ich eine SMS. Sie ist von Malatesta. Oh mein Gott! Merklich steigt mein Puls an und ich werde direkt faserig. Lange war es her, dass ich ihn getroffen hatte. Zuletzt war es auf einer Konferenz. Er wäre gerade in der Stadt, hätte was zu klären, aber auch etwas Zeit. Ob wir uns für einen Waldspaziergang treffen wollen? Ohne Handys versteht sich. Ich hatte heute keine Termine oder sonstigen Verabredungen mehr, aber wenn hätte ich sie sofort abgesagt. Oder einfach vergessen. Hoch erfreut antworte ich ihm also, fahre nach Hause und von dort zur vereinbarten Stelle mit der Bank vor den großen Platanen.
Dort steht der kleine Mann im Sommermantel bereits an einen Baum gelehnt. „Hallo Errico“, sage ich verlegen-erfreut und er kommt mir entgegen – doch wir umarmen und nicht, sondern schütteln uns nur die Hände. Doch blickt er mir mit seinem scharfen, verschmitzten Blick kurz tief in die Augen. „Lange war’s her, das wir uns gesehen haben… Ich glaube auf diesem Kongress in…“, spricht er. Und selbstverständlich erinnert er sich, weil er eben so ein aufmerksamer, pfiffiger Kerl ist. Damit beginnen wir unseren Spaziergang und sprechen über das Naheliegende: Über die (Anti-)Politik.
Malatesta erkundigt sich, wie es lokal und regional so läuft im anarchistisch-autonomen-antiautoritären Lager. Ob wir es hinbekommen eine gute Propaganda- und Kommunikationsarbeit zu machen. Ob wir neue Leute dazu gewonnen haben. Ob sich die Subkultur weiter entpolitisiere oder wieder ein rebellisches Refugium werden könnte. Wie der Stand unserer Debatte ist in Hinblick auf die aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen von Kapitalismus, Klimakollaps, Pandemie und Krieg. Ob wir eine vernünftige Bündnisarbeit mit anderen emanzipatorischen Strömungen hinbekämen und es schaffen würden, außerhalb unserer Blase aktiv zu sein. Geflissentlich beantworte ich alle seine Fragen, ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, mit einem Blick dafür zu unterscheiden, was ich generell feststellen kann und was meine persönliche Einschätzung ist. Denn warum sollte ich ihm etwas vormachen? Immerhin können wir nur Veränderungen bewirken, wenn wir die Gegebenheiten klar benennen und deuten.
Eine gute Weile sprechen wir auch darüber, was es bedeutet im Widerspruch mit der bestehenden Herrschaftsordnung zu leben und die Widersprüche in unserer Bewegung und in uns selbst auszuhalten. Denn wenn wir keine absoluten Wahrheiten haben, wie können wir dennoch darauf vertrauen, dass unsere Wege schon die richtigen sind? Und er erzählt auch von sich. Wie er die Dinge sieht; dass ihn bedrückt keine Zeit für seine Freundschaften zu haben, weil er so viel unterwegs ist für die Sache. Und das er es nicht mag, dass ihm sein Ruf vorauseilt – auch wenn ihn etliche Genoss*innen aufgrund seiner selbstkritischen Art und weil er den Finger in die Wunden unserer Bewegung legt, verfluchen. „Heute wirst du von der Masse gefeiert, morgen von ihr fallen gelassen. In einer Phase hast du Macht in der Bewegung aufgrund deines Engagements, in einer anderen mindert sich deine Anerkennung, weil irgendein von seinem Ego eingenommener Genosse plötzlich großspurige Reden von sich gibt und die anderen sich davon blenden lassen. Es bleibt kompliziert unter diesen Bedingungen eine langfristige Strategie zu entwickeln“, klagt mir Errico sein Leid. Und ich bestätige ihn fortwährend, weil ich den Eindruck habe, ich wisse genau. Denn ich denke, es wäre ohnehin alles so scharfsinnig, reflektiert und durchdacht, was er erzählt.
Es ist eben leider so. Ich bin etwas in ihn verknallt, glaube ich. Schon komisch, denn auch wenn ich mir meine homoerotischen Neigungen stets eingestehen konnte, hatte ich nie den Mumm, sie weiter zu verfolgen. Ein Begehren überkommt mich bei Männern sehr viel seltener als in Hinblick auf Frauen. Darüber hinaus fühlt es sich aber auch merkwürdig anders an. Geheimnisvoller, würde ich sagen. Und ich weiß nicht, ob ich nicht sogar bedauere, als junger Erwachsener nicht einfach andere Erfahrungen gemacht zu haben… Wie auch immer, ich hänge Malatesta an den Lippen. Also leider nur im übertragenen Sinne, nicht im wörtlichen. Denn dazu habe ich offenbar nicht den Mut. Mal abgesehen davon, dass ich ohnehin ziemliche Probleme mit dem Thema Erotik und Liebe habe, hat es auch bestimmte Gründe, dass ich mich nie mit Genoss*innen eingelassen habe. Ich vermute, es erschien mir intuitiv immer besser (Anti-)Politik und Romantik zu trennen, weil beides schon für sich genommen verwirrend genug ist und schnell zu Streit führt. Doch bei Errico könnte ich mir vorstellen eine Ausnahme zu machen… Sein Scharfsinn und seine Empathie verzücken mich. Ich halte ihn für weich, aber bestimmt. Er kennt seine Grenzen und kann führen. Ich würde mich gerne bei ihm fallen lassen…
„Wo bist du mit deinen Gedanken?“, fragt er mich, offenbar bemerkend, dass ich arg verträumt vor mich hinstarre. „Oh, ähmm, ähh“, stammle ich, „ich – ähhh – habe anknüpfend an das was du zu populären Mobilisierungen gesagt hast, darüber nachgedacht, in welchen Situationen ich mich habe begeistern lassen für … die Anarchie … und – ähm – mich dann eben zu organisieren. Letztendlich sind es doch immer die konkreten Menschen, die einen faszinieren und mitreißen, oder?“. „Eben“, entgegnet Malatesta milde. Und weiter: „Siehst du und du bist auch ein toller, reflektierter und kluger Mensch. Du kannst denken, aber koppelst das nicht von deinem Gefühl ab. Du kannst beurteilen, aber weißt um die Grenzen und Relativität deiner Einschätzungen. Du kannst Menschen auf deine Weise begeistern, ohne, dass du ihnen irgendwas vormachen brauchst. Das ist viel wert. Nutze diese Fähigkeiten und bring sie für unsere Sache ein“.
Tja und was soll ich sagen? Ich glaube es war der schönste, unausgesprochene Korb den ich im letzten Jahr bekommen habe. So trennten sich unsere Wege und wir vereinbarten, uns wieder beieinander zu melden beziehungsweise gegebenenfalls per Email in Kontakt zu treten, falls es etwas Bestimmtes gibt.
Selbstreflexion braucht solidarische Kritik
Goldman macht mir eine Ansage (neunte Geschichte)
Dann werde ich also auf die anarchistische Buchmesse fahren um meine Gedanken zu präsentieren und Mitte Juni in den Norden, um ein paar Veranstaltungen zu machen. Eigentlich würde ich nur so etwas machen, Seminare geben und Texte zu meinen Themen produzieren – wenn ich denn davon leben könnte. Es zumindest insofern einen gewissen Wert als das anarchistisches Denken am Leben gehalten, weiter gegeben und auch weiter gedacht wird. Und im deutschsprachigen Raum gibt es nun mal wenige Menschen, die dies als ihre Aufgabe erachten und mit erlernten theoretischen Fähigkeiten verbinden können. Das ist auch verständlich. Der Fame für nicht-institutionell angebundene anarchistische Intellektuelle, die sich nicht als besonders krass inszenieren, sondern besonders bodenständig sein wollen, hält sich sehr in Grenzen. Die paar Fans sind oftmals nicht zahlreicher als die paar Hater, die an mir was gefunden haben. Und die Bezahlung ist… nun ja, im Wesentlichen ein moralisch gutes Gefühl, mit meinen Fähigkeiten und meiner Seinsweise etwas sinnvolles gemacht zu haben.
Ich bilde mir manchmal ein, damit in manchen Fällen auch die lokalen Szenen zu bestärken, weil sie dann etwas Thematisches nach außen hin anbieten können. Schwierig ist es aber, wenn lokale A-Gruppen gar keine Aktiven hervorbringen, die mit einer gewissen Bildung in der Öffentlichkeit auftreten und sprechen können. Jetzt, wo ich sogar den langen, zermürbenden Weg der Promotion gegangen bin, wäre ich vermutlich sogar in der Position, Genoss*innen in anarchistischer Theorie und Veranstaltungen dazu auszubilden. Soll ich das aber wieder – wie gewohnt – alleine angehen? Es gibt auch Menschen, die auf einem ähnlichen denkerischen Level wie ich unterwegs sind. Diese sind aber wiederum nicht so aktivistisch eingestellt, als dass sie Anarchismus als potenziell sozial-revolutionäre, organisierende, vermittelnde und radikalisierende Kraft innerhalb emanzipatorischer sozialer Bewegungen begreifen. Sie machen vielleicht auch mal eine Veranstaltung, einen Text oder intervenieren in eine Debatte. Darüber hinaus denke ich aber, dass sie sich deutlich besser um sich kümmern und mit der Gegenwartsgesellschaft arrangieren können, als ich. Das ist allerdings erst mal eine Unterstellung von einem chronischen Nörgler.
Solche Überlegungen gehen mir jedenfalls durch den Kopf, als ich im Infoladen meines Vertrauens abhänge, um mir die Zeit zu vertreiben. Plötzlich schwingt die Tür auf und Goldman kommt stürmisch in den Raum. Ich merke gleich, sie ist unter Strom, energetisch und sauer. Sie stopft ein Bündel mitgebrachte Plakate in ein Regal, was offenbar der Anlass für ihren Besuch ist, wendet sich dann aber mir zu und fragt bissig, aber nicht unsolidarisch: „Na Herr Doktor, was macht die Agitation?“ Ich antworte, dass ich für Mitte Juni eine kleine Vortragsreise plane, schon etwas aufgeregt bin deswegen, mich aber freue, mit diesem Anlass mal raus zu kommen. „Und was macht das Selbstmitleid und das Kreisen um dich selbst, lost boy?“, hakt Emma weiter nach. Und ich merke, dass ich ruhig bleiben sollte, weil es uns beiden nichts bringen würde, hier und jetzt in eine Konfrontation zu gehen.
Also antworte ich: „Wenn du schon nachfragst, das Übliche: Die Arbeit, die Wohnung, der Sinn und die Liebe. Vor allem die Liebe. Ich weiß eigentlich nicht, wo ich anfangen soll, diese Baustellen anzugehen.“ Sie darauf hin: „Und aus kritischer Männlichkeit wurde wieder mal nichts, ja? Zeit für Selbstmitleid haste, aber keine für Selbstsorge? Meine Güte, wenn ich nur halb so viele Genossen wie dich emotional durchbringen müsste, hätte ich auch mal wieder Zeit für die eine oder andere Mußestunde neben dem Vollzeitaktivismus.“ Darauf erwidere ich: „Jetzt gib mir aber auch mal ne Chance zur Weiterentwicklung! Wenn du mich an meinen alten Verhaltensweisen misst und die Kategorien presst, die du bei anderen Cis-Männern kritisierst, hab ich doch gar keine Möglichkeit, weiter zu kommen. Aber ja, wenn ich meine Selbstzweifel einfach über Bord werfen und so tun könnte, als wenn ich voll den Plan hätte, nicht am struggeln wäre und so weiter, kämst du als emanzipierte Frau besser darauf klar. Dann wüsstest du wenigstens, dass dieser Typ ein Typ ist. Und nicht so ein lädiertes Wrack in der männlichen Hierarchie, wie ich.“
Doch Goldman lässt nicht so leicht locker und ist im Streitgespräch erprobt wie kaum eine andere Genoss*in, die ich kenne. „Was für Ausreden, was für Ablenkungsmanöver. Ja dann sei doch verdammt noch mal ein Kerl, wenn du es nicht sein lassen kannst, aber emanzipiere dich von der Geschlechterhierarchie indem du aktiv gegen sie vorgehst!“ „Gut okay“, antworte ich. „Würdest du mir einen Hinweis geben, mir zu sagen, wo ich anfangen kann?“. „Ja, aber nur weil ich bei dir noch Potenzial sehe. Und sicherlich ist es nicht an sich meine Aufgabe! Also fang doch meinetwegen in der Theoriearbeit an und in den Geschichtchen über die Genossen, denen du jetzt allen noch mal begegnet bist. Sorel, Bakunin, Kropotkin, Landauer, Stirner, Pouget, Most, Malatesta – alles Typen. Dann gibt’s die antifeministischen Anarchos wie Sorel und Most – vor allem Most, dieser Arsch – und die patriarchalen Väterchen wie Kropotkin und Landauer. Bakunin hätte mal sein Selbstbild reflektieren sollen, Pouget ist so nen Nebenwidersprüchler und Stirner kann keine strukturellen Unterdrückungsverhältnisse sehen. Und was du über Malatesta geschrieben denkst … naja, sagt wohl eher was über deine Heteronormativität aus, als über ihn.“
„Ja, so sieht’s aus“, sage ich. „Ich stimme dir zu. Es sind alles Typen, ein Verein weißer Cis-Typen. Also im Grunde genommen ein Männerbund. Und wenn du das kritisierst, wirst du gleich wieder als die Alibi-Anarchistin gesehen, die sich um den Feminismus im Anarchismus zu kümmern hätte, obwohl du eigentlich auch ganz andere Themen hast. Das ist scheiße, zugegeben. Aber ändert doch nichts daran, dass mich diese Genossen geprägt und beeindruckt haben, nun ja, dass sie eben auch geschrieben haben und ich mich jetzt darauf beziehen kann. Und in gewisser Weise muss ich mich ja auch auf sie beziehen, denn Anarchismus sollte schon auch so dargestellt werden, wie er historisch auch – ich sage: auch, nicht: nur – war.“ Emma wird nun etwas ruhiger, vielleicht weil sie merkt, dass ich in dieser Lebensphase besonders mit mir selbst zu hadern habe. Und es wohl auch rüber kommt, dass ich gar nichts zu verteidigen habe am Typen-Verein. „Nun gut, also das Wesentliche ist doch die Auseinandersetzung, ich denke, das sehen wir ganz ähnlich. Genosse bleibt Genosse beziehungsweise Genossin, auch mit seinen und ihren Schwierigkeiten. Als Anarchist*innen haben wir ja alle unsere Päckchen zu tragen. Und das ist in Ordnung, denn gesamtgesellschaftliche Emanzipation muss immer mit der Veränderung von Einzelnen einhergehen und durch ihre individuelles Engagement getragen werden. Deswegen stehen wir ja nicht für eine Politik der Masse ein, sondern plädieren für aktive, gut organisierte und reflektierte Minderheiten. Sie können den erforderlichen, grundlegenden Wandel bringen, wenn sie sich aufeinander beziehen und miteinander verbünden. Das bedeutet dann aber auch: Den Strich zu ziehen zu reaktionären Kräften, etwa Antifeministen, Homophoben, Verschwörungsmythologen und Antisemiten in den eigenen Reihen.“
Und so verstricken wir uns noch eine gute Weile in ein tieferes Gespräch über dies und jenes. Wir kotzen zum Beispiel noch mal über die antiimperialistischen Tankies und Putin-Versteher ab, während wir zugleich darum wissen, dass unsere Leute in der Ukraine auch nicht viele sind und sich in einem großen Widerspruch befinden. Damit umkreisen wir das Thema, weshalb es so schwierig ist, heute antinationale Perspektiven aufzumachen – stellen dann aber wiederum fest, dass es in früheren Zeiten auch nicht leicht war, solche aufzumachen. Es ist eben das Schöne mit Goldman, dass wir uns streiten und uns dann trotzdem wieder über (anti-)politische Themen austauschen können, die zugleich unsere eigenen Gefühle, unsere Traurigkeit, Wut, Freude und Hoffnung, dazu nicht ausschließt. Auf diese Weise ist es für mich auch einfach einzusehen, dass ich mich noch persönlich in einiger Hinsicht weiterentwickeln muss. Als auch, dass eine ansprechendere und angemessenere Theorieproduktion betreiben will, in der andere Perspektiven einbezogen werden. Dass ich dabei ein weißer, akademischer Mann bin, ist nicht der Punkt, sondern ob ich meine, aus diesen Gründen eher etwas zu sagen zu haben, als andere. Das denke ich meistens nicht. Und trotzdem spreche ich weiter zu den Themen, mit denen ich mich lange beschäftigt habe und was sagen kann…
Dann werde ich also auf die anarchistische Buchmesse fahren um meine Gedanken zu präsentieren und Mitte Juni in den Norden, um ein paar Veranstaltungen zu machen. Eigentlich würde ich nur so etwas machen, Seminare geben und Texte zu meinen Themen produzieren – wenn ich denn davon leben könnte. Das hat zumindest insofern einen gewissen Wert, als das anarchistisches Denken am Leben gehalten, weiter gegeben und auch weiter gedacht wird. Und im deutschsprachigen Raum gibt es nun mal wenige Menschen, die dies als ihre Aufgabe erachten und mit erlernten theoretischen Fähigkeiten verbinden können. Das ist auch verständlich. Der Fame für nicht-institutionell angebundene anarchistische Intellektuelle, die sich nicht als besonders krass inszenieren, sondern besonders bodenständig sein wollen, hält sich sehr in Grenzen. Die paar Fans sind oftmals nicht zahlreicher als die paar Hater, die eine Strohpuppe in mir gefunden haben. Meine Bezahlung ist… nun ja, im Wesentlichen ein moralisch gutes Gefühl, mit meinen Fähigkeiten und meiner Seinsweise etwas sinnvolles gemacht zu haben.
Ich bilde mir manchmal ein, damit in manchen Fällen auch die lokalen Szenen zu bestärken, weil sie dann etwas Thematisches nach außen hin anbieten können. Schwierig ist es aber, wenn lokale A-Gruppen gar keine Aktiven hervorbringen, die mit einer gewissen Bildung in der Öffentlichkeit auftreten und sprechen können. Jetzt, wo ich sogar den langen, zermürbenden Weg der Promotion gegangen bin, wäre ich vermutlich sogar in der Position, Genoss*innen in anarchistischer Theorie und Veranstaltungen auszubilden. Soll ich das aber wieder – wie gewohnt – alleine angehen? Es gibt auch Menschen, die auf einem ähnlichen denkerischen Level wie ich unterwegs sind. Diese sind aber wiederum nicht so aktivistisch eingestellt, als dass sie Anarchismus als potenziell sozial-revolutionäre, organisierende, vermittelnde und radikalisierende Kraft innerhalb emanzipatorischer sozialer Bewegungen begreifen. Sie machen vielleicht auch mal eine Veranstaltung, einen Text oder intervenieren in eine Debatte. Darüber hinaus denke ich aber, dass sie sich deutlich besser um sich kümmern und mit der Gegenwartsgesellschaft arrangieren können, als ich. Das ist allerdings erst mal eine Unterstellung von einem chronischen Nörgler.
Es kann doch wohl nicht wahr sein! Noch nicht mal eine Woche ist es vorbei, dass ich meine Arbeit eingereicht habe und schon fange ich wieder an, über neue Projekte nachzusinnen und produktiv sein zu wollen. Gut, einige Dinge hatte ich auch aufgeschoben. Und am Ende ist die Frage der eigenen Produktivität, ja immer eine von abstrakten Vergleichen mit von außen gesetzten Maßstäben. Aber einfach mal ganz raus zu kommen aus diesem Hamsterrad gelingt mir offenbar nicht. Auch, wenn ich es mir zu großen Teilen selbst geschaffen habe und auch, wenn das, was ich tue, eben nicht dazu führt, dass ich einen anerkannten Job kriege, mir einen Namen mache oder mein sexuelles Kapital steigern könnte. Im Gegenteil! Eher fühlt es sich so an, als würde ich kontinuierlich an meiner Selbstdemontage schrauben, an der Selbstsabotage meines eigenen Glücks.
Und ein Grund dafür ist sicherlich: Die Angst vor der Leere, die Angst vor dem Nichts. Die Verdrängung des Wissens darum, dass ich nur einmal lebe und dann tot sein werde, führt dazu, dass ich krampfhaft etwas erschaffen möchte – und dabei das Leben selbst verpasse. „Oh ha, der abgerissene Möchtegern-Intellektuelle (von der organischen Art…) hat wieder seinen existenziellen Nachmittag!“, höre ich euch da lästern. „Kaum kiffen sie mal Gras mit mehr High, schon denken die Bücherwürmer, sie wären Künstler!“. Und doch kann ich euch sagen, dass mich die Frage mit dem Nichts schon ausführlicher beschäftigt hat früher. Es war mit ungefähr 13, als ich das erste Mal in den Ab-Grund geschaut habe, dass ich in die schwärzeste Schwärze der tiefsten Tiefen gefallen bin. Und weil das später noch mehrmals geschah, habe ich mir vermutlich angewöhnt, den Leerlauf und die Leere zu vermeiden…
Ich sitze mit einem Bier in der Hand am Bordstein in einer verhipsterten alternativen Gegend, in der generell viele Leute stranden, die einen Neustart wagen wollten. Stirner setzt sich neben mich und wir stoßen an. Komischer Typ, denke ich. Je zu einem Viertel reformpädagogischer Lehrer, rotziger Punker, sensibler Philosoph und narzisstischer Selbstdarsteller. Ich weiß, den Syndikalist*innen und anarchistischen Kommunistischen gefällt es nicht, wenn Stirner auftaucht. Sie wollen ihn auch öfters rausschmeißen, so wie sie selbst aus der ersten und zweiten Internationale rausgeworfen und rausgeekelt wurden. Es mag den straighten Gewerkschafts- und Politaktivist*innen gefallen oder nicht – Aber ohne Leute wie den unheiligen Max (bzw. Johann Casper) gäb es wohl auch keinen Anarchismus. Und so ist es kein Zufall, dass Stirner die Angewohnheit aufzukreuzen hat, wenn relativ privilegierte Kleinbürgerkinder sich in der Gosse wähnen.
Auf dem Rückweg sitzt auf dem Zweiersitz im Zug neben mir ein schnöseliger Typ. Er hat Lederschuhe an, einen offensichtlich teuren Mantel in beige neben sich hängen und eine runde Brille auf. Ich neige nicht wirklich dazu, Menschen in Kategorien zu pressen. Weil ich selbst meine, in diverse Kategorien nicht hinein zu passen und sie zu überschreiten. Naja, da kann man natürlich auch die Fiktion der eigenen Besonderheit draus konstruieren… In diesem Fall fällt es mir aber wirklich schwer, meine Vorurteile zurückzustellen. Denn er liest den aktuellen GegenStandpunkt, das Magazin dieser hyper-marxistischen Sekte, einer längst zugrunde gegangenen Unterunterströmung der Neuen Linken.
Das Problem aus marxistischer Perspektive ist nicht er als Person, sondern er als Subjekt. Das Großbürgerkind Karl reflektierte den Standpunkt des Bürgertums ja sehr gut – und ermöglichte deswegen seine radikale Kritik. Daher kann ich von außen nicht beurteilen, ob der Studi vor allem damit beschäftigt ist, seinen bürgerlichen Standpunkt zu rechtfertigen und dementsprechend auch zu verteidigen – wie die antideutschen Intellektuellen.Oder, ob er tatsächlich an seiner Selbstdemontage arbeitet. Beziehungsweise den Verhältnissen, deren Produkt er ist. Oder – was die komplizierteste Variante wäre – ob er den schnösel-bürgerlichen Habitus mimt, um sich in der radikalen Kritik an ihm zu ihm zugehörig zu fühlen, weil er tatsächlich einem Milieu entstammt, dass in der sozialen Hierarchie weiter unten steht. Klingt seltsam, habe ich aber schön öfters mal erlebt… Mit den Studierenden- und Schlaumeierkreisen habe ich jedenfalls nur noch selten zu tun.
Und darum bin ich froh. Warum also kreisen meine Gedanken in solchen absurden Bahnen? Es wird immer irgendwelche Besserwisser-Studies geben, die super klug und super elitär sind und de facto nichts für sozial-revolutionäre Veränderungen beitragen – so wie die Leute bei Platypus und so weiter. Was verändert sich eigentlich wirklich in linken Debatten und Szenen, außer die Aufmachung der Labels? Sind es nicht immer dieselben Irrwege, welche Jahrzehnt für Jahrzehnt wieder gegangen werden? Und während ich dies denke, weiß ich natürlich auch, dass andere das gleiche von meiner Position sagen. Ein Unterschied ist allerdings, dass ich tatsächlich nicht nur dagegen stehe, sondern protestiere, also für etwas einstehe – und weiß, was es ist.