Zugegeben, vielleicht etwas übertrieben, gleich zwei Rezensionen zur selben Publikation zu verfassen. Aber ich dachte, wenn ich einmal dabei bin, warum nicht…
Ein aktueller Sammelband über Antirassismus, Gefängnisabschaffung, Polizeikritik und transformative Gerechtigkeit stößt eine wichtige Debatte im deutschsprachigen Raum an.
Mit insgesamt 21 Beiträgen importieren die kritischen Sozialwissenschaftler*innen Vanessa E. Thompson und Daniel Loick eine wichtige, vor allem in der US-amerikanischen Bewegungslinken geführte Debatte in den deutschsprachigen Kontext. Dabei wechseln sich ausführliche Theoriebeiträge (z.B. von Andrew Dilts, Alex S. Vitale, Allegra M. McLeod) mit knapperen Statements von abolitionistischen Aktivist*innen (z.B. von Angela Davis, Victoria Law, Ruth Wilson Gilmore) ab, um eine bewegungsnahe Theoriebildung mit eindeutigen Positionen zu skizzieren. Mit der intersektionalen Perspektive auf nicht-reformistische Reformen wird zudem intensiv ein zeitgemäßes Transformationskonzept thematisiert, mit welchem die Abschaffung repressiver staatlicher Instanzen und die Stärkung selbstorganisierter Communities verfolgt wird. Diese ist mit einer grundlegenden Kritik an einem Gesellschaftssystem verbunden, welches Gefängnisse hervorbringt und nötig hat. Wer Zweifel über die Sinnhaftigkeit der Abschaffung von Polizei und gefängnis-industriellem Komplex hat, sollte sich durch die informierte Argumentation der Verfechter*innen des Abolitionismus eines Besseren belehren lassen.
zuerst veröffentlicht in: GWR #471, September 2022
Der kroatische Intellektuelle Srećko Horvat ist vor allem bekannt geworden durch seinen Sammelband Nach dem Ende der Geschichte. Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung von 2013 (1), als Direktor des in Zagreb stattfindenden Subversive Festivals und als Mitglied der Partei DiEM25 (2). Diese Partei, welche unter anderem auch von Noam Chomsky unterstützt und von Yanis Varoufakis getragen wird, kann als „neo-eurokommunistisch“ beschrieben werden. Damit stellt sie eine demokratische und emanzipatorische Alternative zur nationalen Beschränktheit und dem stumpfsinnigen Populismus der Wagenknechtschaft in der BRD dar. In seinem aktuellen Buch After the Apocalypse beschäftigt sich Horvat – maßgeblich beeinflusst von der Corona-Pandemie, der Klimakrise und der nach wie vor vorhandenen atomaren Bedrohung im Nuklearzeitalter – mit gesellschaftlicher Krise, post-apokalyptischer Melancholie und Vorstellungen von Zeitlichkeit. An dieser Stelle werde ich – in meinen eigenen Formulierungen zusammengefasst – die neun Thesen vorstellen, welche Horvat im Einleitungskapitel formuliert (S. 1–41), um aufzuzeigen, dass er sich letztendlich mit dem in der marxistischen Theorie eingeschriebenen teleologischen Fortschrittsdenken auseinandersetzt. Dieses wurde im anarchistischen Denken durch das Verständnis von „Präfiguration“ bereits überwunden.
Neun Thesen zur alltäglichen Apokalypse, dem Leben in ihr und der Entscheidung für ein alternatives Ende der Welt
Nach Horvat begegnen wir heute alltäglich der „nackten“ Apokalypse, die jedoch nicht mehr die Hoffnung auf ein anbrechendes Zeitalter der Erlösung beinhalten kann. Denn die globalen Krisen potenzieren sich gegenseitig, sodass wir mit einer umfassenden Krise der kapitalistischen Gesellschaftsform konfrontiert sind, deren eigenes Potenzial zur Transformation aus sich selbst heraus versiegt ist. Daher ist die Apokalypse – und das gilt konkret auch für die vielen Erscheinungen, welche die Pandemie mit sich brachte – als eine Offenbarung zu verstehen: Sie verweist auf die Möglichkeit des Aussterbens menschlichen Lebens, das einen Großteil des terrestrischen Lebens mit sich in den Abgrund reißt. In diesem Prozess befinden wir uns, und in ihm findet nicht nur ein Kampf um Körper, sondern auch einer um Bedeutungen statt. Vertraute Koordinaten unseres Denkens geraten ins Wanken, die Sprache selbst infiziert sich im Ausnahmezustand. Dies führt auch zu Veränderungen unseres Menschseins, unserer Subjektivität. Das Wissen um den zerstörerischen Zustand, in dem wir gefangen sind, und unsere jeweilige persönliche Erfahrung prägen uns alle in Form einer post-apokalyptischen Melancholie. Sie kann kaum in hergebrachten Kategorien von Trauer gefasst werden, da sie unsere ganze Lebensweise im 21. Jahrhundert bestimmt.
Eine Umgangsweise damit ist, die Apokalypse zu „normalisieren“. Dingen, die gemeinhin zuvor als „unnormal“ erschienen, wird – nahezu krampfhaft – eine Normalität zugeschrieben, die, mit etwas Abstand betrachtet, irritieren sollte. Dass Regierungen und Bürger*innentum beispielsweise nach wie vor an automobilem Individualverkehr und Massentierhaltung festhalten, dass die Kohlekraft ganz gemächlich heruntergefahren wird und Atomenergieproduktion wieder rehabilitiert ist, grenzt an blanken Wahnsinn. Dabei verschleiert die Rahmung der Pandemie als „Naturkatastrophe“ oder „Krieg“, dass sie in ihrer Ausprägung ein Ergebnis des globalen Kapitalismus ist. Der berühmte „tipping point“, an dem das globale Klimasystem kippen wird (weil die arktischen Gletscher unweigerlich schmelzen, der Permafrostboden auftaut, der Regenwald und die Korallenriffe vollständig zerstört sind), lässt sich auch auf apokalyptische Prozesse in anderen Dimensionen anwenden. In ihrer Verschmelzung (Migration und Kapitalverwertung ließen sich z. B. ergänzen) steht das ultimative Aussterben am geschichtlichen Horizont – und übersteigt zugleich unsere Vorstellungskraft, weil wir etwas so Umfassendes kaum begreifen können. Dies muss schließlich zum Zusammenbrechen des teleologischen Fortschrittsdenkens der Moderne selbst führen, von dem wir alle geprägt sind. Darin liegt die Voraussetzung für die Entscheidung zwischen dem ignoranten Weitermachen wie bisher und einer radikalen Wiedererfindung der Welt. Doch zu Letzterem können wir nur gelangen, wenn wir uns der Wahrheit der gegenwärtigen Apokalypse bewusst werden.
Panikreaktionen und Offenbarungsmythen
Horvats Darstellung des komplizierten Themas unserer gegenwärtigen Zeit ist überzeugend. Er beschreibt den Eindruck, dass uns die Zeit selbst zwischen den Fingern zerrinnt, worauf Menschen je nach Prägung, Umfeld und Gesellschaftsform sehr verschieden reagieren. Es ist durchaus angebracht, sich dem Thema der umfassenden Zerstörung, die sich aus der bestehenden Herrschaftsordnung und unserer Lebensweise in ihr ergibt, zu widmen. Dabei in Panik zu verfallen, hilft sicherlich nicht weiter, um aktiv dafür zu handeln, dass die Geschichte einen anderen Verlauf nimmt, als weiterhin auf das Aussterben zuzusteuern. Panik ist nicht hilfreich – aber im Grunde genommen verständlicher, als weiter in unseren Alltagsroutinen zu verharren. Menschen gewöhnen sich an vieles, auch an die alltägliche Apokalypse. Dass die atomare Bedrohung heute genauso vorhanden ist wie vor 50 Jahren, ist eine Tatsache. Menschen haben die komplexe Fähigkeit entwickelt zu verdrängen, dass Millionen von ihnen auf einen Schlag vernichtet werden können.
In der Konfrontation mit dieser Wahrheit sind Horvats Thesen stark. Doch um sie aufzustellen, wendet er ein modernes Schema auf eine unter anderem biblische Erzählung an, die gerade mit der teleologischen und chronologischen Zeit bricht. Durch das Genre des Katastrophenfilms sind wir gewohnt, das apokalyptische Ende (sei es durch Zombies, Aliens, Überschwemmungen, Asteroiden oder Seuchen) als spektakulären Bruch mit dem Bestehenden zu verstehen. Bekanntlich wird dieser durch einzelne Held*innen abgewendet, die über besondere wissenschaftliche Kenntnisse, Mut und Glück verfügen. Im Ergebnis kehren wir meist zur vorherigen bürgerlichen Kleinfamilie als „Keim der Gesellschaft“ zurück, und die chronologische Zeit kann weiterlaufen. Doch die Offenbarung der Bibel beinhaltet genau jene Erzählung, nach welcher Horvat sucht: Sie handelt vom alltäglichen Erleben der Repression, der Dekadenz und des Irrsinns der alten Herrschaftsordnung wie auch vom Widerstand gegen diese – und erzählt dies auf mythologische Weise. Um einen emanzipatorischen Umgang mit der gegenwärtigen Apokalypse zu erhalten, müssen wir dementsprechend paradoxerweise trotzdem an vergangene apokalyptische Erfahrungen anknüpfen.
Prophetische Eschatologie und präfigurative Politik im Anarchismus
Zweitens beinhaltet Horvats Darstellung die Erkenntnis, dass aus dem Kapitalismus keine sozialistische Alternative hervorgehen wird, wie Marxistinnen früherer Zeiten annahmen. Wir müssen sie außerhalb, woanders, aber parallel zum Kapitalismus vorhanden denken und aus ihm „austreten“, wie Gustav Landauer formulierte. Das Gleiche ließe sich nun auch für Staat, Patriarchat, weiße Vorherrschaft und Naturbeherrschung sagen, die keineswegs „neutraler“ als der Kapitalismus oder lediglich aus diesem abgeleitet sind. Anarchistinnen denken dahingehend in Kategorien der „Präfiguration“, das heißt der Vorwegnahme der erstrebenswerten Zukunft in der Gegenwart. Deswegen setzte Landauer auf die wegweisende Funktion von experimentellen Kommunen. In mutualistischen Ansätzen wurde die politische Revolution verworfen und der Aufbau von Parallelstrukturen angestrebt, ebenso wie in individualistischen Strömungen des Anarchismus, in welchen auf die Befreiung der Einzelnen gesetzt wird, um im Hier und Jetzt – angefangen bei uns selbst – Veränderungen zu bewirken. Auch in der anarch@syndikalistischen Doppelaufgabe von Basisgewerkschaftsgruppen als „Kampforganisationen und Keimzellen der kommenden Gesellschaft“ kommt ein eminent präfigurativer Anspruch zum Ausdruck.
Dies betrifft, drittens, auch Horvats Überlegungen zur „Wiedererfindung“ der Welt. Letztendlich ist sie nichts anderes als die Forderung nach einer „Reorganisation“ oder „Neustrukturierung“ der Gesellschaft jenseits der bürgerlichen Herrschaftsordnung, wie sie bereits Wilhelm Weitling um 1838 formulierte – und die später vom libertären Flügel der sozialistischen Bewegung aufgegriffen wurde. Sozialdemokratinnen konnten sich dagegen ganz gut in der apokalyptischen Gegenwartsgesellschaft einrichten, und autoritäre Kommunistinnen setzten auf den großen Knall der politischen Revolution, welche ins goldene Zeitalter führen sollte (und aus historischer Notwendigkeit heraus in dieses münden müsste, weswegen es auch erzwungen werden könnte). Gegen diese „apokalyptische Eschatologie“ (3) prägte Martin Buber unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg den Begriff der „prophetischen Eschatologie“, welche er im Anarchismus als gegeben ansieht (4). Diese wurzelt in einer echten historischen und holistischen Situierung von konkreten Menschen, denen Handlungsspielräume und Verantwortung aufgebürdet werden. Sie führt deswegen, viertens, auch zur Aufforderung zur Entscheidung, die Konfrontation mit dem apokalyptischen Zustand der bestehenden staatlich-kapitalistischen Verhältnisse einzugehen, mit diesen zu brechen, sie zu unterbrechen und aus ihnen den Exodus ins unbekannte Land zu wagen. Eine grundlegend andere Gesellschaftsform können wir uns als psychisch, emotional, ideologisch, materiell und sozial in der Herrschaftsordnung Verhaftete kaum vorstellen. Beim Versuch, dies zu tun, stoßen wir an die gleiche Begrenztheit unserer Vorstellungskraft wie im Bewusstwerden darüber, was das Artensterben und die Ersetzung von Biomasse durch tote Technosphäre wirklich bedeutet.
Über die Grenzen der bestehenden Herrschaftsordnung hinausgehen
Zusammengefasst lässt sich in Horvats Verständnis von Geschichte, Zeitlichkeit und Subjektivität aufzeigen, dass er implizit marxistische Annahmen hinterfragt, teilweise überwindet und sich anarchistischen Positionen annähert. Diese sind selbstverständlich nicht per se nicht-teleologisch, denken wir zum Beispiel an den sozialen Fortschrittsoptimismus Peter Kropotkins. Jedes Verständnis von Geschichte und das Erleben von Zeit sind von den Bedingungen der historischen Zeit geprägt, in welcher sie – auch in verschiedenen Varianten – entspringen. Was Anarchist*innen aber auszeichnet, war und ist, an die Grenzen des herrschaftsförmigen Alltagsverstandes zu gehen, Konfrontationen mit der bestehenden Herrschaftsordnung einzugehen, sie zu ignorieren und Alternativen zu ihr zu imaginieren und zu verwirklichen. Und davon können sich viele linke Intellektuelle – trotz ihrer gewinnbringenden kritischen Anstöße – eine Scheibe abschneiden.
Anmerkungen
(1) Srećko Horvat: Nach dem Ende der Geschichte. Vom Arabischen Frühling zur Occupy-Bewegung, Übersetzung aus dem Kroatischen von Blažena Radaš, Laika-Verlag, Hamburg 2013. (2) https://diem25.org/de/
(3) Eschatologie ist das religiöse Konzept des Endzeitlichen, insbesondere die prophetische Lehre von den Hoffnungen auf Vollendung des Einzelnen und der gesamten Schöpfung. (4) Martin Buber, Pfade in Utopie, Heidelberg 1950, S. 29ff.
Kürzlich, am 8. Februar war der 100. Todestag von Peter Kropotkin, dem bekanntesten Denker des anarchistischen Kommunismus. Mit seinen theoretischen Arbeiten zur Humangeographie, zu Solidarität und gegenseitigen Hilfe, zur Entstehung des Staates, zur französischen Revolution und zu einer materialistischen Ethik prägte er die Grundbegriffe des libertären Sozialismus mit. Sein Anliegen war der Nachweis darüber, dass eine Gesellschaft, die wirkliche Freiheit und Gleichheit gewährleistet möglich und rational begründbar ist.
Diese konkrete Utopie wurde im Konzept der Föderation dezentraler, autonomer Kommunen verkörpert. Eine anarcho-kommunistische Gesellschaft entsteht nicht einfach von selbst, sondern kann nur durch soziale Bewegungen erkämpft und mittels Alternativstrukturen aktiv aufgebaut werden. Kropotkin vertrat die Ansicht, dass die Entwicklung der Gesellschaft anhand der Auseinandersetzung zwischen autoritären, staatlichen, zentralistischen Tendenzen einerseits und libertären, selbstorganisierten, föderalen Bewegungen andererseits verläuft.
Auch wenn sich hieraus keine historische Gesetzmässigkeit ableiten lässt, war er dennoch zutiefst davon überzeugt, dass soziale Fortschritte möglich sind – auch wenn dies viele Jahrhunderte brauche. Mit dieser Überzeugung engagierte sich Kropotkin auch für die Organisation und Bewusstseinsbildung der selbstorganisierten, radikalen Sozialist*innen.
Dass Kropotkins Theorien auch heute und aktuell (wieder) eine grosse Relevanz aufweisen, dafür spricht zum Beispiel die Neuerscheinung von Marina Sitrin und dem Colectiva Sembrar. Darin beziehen sie sich explizit auf die anarchistischen Konzepte von Solidarität und gegenseitiger Hilfe mit welchen sich soziale Bewegungen im Hier und Jetzt organisieren, als zugleich auch die erstrebenswerte solidarische Gesellschaft vorwegnehmen können.
Solidarische Strukturen und Beziehungen werden im Sammelband implizit als greifbare Alternative zur staatlichen – und oft repressiv durchgesetzten – Pandemiebekämpfung gerahmt. Menschen nähen selbständig Masken und verteilen sie, organisieren Betreuung für Kinder und Alte, unterstützen und wertschätzen Arbeitende im Gesundheitssektor, wehren sich kollektiv gegen staatliche Zumutungen, finden selbst Regeln, um Abstände einzuhalten, organisieren Lebensmittelverteilungen, unterstützen sich in der psychischen Belastung während der Pandemie, entwickeln kreative Formen um sich gegenseitig selbst zu bilden, produzieren und teilen kulturelle Güter…
Da gibt es so vieles, was unter anderem in der Zeit seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie geschehen ist. Und was oft nicht in unser Blickfeld gerät. Wir neigen dazu all diese Graswurzelinitiativen zu übersehen – ob sie von politisierten Gruppierungen getragen werden oder von welchen Gemeinschaften und Personen auch immer. Einer der Gründe dafür ist, dass wir nicht wertschätzen, was uns als selbstverständlich erscheint, obwohl es in staatlichen Vorgaben und Massnahmen gar nicht aufgeht, ja, deren Rahmen sogar aufsprengt. Ein anderer, dass die kapitalistischen Medien nur sehr selten von Geschichten und Zeugnisse der Alltagsunterstützung berichten.
Schliesslich mag ein dritter Grund für die Unsichtbarkeit solidarischer Praktiken auch darin liegen, dass die alltagsweltliche Selbstorganisation oft viel schneller und bisweilen deutlich effektiver zur Pandemiebekämpfung und ihren Folgeerscheinungen beiträgt, als die staatliche Regulierung es jemals könnte. Die Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Relevanz von Graswurzelbewegungen, deren Initiativen und Praktiken ist eine Frage nach der Perspektive, die wir einnehmen – und welche wir stark machen wollen.
An dieser Stelle spinnt sich der Faden recht eindeutig zu Kropotkins Denken zurück. Mit Pandemic Solidarity schauen die Autor*innen dorthin, wo Hoffnung gerade im Zusammenbruch wächst. Und dass es sich hierbei nicht lediglich um die Kompensation des durch die Herrschaftsordnung produzierten Elends handelt, sondern die neue Gesellschaft nur in der Schale der alten aufgebaut werden kann, ist ihr unausgesprochenes Argument.
Der Sammelband ist wertvoll, weil er eine Vielzahl von Autor*innen versammelt, die derartige Graswurzelansätze in den Vordergrund stellen und ihnen Anerkennung zollen. Spannend darin ist insbesondere, dass sich darin Beiträge aus aller Welt finden. Von Praktiken der gegenseitigen Hilfe und Solidarität aus Rojava, der Türkei, dem Irak, Taiwan, Korea, Indien, Südafrika, Portugal, Italien, Griechenland, Grossbritannien, Argentinien und Brasilien können wir dort erfahren.
Damit wird mit dem Buch ganz klar die Notwendigkeit verdeutlicht, dass radikale Gesellschaftsveränderung – ebenso wie die Bewältigung der Pandemie – nur global gedacht werden kann. Dies führt zu einer Beschäftigung mit der merkwürdigen Gleichzeitigkeit und Unterschiedlichkeit in welcher verschiedene Menschen sich weltweit befinden. Ebenso wird damit die Abhängigkeit und Angewiesenheit aufeinander verdeutlicht – aus welchen Stärke in der Auseinandersetzungen für eine lebenswerte Zukunft für alle erwachsen kann. Daher zeigt sich in der Zusammensetzung der Beiträge auch eine klare postkoloniale Herangehensweise.
Das Vorwort schrieb die Autorin und Journalistin Rebecca Solnit, welche unter anderem durch ihre Beschäftigung mit dem durch Menschen geförderten Desaster der Verwüstung von New Orleans durch den Hurrican Katrina 2005, bekannt wurde. In einem Beitrag aus dem Mai letzten Jahres schrieb sie im britischen Guardian:
„Eine der grössten Klischees über Katastrophen ist, dass sie aufzeigen würden, wie dünn die Fassade der Zivilisation wäre, unter welcher die brutale menschliche Natur liegen würde. Aus dieser Perspektive wäre selbstsüchtige Eigennützigkeit das Beste, was wir für die meisten Menschen in der Krise hoffen könnten. Schlimmstenfalls würden sie schleunigst zur nackten Gewalt umschwenken. Unsere schlimmsten Instinkte müssten demnach unterdrückt werden. Diese Ansicht dient [bekannterweise] als Rechtfertigung für Autoritarismus und strenger Kontrolle. […] Doch Studien historischer Katastrophen haben gezeigt, dass dies nicht die Weise ist, wie sich die meisten Menschen tatsächlich verhalten. Nahezu überall gibt es eigennützige und zerstörerische Menschen. Oftmals befinden sie sich an der Macht, weil sie ein System erschaffen haben, welche diese Art Persönlichkeit und derartige Prinzipien belohnt. Doch in gewöhnlichen Katastrophen verhält sich die grosse Mehrheit der Leute auf Weisen, die alles andere als egoistisch sind. Wenn wir in der Metapher der Fassade bleiben, offenbart sich bei ihrem Zusammenbrechen, eine ungeheure Kreativität, grosszügiger Altruismus und Graswurzelorganisierung. Mit der globalen Pandemie erscheint dieses empathische Drängen und Handeln weiter, tiefgreifender und konsequenter denn je vorhanden zu sein“.
Mit dieser Herangehensweise wird meiner Ansicht nach deutlich, was auch für den westeuropäischen Kontext längst überfällig ist: Die notwendige Einsicht darin, dass es sich eine irgendwie geartete gesellschaftliche Linke, dass es sich kritisch eingestellte Intellektuelle und linksradikale Gruppen nicht mehr leisten sollten, in ihren Abstraktionen und Grabenkämpfen, ihren rein negativen Kritiken und ihrem desaströsen Zynismus zu verharren.
Menschen, die von anarchistischen Gedanken inspiriert sind oder mit ihnen sympathisieren, richten sich nach der konkreten Utopie einer erstrebenswerten Gesellschaft aus, versuchen sich nach ihr zu organisieren und aufzuzeigen, wo sie bereits anbricht und gelebte Wirklichkeit ist. Dies ist keine Sichtweise von idealistischen Träumer*innen oder naiven Gutmenschen, mit welcher der Brutalität und Totalität der herrschenden Verhältnisse nichts entgegen gesetzt werden könnte.
Vielmehr handelt es sich realistischerweise um die einzige echte Option, die Menschen haben, um Herrschaftsverhältnisse umfassend abzubauen und ihnen solidarische, egalitäre Institutionen und Beziehungen entgegen zu setzen. Jene, die stattdessen weiter „Auweia Anarchisten!“ schreien wollen, sei dies unbenommen[1] – überdeutlich wird aber, dass sie die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben und lieber ihren Rechthabereien und der Ohnmacht ihrer totalen Ängsten frönen, als endlich aus dem verrotteten Gebäude des staatlich Kapitalismus auszubrechen und ein neues aufzubauen.
In diesem Sinne gebe ich noch einen Einblick in Pandemic Solidarity aus dem Vorwort von Marina Sitrin:
„Es gibt eine konstante, allumfassende Angst, eine kollektive Angst, die wir als gegenwärtig lebende Menschen noch nicht zu diesem Grad an Kollektivität erfahren haben. Und, ja, während wir alle im selben schrecklichen Sturm sind, der Covid-19 heisst, sitzen wir nicht alle im selben Boot. In Krisen und Katastrophen zeigen sich strukturelle Ungleichheiten und die aktuelle Situation offenbart die Hässlichkeit und systematische Unterdrückung und Ungleichheit, auf welche ein Grossteil unserer Gesellschaften aufgebaut ist, in welchen sehr wenige privilegiert werden und der Rest von uns gegen einander aufgehetzt und ausgespielt wird. […] Darin finden wir etwas Tiefgreifendes, welches mit der Wahrheit verbunden ist, wer wir wirklich sind, nicht, was uns gesagt wurde, wer wir seien. Ja, wir haben Angst. Ja, wir empfinden Angst und Verletzbarkeit und was wir damit tun – immer und immer wieder, durch die gesamte Geschichte und heute mehr als jeweils –, ist, uns nacheinander auszustrecken und Wege zu finden, füreinander zu sorgen. Wir empfinden alle diese Dinge und dies ist ein UND. Wir brauchen uns nicht zwischen Angst oder Hilfe, zwischen Verletzlichkeit und Offenheit, beschützend und beschützend zu entscheiden. Wir können und wir tun alle diese Dinge und dies ist es, was diese Situation auf eine zutiefst hoffnungsvolle Weise gleichzeitig erschreckend UND transformativ macht. […] Die Geschichten in dieser Textauswahl zeigen uns auf unterschiedliche Weise eine Art von Gesellschaft, die wir haben könnten und welche wir faktisch bereits haben. Unsere Einladung an euch auf diesen Seiten, unsere lieben Lesenden, ist Inspirationen und konkrete Ideen zu sammeln, wie ihr euch in die bereits existierenden Projekte einbringen und sie ausweiten könnt. Diese Pandemie erzeugt kleine und grosse Risse – was wir mit diesen Spalten machen, liegt an uns. Die neue Welt ist bereits erschaffen, es ist an uns, diese Schöpfung auszudehnen, sie kontinuierlich immer weiter in die Höhe zu spinnen … bis zu einem Punkt, den wir noch nicht kennen“[3].
Vor gut 50 Jahren legte der Schriftsteller Rudolf Krämer-Badoni eine merkwürdige Darstellung des Anarchismus vor.
In der Zeit der Achtundsechsziger-Bewegung schienen also auch konservative „Aufklärer“ nicht umhin zu kommen, sich mit der Manifestation der Neuen Linken zu beschäftigen, welche sich zumindest zu weiten Teilen in ihrem diffusen Antiautoritarismus von der biederen Sozialdemokratie, als auch vom leninistischen Bolschewismus abgrenzte und konsequenterweise mit dem Anarchismus liebäugelte.
Wohlgemerkt, dies war vor den Verfallserscheinungen der 68er-Bewegung, die in so divergierende Richtungen wie den (nicht-anarchistischen!) RAF-Terrorismus, maoistische und leninistische K-Gruppen, wie auch die Sponti-Bewegung und das Engagement in den Neuen sozialen Bewegungen für Frieden, Ökologie, Feminismus, Homosexuellenrechte, Demokratisierung und gegen Atomenergie, mündeten. Dass eine Bewegung wie jene von 1968 eine echte, protagonistische Kraft ist und auch ohne jede parlamentarische Beteiligung und institutionelle Einhegung Wirkungsmacht entfalten kann, zeigt sich ja auch beispielsweise daran, dass sich bürgerliche Schriftsteller gezwungen sehen, sich ernsthaft mit ihr auseinanderzusetzen.
Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass revolutionäre Situationen immer mit Polarisierungen einhergehen. Ein Indiktator dafür ist der Einzug der neofaschistischen NPD in die Landtage von Hessen 1966 (7,9%), Bayern (7,4%), 1967 von Rheinland-Pfalz (6,9%) und von Niedersachsen (7%), sowie 1968 von Baden-Württemberg (9,8%).
Achtundsechzig und was folgt? Chaos, Terror, Anarchie?
Krämer-Badoni, der sich – nicht ohne gewissen beissenden Witz – gegen den sozialistischen Sumpf in seinem ganzen Facettenreichtum richtet, ist es insbesondere ein Anliegen, den wiedererstarkten Anarchismus auf’s Korn zu nehmen. Vermutlich sieht er die eingehegte Sozialdemokratie als Kontrahenten, aber legitime (also „demokratischen“) Gegenspieler an, während der sowjetische Bolschewismus ohnehin diskreditiert und nicht der Rede wert ist.
Die „jungen Leute“, welche scheinbar plötzlich sozialistische Parolen rufen, sich mit revolutionären Bewegungen weltweit beschäftigen, keinen Respekt vor den Älteren haben, in Kommunen leben wollen, die bürgerliche Doppelmoral anprangern, erklären, den kapitalistischen Staat abzulehnen und endlose Stunden im Plenum diskutieren, sind offensichtlich nicht eingehegt und diskreditiert.
Krämer-Badoni suchte nach einer Einschätzung dieser tatsächlich unvorhergesehenen Erschütterungen. Mit etwas Abstand betrachtet gingen jene aus tieferliegenden gesellschaftlichen Verwerfungen hervor, welche die Welt des hegemonialen Diskurses üblicherweise ausblendet oder nur äusserst verzerrt wahrzunehmen gewohnt ist. Weil der Schriftsteller keine zufriedenstellende Einschätzung fand, beschloss er, selbst ein Buch über diese Thematik zu schreiben. Es sollte ein Buch werden, was trotz seiner klaren politischen Tendenz insgesamt sachlich bleibt.
Seine Kernthese lautet: Was sich heute (in der Achtundsechziger-Bewegung) abspielt, ist keineswegs etwas völlig Neues. Ganz im Gegenteil hätten wir es hierbei im Wesentlichen mit einer Wiederholung des Trauerspiels zu tun, welches sich schon seit Anbeginn der – in seiner Denkweise – weltfremden sozialistischen Bewegung abspielte und immer wieder abspielt – jener „Weltverbesserer“ und „Gesellschaftskonstrukteure“, welche die Wirklichkeit verkennen, die sich nach ihren humanistischen Idealen richten solle – was, trotz allem „antiautoritären“ Gehabe unweigerlich in Totalitarismus oder Terrorismus münden müsse.
Okay, dachte ich mir: Noch ein gehässiger alter weisser Mann, der von seinem Ledersessel aus jegliche Ansätze für gesellschaftliche Alternative zunichte macht, die Naivität der Jugend belächelt, vor roten Gefahren warnt und ansonsten über Frauen und Migranten herzieht. Ja, diese blöden Säcke sind leider sehr einflussreich. Einige mustergültige Exemplare von diesen konservativ-revoltierenden honoratorischen Deppen sind bei der „Achse des Guten“ aufgeführt. Also, so dachte ich mir, was soll bei Krämer-Badoni schon zu holen sein? Am Ende käme ich wohl wieder nur auf die lahme Gleichung „Anarchismus = Chaos + Gewalt“ – und das Ganze dann mit irgendwelchen fadenscheinigen Belegen gespickt, die wie Quellen wirken sollen, aber lediglich dem Kontext entrissene dumme „Meinungen“ darstellen. Nun ja, tatsächlich erwies sich Anarchismus: Geschichte und Gegenwart einer Utopie, dann doch als ernst zu nehmender, als ich zuvor unterstellte…
Tendenziöser könnte ein Einstieg kaum sein
Wobei der Autor sich gleich zu Beginn selbst sabotiert, indem skandalisierend mit den 1969 tagesaktuellen Morden der rassistischen und esoterischen, sogenannten „Manson Family“ einsteigt und die Brandstiftung in einem Frankfurter Kaufhaus nennt. Hinsichtlich der Bombenanschläge von Mailand und Rom denkt er ganz nach Absicht der verantwortlichen faschistischen Gruppe „Ordine Nuovo“, welche sie verübte: Selbstverständlich nimmt Krämer-Badoni an, dass die verhafteten Anarchist*innen die Täter waren, von denen Giuseppe „Pino“ Pinelli aus dem Fenster der Mailänder Polizeiwache zu Tode gestürzt wurde. Und er echauffiert sich noch über die Verachtung der Justiz durch Rainer Landhand und Fritz Teufel, Demonstrationen in Paris, lateinamerikanische Guerilla-Bewegungen, Herbert Marcuse und so weiter. Der Aufhänger ist also klar. Der altkluge Beobachter des Zeitgeschehens fragt sich: „Anarchisierende Jugend – Was geht?“
Um dieser Frage nachzugehen, beginnt er folgerichtig für einen polemischen Spiessbürger, mit einem Kapitel über anarchistischen Terror, wozu er das missglückte Attentat bei der Einweihung des Niederwalddenkmals 1883 als Ausgangspunkt nimmt. Meine Sicht auf die Dinge: Wären der deutsche Kaiser, Sachsens und Bayerns Könige, der Grossherzog von Baden und andere von der Dynamitexplosion zerrissen worden – vielleicht wäre die Demokratie in Deutschland früher eingeführt worden. Vielleicht wären später der erste und darauf folgend der zweite Weltkrieg verhindert worden. Doch das können wir nicht wissen.
Was Krämer-Badoni herausstellen will, ist, dass der massgeblich beteiligte Anarchist August Reinsdorf, kein einzelner Verwirrter, sondern voll Hass auf den Staat und mit der Utopie einer egalitären Gesellschaft erfüllt war, wie er im Bekenntnis vor seiner Hinrichtung deutlich machte. Statt dies abzutun, gälte es diese Szene gewissermassen ernstzunehmen. Zumindest die Polizei tat dies, mit der gängigen Infiltration der revolutionären Szene landauf landab. Neben einzelnen Gewalttaten an sich, regt sich der Autor insbesondere durch ihre bitterböse Rechtfertigung, etwa durch Johann Most, auf. Woher der Hass auf die Obrigkeit kommen könnte, darüber hingegen verliert er kein Wort.
Erstaunliche Sachkenntnis ansprechend aufbereitet
Nach einer grösstenteils richtigen Darstellung anarchistischer Grundgedanken, widmet sich der Autor mit einer überraschenden Sympathie dem Leben und Denken Pierre-Joseph Proudhons und auch dessen Verachtung durch Karl Marx. Hier zeigt sich klar, dass Krämer-Badoni seinen Quellen gelesen hat – weswegen sein Buch eben nicht als blödsinnige Bürgerschundliteratur abgetan werden kann. Irritierend ist darauf aufbauend jedoch der Sprung im dritten Kapitel zur chinesischen Kulturrevolution, also der Adaption des jugendlichen Bedürfnisses nach Revolte bei den Roten Garden für den „kommunistischen“ Staat Maos. Rebellisches Bedürfnis, verknüpft mit Eigeninitiative und Forderungen nach Selbstverwaltung einerseits, schliessen sich nicht mit zentralisierter Staatlichkeit und Obrigkeitshörigkeit andererseits aus, scheint der Autor aussagen zu wollen. Der Antiautoritarismus stünde daher nicht im Gegensatz zum Autoritarismus, sondern es handle sich hierbei quasi um zwei Seiten derselben Medaille.
Leider muss ich gestehen, dass dies eine These ist, welche ich viel früher und unabhängig von der Lektüre des Buches selbst vertreten habe. Zunächst aus dem Wissen um die Entwicklungen der Achtundsechziger-Bewegung, wo mir selbst unklar war, wie aus undogmatischen lustvollen Rebell*innen, in so kurzer Zeit Kaderkinder kommunistischer Sekten werden konnten. Dann aber auch aus eigener Erfahrung: Jene, die am lautesten und pöbelhaftesten nach der Abschaffung aller Autoritäten schreien, würden sich oftmals selbst gern an der Führung sehen. Trotz dieser Wahrnehmung meinerseits, kritisiere ich, dass Krämer-Badoni bei dieser Feststellung zu bleiben scheint und ebenfalls vorhandene egalitäre, horizontale Organisationsformen gar nicht in den Blick nimmt.
So sieht dann auch seine Darstellung von Michael Bakunin als „eigentlicher“ Anarchist aus. Die Verachtung des Autors für den Revolutionär ist unverhohlen und zielt in illegitimer Weise vor allem auch auf ihn als Person ab. Dennoch kann man nicht verleugnen, dass sich Krämer-Badoni mit seinem Gegenstand auseinandergesetzt hat und nicht einfach Märchen schreibt. Beispielsweise zeigt er auf, dass die marxistische Kritik des blinden „Voluntarismus“ bakunistischen Vorstellungen keineswegs gerecht wird. Sicherlich kann eine Kritik an Bakunins Person oder seinem Agieren geübt werden. Was nach der Lektüre bleibt, ist jedoch vor allem der Eindruck, es mit einem Psychopathen zu tun zu haben. Bei Bakunin.
Wiederum steht die Auseinandersetzung mit Marx und Engels und das Spannungsverhältnis zwischen Autoritären und Antiautoritären innerhalb der Ersten Internationalen und sonstigen internationalen Begegnungen im Fokus, um die vorher erwähnte These zu untermauern. Begrüssenswert ist, dass der Autor auch Bakunin selbst ausführlich zitiert, was ermöglicht, ein eigenes Urteil über den Argumentationsgang zu fällen. Zugleich haben wir es mit einem Grundproblem konservativer Denker zu tun, einzelne Figuren in das Licht zu rücken und so gut wie kein Verständnis für gesellschaftliche Entwicklungen und darauf reagierende soziale Bewegungen zu haben. (So erklärt sich beispielsweise auch Krämer-Badonis völlig abwegige Aussage im Einstiegskapitel, Cohn-Bendit hätte im Alleingang die Pariser Studentenproteste 1968 ausgelöst.)
Was innovativ sein soll, mutet eher komisch an, wenn im folgenden Kapitel der sozialistische Antagonismus „heute“ zwischen Wolfgang Harich und Daniel Cohn-Bendit ausgefochten werden soll. Die Denkbewegung wird nach vorherigem klar, hat sich jedoch an dieser Stelle schon verbraucht.
Gewagte Rückschlüsse und Sprünge bringen das zu untersuchende Durcheinander hervor
Krämer-Badoni springt anschliessend wieder zurück und betrachtet die „Linke unter sich – hundert Jahre vorher“. Dies ist dahingehend nicht unplausibel, als das die Gründung der Ersten Internationalen in London 1864 durchaus als Wegmarke genommen werden kann, um ursprüngliche Konfliktlinien aufzuspüren, die sich historisch weiter fortpflanzten. Im Wesentlichen geht es hierbei um die Auseinandersetzungen und Intrigen in diesem Zusammenschluss, die bekanntlich 1872 zum Ausschluss der Antiautoritären aus der IAA und deren eigenständiger Formierung als anarchistische Bewegung führten.
Die Erzählung wird wiederum anhand von Schriftstücken und führenden Köpfen aufgerollt, welche freilich nicht irrelevant waren. Gleichwohl lässt sich damit kein Blick für grundlegende und wichtige theoretische Streitfragen gewinnen und erweitern, seien es die Kontroversen um Zentralismus/Föderalismus, Bejahung oder Ablehnung von Staat und bürgerlichem Parlamentarismus, politische Parteien oder autonome Selbstorganisation, Klassenstruktur und revolutionäre Subjekte usw..
Mit diesen Leerstellen springt Krämer-Badoni wieder in die Gegenwart der „Jugendrevolte“ und diskutiert Konzepte der Selbstverwaltung und hierarchiefreien Organisation und die Ablehnung des Establishments, um die Kontinuität zum historischen Anarchismus aufzuzeigen. Dies beinhaltet unter anderem auch eine weitgehende Kritik und Ablehnung des Bolschewismus, dafür jedoch eine Hinwendung zu antiimperialistischen Befreiungsbewegungen (mit ihren höchst problematischen Implikationen, wie dem linken Antisemitismus).
Weiterhin schreibt Krämer-Badoni über den – aus seiner Sicht – langweiligen Anarcho-Syndikalismus, stellte jener sich doch als eine sachliche, klassenbasierte und unaufgeregte Gewerkschaftsbewegung heraus. (Hier zeigt sich wieder einmal, dass die bürgerlichen Denker*innen nicht von ihrem Gewaltfetisch lassen können. Entweder der Anarchismus ist gewalttätig – und damit abzulehnen. Oder er ist nicht gewalttätig – könne dann ja aber wohl kein richtiger Anarchismus sein.)
Dies dient ihm vor allem dazu die Frage aufzuwerfen, wie es die Anarchist*innen bei ihrem Organisationschaos und ihrer Gewaltaffinität zuvor denn überhaupt geschafft hatten, eine relevante soziale Bewegung auf die Beine zu stellen. Die Antwort leitet der Autor aus der Darstellung des Scheiterns insurrektionalistischer Erhebungen, wie auch aus der Überwindung der Fixierung auf blosse Propaganda ab.. Peter Kropotkin lieferte dann Krämer-Badonis Darstellung nach zumindest etwas Theorie, um die „ausserparlamentarische Opposition“ zu beschreiben, damit diese ihr eigenes Handeln begreifen könne.
Die Distanz der Aktiven in der Achtundsechziger-Bewegung, welche die bürgerlichen Kreise und Intellektuellen so überrasche, sei somit überhaupt nichts Neues. In ihr manifestiere sich jedoch der ungeklärte Widerspruch, entweder tatsächlich politische Opposition sein zu wollen, oder „antiparlamentarisch“ Selbstorganisation zu betreiben. Auch darin muss ich dem Autor recht geben und meine, es ist wichtig, dieses Spannungsverhältnis herauszuarbeiten – allerdings mit einer gegenteiligten Zielsetzung als das politisch etablierte Bürgertum, welches auf die Einhegung autonomer Bewegungen abzielt. Offenkundig zeigt Krämer-Badoni wiederum gewisse Sympathien für Kropotkin – was jedoch mehr überrascht -, auch für Most, die er jedoch wiederum für ihre Gewaltaffinität rügt. Auweia.
Abschliessend stellt er den Sieg des leninistischen Kommunismus über den Anarchismus in der russischen Revolution und im spanischen Bürgerkrieg dar. Dabei scheine nicht ausgemacht zu sein, dass sich der Anarchismus damit als relevantes Phänomen endgültig erledigt habe. In Kommunen würden anarchistische Vorstellungen praktiziert und erneuert werden. Absurderweise wettert der Schriftsteller auf den letzten Seiten dann darüber, dass der Sowjet-Kommunismus alle zu Staatsbeamten mache und im Grunde genommen die repressivste und monopolisierteste Form des Kapitalismus wäre. Und er wirft noch einige unbegründete Behauptungen in den Raum, wie etwa, dass sich Malatesta heute unter den Maoist*innen finden würde.
Trotz seiner ausführlichen Recherche in anarchistischen Quellen und einer skeptischen Beschäftigung mit dem Zeitgeschehen, endet er also mit einer unzulänglichen Vermischung verschiedener Stränge und vulgären Darstellung des Anarchismus. Das wirkt eigenartig, verweist aber letztendlich sinnbildlich darauf, dass Krämer-Badoni nicht in der Lage ist, über den begrenzten Horizont seines bürgerlichen Bewusstseins hinaus zu schauen – weil er es schlichtweg nicht will, weil er die Infragestellung seiner eigenen Klassenposition, sonstigen Privilegien, aber eben auch seiner politischen Position nicht zulassen will.
Der Mehrwert der spiessigen Wutbürger-Perspektive
Meine vorurteilsbehaftete Herangehensweise, musste ich also bei der Lektüre von Anarchismus: Geschichte und Gegenwart einer Utopie über Bord werfen und überdenken, da ich es mit einem Autoren zu tun hatte, der seinen Gegenstand studiert hat und zum eigenständigen Urteilen in der Lage ist. Und ja, es mag stimmen, dass er damit weit eigenständiger denkt, als mancher Professor oder manche Lehrerin, die, mitgerissen vom Tagesgeschehen, plötzlich „marxistisch“ denken oder sich für „revolutionär“ halten, weil sie mal ein bestimmtes Buch gelesen oder an einer Versammlung teilgenommen hatten, in diesen berauschenden Zeiten.
Krämer-Badonis Herangehensweise, in die Geschichte des Anarchismus zu blicken, um aufzuzeigen, dass bestimmte Diskussionen um das Verhältnis zur bestehenden Gesellschaft, revolutionäre Subjekte, den Umgang mit dem Staat etc. schon hundert Jahre früher geführt wurden, finde ich einen ernüchternden Beitrag für all jene, die sich vom Zeitgeschehen blenden lassen. Selbstverständlich ist meine Intention dabei eine andere, nämlich die Überlegung, unter welchen Umständen, anarchistische Positionen verbreitet und mit anarchistischer Herangehensweise Organisation betrieben und effektive Aktionen hervorgebracht werden können.
Schliesslich teile ich auch die erwähnte These, dass der Antiautoritarismus mehr oder weniger als die Kehrseite des Autoritarismus gelten kann. Dies kann innerhalb eines Subjektes oder einer Gruppe der Fall sein. Es kann sich jedoch auch in einer breiteren sozialistischen Bewegung widerspiegeln.
Als „autoritär“ begreife ich dabei nicht die Sozialdemokratie – welche in diesem Zusammenhang ja kaum eine Rolle spielt, wenn die Situation zugespitzt ist und sich die Lager deutlicher abzeichnen – sondern die K-Gruppen und (Führungs-)Stile innerhalb sozialer Bewegungen. Gerade darum gilt es den Anarchismus über den Antiautoritarismus hinaus zu entwickeln, das heisst, antiautoritäre Reflexe zu reflektieren und eigenständige Inhalte, Wertvorstellungen und Organisationsprinzipien zu entwickeln und zu praktizieren.
Diese ergeben sich natürlich aus den Praktiken von emanzipatorischen sozialen Bewegungen selbst, brauchen jedoch Grundlagen, welche über die tagesaktuellen Erfordernisse einer Bewegung hinausgehen. Auch wenn ich persönlich schon zahlreiche negative Beispiele gesehen habe, halte ich entgegen Krämer-Badoni, anarchistische Organisation für möglich und auch für die Voraussetzung dafür, nicht ins Autoritäre umzukippen oder sich in blosse Lebensstile aufzulösen. Eine eigenständige sozial-revolutionäre Orientierung kann dabei jedoch nur gewonnen werden, wenn auch eine Scheidung des Anarchismus vom diffusen „antiautoritären“ Linksliberalismus als auch von selbstbezüglichen „linken“ Akademiker*innen vorgenommen wird. Strategische und respektvolle Kooperationen schliesst dies ja nicht aus.
Darüber hinaus ist Anarchismus: Geschichte und Gegenwart einer Utopie auch als Zeitdokument ein Beitrag, den man sich anschauen kann, um die Achtundsechziger-Bewegung zu verstehen. Im Unterschied zu manch manipulativen Krypto-Leninisten, deren einziges Anliegen ist, den Anarchismus argumentativ zu untergraben, weiss man beim konservativen Wutbürger Krämer-Badoni wenigstens gleich, woran man ist. Ironischerweise wird sein Beitrag daher für Apologeten des Anarchismus wie mich brauchbar.
Viel Aufsehen erregte der junge Journalist Rutger Bregman der vom Guardian als „niederländisches Wunderkind für neue Ideen“ bezeichnet wurde, wie seiner Homepage nach zu entnehmen ist. Da der menschliche Verstand begrenzt ist, wundern wir uns immer wieder. Vielleicht könnte die Fähigkeit, sich zu wundern, tatsächlich auch als eine genuin menschliche Eigenschaft bezeichnet werden. Menschen die älter werden, nehmen Dinge oft als gegeben hin. Immerhin müssen sie sich orientieren in der Welt und Neuem zu begegnen ist zweifellos bei all seinem Reiz auch anstrengend. Wer sich hingegen die Fähigkeit sich wundern zu können bewahrt und weiterentwickelt, wird auch weiterhin Fragen stellen und seine Lebensbedingungen nicht einfach als gegeben hinnehmen, sondern von ihrer Veränderbarkeit ausgehen.
Wenn es den Feuilletonist*innen der Zeitungsbranche ein Rätsel zu sein scheint, woher Bregmans wunderliche Ideen stammen, so jedoch vor allem deswegen, weil ihr Horizont offenbar beschränkt ist. Wie ich an anderer Stelle bereits in Kürze gezeigt habe[1] lässt sich meines Erachtens nach relativ plausibel nachweisen, dass Bregman seine Konzepte im Grunde genommen von Peter Kropotkin, einem der bekanntesten Denker*innen des anarchistischen Kommunismus stammen.
Das Buch Utopien für Realisten (2017) entspricht dieser Lesart nach von seiner Intension her ziemlich direkt Kropotkins Die Eroberung des Brotes (Erstausgabe 1892), wie Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit (2020) dessen Gegenseitige Hilfe in Tier- und Menschenwelt (1902) nachgeahmt ist.
Nun ist es keine Schande, populäre Bücher zu schreiben, um sie verkaufen zu können. Filme, Theaterstücke oder Musikalben werden immerhin oftmals auch nicht lediglich aus reiner Schaffensfreude produziert. Äusserst problematisch ist es hingegen, wenn die Stichwortgeber für die eigenen Ideen nicht genannt werden, was entweder auf eine gravierende Unkenntnis an entscheidender Stelle oder auf ein absichtliches Verschweigen hindeutet.
Doch zunächst zu den augenfälligen Analogien. In seinem Bestseller und Debüt-Werk von 2017 tritt Bregman für das bedingungslose Grundeinkommen, die 15-Stunden-Woche und offene Grenzen ein. Offensichtlich hat er damit den Nerv von nach Orientierung suchenden Linksliberalen getroffen, welche Utopie-los durch den Kosmos des 21. Jahrhunderts irren.
Der Beginn des Buches mag überraschen, denn Bregman beginnt mit einer Aufzählung der unglaublichen gesellschaftlichen Errungenschaften der letzten ein-zwei Jahrhunderte. Ob die Verringerung von Kindersterblichkeit, von weltweiter Armut, der Erleichterung des alltäglichen Lebens durch Haushaltsmaschinen, den ungeheuren Möglichkeiten moderner Produktionsweisen und Kommunikationsmitteln – enorm viel hat sich verändert und „verbessert“ möchte man meinen.
Das all diese Errungenschaften jedoch einerseits durch auf systematischer Ausbeutung von Lohnarbeit, Umweltzerstörung und internationaler Ausbeutung beruhen, während der europäischen Industrialisierung massives soziales Elend hervorbrachten und dies auch heute noch weltweit tun, dazu verliert Bregman an dieser Stelle kein Wort. Gleichwohl geht er genauso wie Kropotkin an sein Werk heran, wenn dieser einleitend formuliert: „Wir sind wahrhaftig reich, viel reicher, als wir annehmen: reich an dem, was wir bereits besitzen, noch reicher an Produktionsmöglichkeiten mit unserer vorhandenen (mechanischen) Ausrüstung und am allerreichsten an dem, was wir dank unseres Bodens, unserer Manufakturen, unserer Wissenschaft und unserer technischen Kenntnisse zustande bringen könnten, würden sie nur benutzt, um Wohlstand für alle zu schaffen“[2].
Wohlstand für alle ist erreichbar und „realistisch“, weil die Produktionsverhältnisse und die gesellschaftlichen Bedingungen dafür vorhanden sind. Von diesem Fortschrittsoptimismus hat Bregman sich eine gehörige Scheibe abgeschnitten. Dabei geht es ihm um die Wiedergewinnung des utopischen Denkens. Allerdings in der Politik anstatt wie für Kropotkin für autonome soziale Bewegungen.
Bregman gibt sich dennoch den Anstrich des radical chic, wenn der demgemäss am Ende seines Buches schreib: „Ich meine eine Politik, in der es nicht um Regeln, sondern um Revolutionen geht – nicht um die Kunst des Möglichen, sondern um die Kunst, das Unmögliche unvermeidlich zu machen. […] Und diese Politik ist etwas ganz anderes als die, die sich auf das Mögliche beschränkt. Die eine Politik erhält des Status quo, die andere erschafft Neues“.[3] Diese Haltung hätten die „Underdog-Sozialisten“ verlernt – zumindest eine These, der ich bedingungslos zustimmen würde.
Von Kapitel zwei bis vier argumentiert Bregman für das bedingungslose Grundeinkommen, wozu er sich – wie auch sonst in seinen Texten durchgängig – auf zahlreiche wissenschaftliche Studien bezieht, mit welchen er überzeugen möchte. Die Argumente dafür sind bekannt: Menschen können durchaus selbst etwas mit ihrem Leben anfangen und arbeiten oftmals sogar produktiver, wenn ihnen einfach gegeben wird, was sie brauchen.
Mit der Produktivität und Effektivität des anarchistischen Kommunismus begründet auch Kropotkin seine Konzeption, um den landläufigen Vorurteilen entgegen zu wirken, welche seiner Perspektive entgegen geschmettert werden. Dies bedeutet zunächst ein Aufbrechen des Glaubenssatzes, Menschen könnten nur durch Lohnarbeit zufrieden werden, wie er leider allzu oft auch von vielen Sozialist*innen propagiert wurde.
Doch wo Bregman noch zaghaft auf ein Umdenken hofft, räumt Kropotkin mit dem Wahnsinn auf: „Schluss mit solche zweideutigen Formeln wie ‚Recht auf Arbeit‘ oder ‚Jedem das vollständige Produkt seiner Arbeit‘. Wir proklamieren das Recht auf Wohlstand – den Wohlstand für alle!“[4] (S. 81).
Die Herangehensweise Bregmans ist also keineswegs eine neue, sondern eine wohl vertraute, wenn wir etwa lesen können: „Gleichzeitig entstehen unter tausend verschiedenen Gesichtspunkten neue, auf dasselbe Prinzip: Jedem nach seinen Bedürfnissen gegründete Organisationen; denn ohne eine gewisse Dosis Kommunismus vermögen die gegenwärtigen Gesellschaften nicht zu leben. Trotz der durch die Warenproduktion evozierten beschränkten egoistischen Geistesverfassung offenbart sich die kommunistische Tendenz in jedem Moment und dringt in allen möglichen Gestalten in unsere Verhältnisse ein“ (S. 97)[5].
Im fünften Kapitel fordert Bregman „Neue Kennzahlen für eine neue Ära“, sprich, er kritisiert vor allem die Masseinheit des Bruttoinlandsproduktes (BIP), als völlig unzureichend, um den wirklich Wohlstand und die Zufriedenheit einer Bevölkerung zu bestimmen.
Hierbei handelt es sich nun wirklich nicht um eine neue Erkenntnis, wird dieses doch schon seit den 80er Jahren von all jenen Ökonomien kritisiert, die sich nicht der neoliberalen Doktrin gefügt haben. Doch auch dahinter lässt sich wiederum der anarchistisch-kommunistische Grundgedanke erkennen, dass erbrachte Leistungen in der Gesellschaft überhaupt nicht vergleichbar sind, da Reproduktionstätigkeiten, Sorgearbeiten, kreative und wissenschaftliche Arbeiten nicht bewertet werden können. Sie sollten auch gar nicht bewertet werden, da es auch die ökonomische Produktion letztendlich kein Selbstzweck ist (beziehungsweise nicht um des Profites willens sein sollte), sondern ihr Ziel in der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse, also in einem ausser-ökonomischen Zweck, liegt.
Dann geht es um die erwähnte 15-Stunde-Woche, wobei Bregman sich teilweise auf ebenso kleinliche Rechenaufgaben bezieht, wie seinerzeit Kropotkin. Der kalkuliert, dass 30 Stunden Arbeitszeit pro Woche ausreichen müssten, um eine fünfköpfige Familie zu ernähren – da er dabei von einem Allein-Ernährer-Modell ausgeht, landet man bei zwei Verdiener*innen in der Familie ergo wiederum bei 15 Stunden Wochenarbeitszeit.
Auch die Maschinisierung und die damit einhergehende Verknappung von notwendiger Arbeitszeit bespricht Bregman im achten Kapitel, wie auch Kropotkin in Hinblick auf die Produktion[6] als auch für die Erleichterung der Reproduktion, insbesondere bei der Haushaltsarbeit[7], wobei für ihn feststeht, dass Maschinen Gemeineigentum werden müssen, damit es auch die Produkte sind, die damit hergestellt werden[8].
Was schliesslich Bregmans Forderung nach offenen Grenzen angeht, widerlegt er im neunten Kapitel zurecht landläufige Vorurteile, welche gegen Einwanderung angebracht werden. Auch darin findet sich nichts Neues, wobei sich für Kropotkin 1892 die Frage tatsächlich anders stellte, da die nationalstaatlichen Grenzen erst im Verlauf des ersten Weltkrieges immer undurchdringlicher werden. Demnach war für ihn – im Unterschied etwa zu Vielen deutschen und französischen Sozialdemokrat*innen schlichtweg selbstverständlich, dass der Sozialismus nur transnational umgesetzt werden kann. In seinem Kapitel über freie Vereinbarungen betont er allerdings dezidiert die Vorteile transnationaler Kooperation nicht-staatlicher Akteure[9].
Anhand dieser Beispiele lässt sich also veranschaulichen, dass Bregman durchaus dem Modus nach Kropotkins Herangehensweise verfolgt. Die Kerngedanken sind dabei, erstens, dass die materiellen, psychischen und kulturellen Bedingungen vorhanden sind, um einen wirklichen sozialen Fortschritt möglich zu machen.
Zweitens geht es darum, dass kommunistische und anarchistische Tendenzen bereits in der vorfindlichen Gesellschaft vorhanden sind und immanent aus dieser heraus entwickelt werden könnten, was zugleich aber bedeutet, mit den herrschenden Verhältnissen zu brechen. Nun mag es einen guten Grund haben, dass Bregman seinen Ideengeber nicht einmal genannt hat: Ich vermute, er befürchtete, dass sich sein Buch nicht so gut verkaufen würde, wenn sich heraus stellte, dass wesentliche Gedanken darin bereits im anarchistischen Kommunismus entwickelt wurden und Bregman sie lediglich in einem linksliberalen Wohlfühlprogramm verpackt und verhunzt.
Abgesehen davon, dass die Namensnennung nach den Verkauf des Buches meiner Ansicht nicht gemindert hätte, gibt es jedoch auch zwei fundamentale Unterschiede zwischen beiden Denkern: Kropotkin geht von der Notwendigkeit der Enteignung aus, welche durch Akteure einer autonomen und ermächtigten Arbeiter*innenklasse durchgeführt werden müsse, während Bregman an den Eigentumsverhältnissen lediglich mit einer Tobinsteuer rütteln und Steuerparadiese austrocknen möchte. Dabei appelliert er letztendlich an den Staat verlässt den Rahmen staatlich eingehegter Politik jedoch keinen Zentimeter.
Dies ist der Punkt, an welchem Bregmans Adaption wirklich ärgerlich ist, weil sie Menschen Flausen in den Kopf setzt, welche sie oberflächlich und kurzzeitig begeistern können, die dann anschliessend jedoch rasch vergessen werden und zu Enttäuschungen führen müssen. Es hat eben strukturelle Gründe, warum die politische Klasse und die Besitzenden kein Interesse für die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens, der 15-Stunden-Woche und für Einwanderungspolitik sehen. Da kann Bregman argumentieren, dass dies – selbst aus kapitalistischer Sicht – vernünftig wäre, wie er will.
Auch Kropotkin betrieb im Wesentlichen Bildung und Propaganda und trug auch etwas zur Organisierung bei. Dies spielt sich dennoch auf einer anderen Ebene ab, als Bregmans Aktivitäten, der meint, dass bereits „Ideen die Welt verändern“, wie er im zehnten Kapitel schreibt. Denn für den Anarcho-Kommunisten ist klar, dass es zwar überzeugende Konzepte, jedoch vor allem Organisation und Klassenkämpfe bedarf, um dem sozialen Fortschritt mit einer sozialen Revolution die Tür aufzustossen.
Für den Linksliberalen hingegen, welcher Inspirationsquellen sucht, um einer erlahmten Technokratie und einem schwächelnden Neoliberalismus einige innovative Vorschläge entgegenzusetzen, löst sich jede Auseinandersetzung in der Behauptung einer im Grunde guten Menschheit auf, die nur neu begeistert werden müsste. Wie bereits erwähnt, bedient er sich in seinem folgenden Buch in gleicher Manier an den Grundgedanken von Kropotkins Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt.
In einem ist Bregman wahrlich ein Meister: Darin, gute Ideen zu klauen und als völlig neue Innovation auszugeben. Doch zwischen beiden Positionen handelt es sich nicht lediglich um einen graduellen Unterschied, in dem Sinne, dass die tauschwertfreien anarchistischen Kommunist*innen radikal bis fundamentalistisch die progressiven Ideen vertreten würden, während Eigentums-bezogene Linksliberale in der Lage wären, sie in weitere Bevölkerungskreise zu tragen und anschlussfähig zu machen. Vielmehr besteht eine grundlegende Differenz darin, wie Kapitalismus, Staat und Grenzen wahrgenommen und dementsprechend ihre Überwindung gedacht werden.
Während Bregman sich hierbei eine neue Vision für linke Politik herbei wünscht, weiss Kropotkin, dass Politik als Herrschaftsverhältnis überwunden werden muss um „Utopien für Realisten“ einzuführen: „Es wird völlig unmöglich sein, die Enteignung durchzuführen, wenn die Gesellschaft nach dem Prinzip der parlamentarischen Repräsentation organisiert ist. Eine auf Leibeigenschaft beruhende Gesellschaft stimmte mit der Monarchie nicht überein; eine auf dem Lohnsystem und auf Ausbeutung durch die Kapitalisten basierende Gesellschaft findet den ihr gemässen politischen Ausdruck im Parlamentarismus. Doch eine das gemeinsame Erbe wieder antretende freie Gesellschaft muss sich in harmonischer Übereinstimmung mit der neuen ökonomischen Geschichtsphase eine neue Organisation freier Gruppen und freier Gruppenföderationen suchen. Jeder ökonomischen Phase entspricht eine politische Phase und es würde nicht möglich sein, das Privateigentum anzutasten, fände man nicht zugleich einen neuen Modus für das politische Leben“[10](S. 106).
Um diesen neuen Modus für das politische Leben zu finden, gibt es Ansatzpunkte mit den Stichworten „Autonomie, „Dezentralität“, „Föderalismus“, „Horizontalität“ und „Freiwilligkeit“. Da Bregman sich so realistisch jedoch nicht mit der Utopie auseinandersetzen möchte, empfehle ich eher Kropotkin zu lesen. Zweifellos bleibt es jedoch eine Herausforderung eine populäre und visionäre Strömung im anarchistisch-kommunistischen Geist zu begründen. Dabei sind diese Tendenzen in den verschiedenen sozialen Bewegungen durchaus vorhanden. Ganz ohne Optimismus und Zukunftsorientierung lassen sie sich jedoch nicht aufspüren, vertiefen und ausweiten.
Auf kritisch-lesen.de erschien meine Rezension zu Rutger Bregmans Im Grunde gut. Eine neue Geschichte der Menschheit (Rowohlt 2020). Den Titel den die Redaktion gewählt hat, kann ich nur bedingt nachvollziehen, ebensowenig wie die Schlagworte „Tierrecht“ und „Naturschutz“ mit denen die Besprechung getaggt wurde – aber gut, so ist das wohl manchmal im Journalismus. Meine entscheidende These lautet jedenfalls: Bregman adaptiert Kropotkin, auf welchen er bei dieser Thematik sicherlich gestoßen sein müsste, ohne den Ideengeber für eine positive politische Anthropologie und rational begründete Ethik beim Namen zu nennen.
Sozialismus für Mensch und Tier
Nach seinem Bestseller „Utopien für Realisten“ (2017) erschien jüngst ein weiteres populärwissenschaftliches Werk von Rutger Bregman, der als hipper europäischer Nachwuchsintellektueller gehandelt wird. Bestimmte Inhalte popularisieren und damit auch etwas Geld verdienen zu wollen – dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Die staatlich-kapitalistisch-patriarchale Gesellschaftsformation ist beharrlich und die Entwicklung konkreter Utopien aus ihr heraus eine ungeheure Herausforderung. Dahingehend widmet sich Bregman in „Im Grunde gut“ durchaus einem bedeutenden Themenfeld: der politischen Anthropologie, also dem Menschenbild, welches wir unseren Annahmen über Gesellschaft, ihre Integration und potenziellen Transformation zu Grunde legen.
zu Paul Stephan: Links-Nietzscheanismus. Eine Einführung (Stuttgart 2020)
Kürzlich ist der zweite Band von Paul Stephans linker Nietzsche-Einführung beim Schmetterlingsverlag erschienen. Das ist sehr erfreulich, denn eine Beschäftigung mit dem Dynamit-Mann ist immer wieder lohnenswert. Stephans Schwerpunkt liegt dabei auf der Rezeptionsgeschichte Friedrich Nietzsches, womit der nachweist und verdeutlicht, welche ungeheuere Relevanz dieser unkonventionelle, eigensinnige, gekränkte Denker für die Philosophie insgesamt hatte. Nietzsche wurde kurz nach der Erscheinung von Stirners Der Einzige und sein Eigentum geboren und es heißt, dass er sich von diesem hat beeinflussen lassen (wobei Stephan einen direkten „Ideenklau“ für unwahrscheinlich hält.) Als Philosophen narzisstischer Kränkung, aus welcher eine lebensbejahende Einstellung entspringt, liegt die Verbindung auf der Hand. Die Parallelen zwischen beiden „liegen vor allem daran, dass beide von einer ähnlichen psychosozialen Situation ausgehen“ (S. 54).
Originaltitel: Splitter aus dem Elend des deutschen Beamt*innengeistes.
Über Rudolf Emil Martins Der Anarchismus und seine Träger. Enthüllungen aus dem Lager der Anarchisten (1887) und Die soziale Revolution (1919)
zuerst veröffentlicht auf: Gai Dao #102, Juni 2019
von Jens Störfried
Ein zeitgeschichtliches Theoriefragment
Vor 100 Jahren erschien ein Buch, dessen Titel für Sozialist*innen interessant klingt: Die soziale Revolution: Der Übergang zum sozialistischen Staat. Geschrieben wurde es gerade in der größten Umbruchsphase, dem Gründungsmythos der deutschen Republik, also 1919 nach Ende des Ersten Weltkrieges. Martin begründet darin in Anschluss an den österreichischen Sozialwissenschaftler und Juristen Anton Menger (Die Neue Staatslehre 1903), warum in Deutschland der Staatssozialismus eingeführt werden müsse. Die Verstaatlichung der Wirtschaft, die Festlegung eines Höchstvermögens von 100.000 Mark und die Übernahme der Regierung durch die Sozialdemokrat*innen, erscheinen ihm als pragmatisches Gebot der Stunde zur Erhaltung der deutschen Volkswirtschaft und Regierungsfähigkeit. Denn in den Wirren und Kämpfen der Nachkriegszeit hat Martin eine schmerzhafte Horrorvorstellung: Chaos, der Bürgerkrieg als „Kampf aller gegen alle“, den Staatsbankrott und letztendlich der Zusammenbruch des Staates. In Hinblick auf die beginnenden selbständigen Enteignungen, Fabrikbesetzungen, die Gründung von Arbeiter- und Soldatenräten und den Aufstand der Spartakist*innen (welche er als Anarchist*innen ansieht), bedürfe es seiner Ansicht nach eine umfassende Umstrukturierung der Gesellschaft, um das Schlimmste zu verhindern. Zusammenfassend schreibt er am Ende seines Buches deutlich: „Die einzige Möglichkeit, diese Entwicklung des Sozialdemokratismus zum Anarchismus zu verhindern, besteht in der positiven sozialen Reform, in der Einführung der von Anton Menger und mir vorgeschlagenen Verstaatlichung […]. Nur wenn der Staat durch ein positives Programm alle Teile der breiten Massen zufriedenstellt und die wirtschaftliche Gleichheit um ein bedeutendes vermehrt […] kann er sich den breiten Massen gegenüber als existenzberechtigt legitimieren und die öffentliche Ordnung aufrecht erhalten“ (Martin 1919: 198f.).
Rezension zu Die Irrfahrten der Anne Bonnie von Koschka Linkerhand (Querverlag 2018)
zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #104, September 2019
von Simone
Als „Coming-of-Age-Geschichte“, als „Jugendroman“, bezeichnet die Leipziger Autorin Koschka Linkerhand ihren im letzten September erschienenen Roman Die Irrfahrten der Anne Bonnie, der schon einige Jahre zuvor die Grundlage für ein Theaterstück war. Das Setting ist das sogenannte „Goldene Zeitalter“ der Pirat*innen in der Karibik, wie es in der teils historisch fundierten, vor allem aber mythisch umwobenen Piratenlegende (offiziell) von Daniel Defoe im Buch A General History of the Pyrates (1724) bezeichnet worden war. Als Protagonist*innen dienen die Figuren der sich selbst suchenden Anne Bonnie, der mutigen, zwiespältigen Mary Reed und dem Captain „Calico“ Jack Reckham.