Chaos, Schmutz und Planlosigkeit bis zur Revolution!

Lesedauer: 2 Minuten

Schon erschreckend, welches Bild bei einigen „Marxist*innen“ offenbar vom Anarchismus besteht und in ihren Kreisen reproduziert wird. Ich meine konkrete die Vorstellungen und Vorurteile, welche eine Studierende letztens äußerte, als wir eine Diskussion über Anarchismus hatten. Aus bestimmten Überlegungen zum Verhältnis von Demokratie und Anarchie wurde ich rasch in die Ecke gedrängt, seine „Gesamtstrategien“ rechtfertigen zu sollen und „den“ Anarchismus insgesamt repräsentieren zu müssen.

Die betreffende Person zeigte sich sichtlich angewidert von den biertrinkenden Punks in „schmutzigen“ Autonomen Zentren, in welchem offenbar Anarchist*innen hauptsächlich anzutreffen wären und die natürlich über keinerlei „Theorie“ verfügen würden. Was es überhaupt für eine aussichtslose Strategie wäre, auf Freiräume zu setzen, fragte sie. Und ich entgegnete, dass es bei Transformationskonzepten nicht darum geht, einen fertigen Plan vorzulegen, sondern grundlegende Überlegungen darüber anzustellen, wie sich Dinge verändern lassen. Dazu beziehen sich die Beteiligten auf bestimmte Grundannahmen und Erfahrungen, also beispielsweise jener, dass es nicht emanzipatorisch sei, den Staat übernehmen zu wollen. Stattdessen sind parallel zu den Herrschaftsverhältnissen bereits jene immanent vorhanden, die Anarchist*innen anstreben.

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Day of Chaos…

Lesedauer: 3 Minuten

Das Jahr hat doch gerade erst angefangen, es passieren gar nicht viel und trotzdem schlittere ich durch Chaostage. Zwei Menschen wiesen mich darauf hin, Freitag hätte der Vollmond im Krebs gestanden. Mir persönlich ist das schnuppe, aber klar, es gibt auch Leute, die eher mal eine Zeit der Einkehr und Ruhe am Jahresende oder auch -anfang halten.

Zur Reflexion. Zur Regeneration. Zum Loslassen dessen, was schief gelaufen ist in vorheriger Zeit… Vielleicht ist es tatsächlich weise, Dinge loslassen zu können. Und vermutlich habe ich in diesem Bereich noch viel zu lernen. Aber vergessen, vergessen möchte ich nichts.

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Verstrickungen

Lesedauer: 4 Minuten

Seit einiger Zeit habe ich festgestellt, dass ich mich immer stärker in Szene-Streits, Abgrenzungs- und Zugehörigkeitsdebatten verstrickt habe, als mir lieb ist. Es hat etwas gedauert, bis ich verstanden habe, warum das so war und was ich daran problematisch finden. An sich spricht nichts dagegen, Statements zu bringen, wie man sich in Bezug auf bestimmte Themen oder gesellschaftliche Entwicklungen positioniert. Per se ist auch nichts an Begründungen und Ausformulierungen anarchistischer Gedanken einzuwenden, um sie von anderen unterscheidbar zu machen. Und selbstverständlich darf es im Umgang mit der ideologischen Konkurrenz auch mal polemisch zugehen, denn schließlich geht es auch um was.


Aber um was geht es ist, ist die Frage. Und so ist nicht ausgeschlossen, dass ich im Anschreiben gegen die verbohrte Rechthaberei, die dogmatischen Versatzstücke und romantischen Phrasen meiner anarchistischen und sozialistischen Konkurrent*innen, selbst deren schlechte Stile und Umgangsweisen übernehme. Also beispielsweise, indem ich ihnen Grundannahmen oder Absichten unterstelle, welche sie bei genauerer Betrachtung gar nicht haben. Oder indem ich mir vor allem ihre ausformulierten Gedanken anschaue – die ich ja zurecht als verkürzt oder aggressiv kritisieren kann – anstatt meinen Blick darauf zu richten, wie die Betreffenden sich tatsächlich verhalten und wie sie handeln.

Insgesamt steht im Hintergrund meines Bedürfnisses nach Abgrenzung, Klarstellung und Debatte natürlich auch eine gewisse Arroganz. Diese ergibt sich daraus, aus subjektiven Gründen für eine Minderheitsposition einzutreten, die tatsächlich oftmals diffamiert und ausgegrenzt wird. Außerdem ist sie komplex und muss deswegen erklärt werden. Soweit ist das in Ordnung. Zu überprüfen ist darin aber ein etwaiger Führungsanpruch – welchen im Übrigen auch Personen, die offensiv vor sich hertragen „gegen jede Autorität“ zu sein durchaus selbst haben können. Das wäre der antiautoritäre Reflex, der andere auf das eigene Niveau herabzieht und ihnen Führungsgebaren unterstellt, um intrigant selbst die Fäden in der Hand zu halten.

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Abgabe – Angabe – Absage?

Lesedauer: 8 Minuten

Kropotkin begleitet mich ein Stück des Weges

Nun habe ich die Bücher also in vierfacher Ausfertigung eingereicht. Mensch ey, was für eine Arbeit, was für ein Stress! Was für eine Selbstdisziplinierung in prekären Lebensverhältnissen in den letzten Jahren! Da habe ich viel zurück gestellt. Ich weiß warum und habe mich auch dafür entschieden. Ob ich das nochmal so tun würde? Keine Ahnung. Empfehlen würde ich es struggelnden, zappelnden Personen, die nicht in dieses Milieu hineingeboren sind jedenfalls nicht unbedingt. Damit kommt aber auch unmittelbar die Bewusstwerdung über meine Privilegiertheit hinein. Natürlich macht es einen Unterschied, weiß zu sein, Bildungskram frühzeitig vermittelt bekommen zu haben. Was die Männlichkeit angeht, bin ich mir in meinem Fall nicht so sicher, da ich in der Hackordnung immer weit unten stand. Aber diesem Thema wollte ich mich jetzt auch mal wieder widmen.

Gut, die Dissertation liegt nun in einem Dekanat herum bis die bürokratischen Verfahren eingeleitet und mein Werk dann begutachtet und beurteilt werden – wie es sich gehört. Ließe sich sicherlich auch anders gestalten. Doch auch auf diese Form und diesen Ablauf habe ich mich eingelassen, im Wissen um ihre Widersprüchlichkeit und die herrschaftlichen Aspekte einer akademischen Betriebs und seiner Gilde. Ach, da gäbe es so einiges zu kritisieren! Der Neoliberalisierung der Hochschulen widerspricht ja nicht der Muff der tausend Jahre, welcher auch manch reaktionärem Professor ein Refugium bietet. Aber das wäre ein eigenes Thema für sich. Und vielleicht habe ich auch nicht so viel länger mit dem Laden zu tun. Aber wer weiß…

Auf dem Weg meiner Abgabe direkt begleitete mich niemand meiner Freund*innen und Bekannten. Einige von ihnen habe ich später noch getroffen. Zeit zum Feiern ist auch erst, wenn das Ganze geprüft und verteidigt und vereidigt wurde. Das dauert noch. Weil ich den Weg zur Einreichung alleine angetreten bin, wird mir auch bewusst, was ist, was war: Viele meine früheren Gefährt*innen, Freund*innen, Genoss*innen gehen einer strukturierten Lohnarbeit und/oder haben Kinder bekommen. Manche von ihnen haben viel mit eigenen Problemen zu tun, die nach den Dreißigern für jene, die mit bestehenden Gesellschaftsstrukturen und Anforderungen hadern ja nicht weniger werden. Klar, einige sind wohl auch durchgestartet und in einer bürgerlichen Lebenswelt angekommen, haben ihre rebellische Phase hinter sich gelassen. Umso wichtiger erscheint daher, dass doch noch manche auf die eine oder andere Weise bei der Sache geblieben sind.

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Eine Reflexion über den pandemischen Ausnahmezustand

Lesedauer: 6 Minuten

zuerst veröffentlicht auf: untergrund-blättle.ch

Eigentlich hatte ich beschlossen, nichts mehr zur Pandemie, ihrer technokratischen Bearbeitung im staatlichen Hygieneregime, verschwörungsideologisch durchseuchten, rechtspopulistischen Protesten und dergleichen zu schreiben.

Es standen einfach zu viele andere Dinge an: Und darunter zählte definitiv auch, die Kraft zu finden, unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Umständen klar zu kommen und weiter zu machen. In meinem Text Was bedeuten soziale Freiheit und Solidarität in Zeiten des pandemischen Ausnahmezustandes?[1] habe ich vor bald zwei Jahren recht früh einen Gedankenanstoss aus anarchistischer Perspektive formuliert. Darin wurden vor allem die Kriegsrhetorik kritisiert, sowie die autoritären Potenziale des Hygieneregimes und der sich abzeichnende, von Angst getriebene und reflexhafte Konformismus der Linken thematisiert.

Schon damals hatte ich versucht eine Brücke zu schlagen zwischen einerseits einem reflexhaften Anti-Autoritarismus, verbunden mit einer wichtigen Kritik an Technokratie und Unterwürfigkeit, die bei einigen Anarchist:innen zu finden war und andererseits jenen Ansätzen, in denen die Potenziale von Selbstorgansiationsprozessen in der Krise betont wurden, ohne deswegen die Situation schön zu reden oder die Gefährlichkeit der Krise auf zynische Weise herab zu spielen.[2]

Das Aufbrechen der linken Schockstarre

Wie sich herausstellen sollte, begaben sich viele Linke in Geiselhaft der Regierungspolitik, was grundsätzlich keine Überraschung ist. Schockiert hatte mich dennoch die Schnelligkeit, mit welcher dies geschah – dass da so wenig Kritik, Abwehr, wenigstens Skepsis, vorgetragen wurde, gegenüber den oktroyierten Massnahmenpaketen. Das Rad drehte sich weiter und im Zuge der offenkundigen Fehleinschätzung der Wirkungsweise einiger Massnahme, sowie ihrer andauernden Nachregulierung, kamen aus dem weiten Spektrum der gesellschaftlichen Linken kritische Beiträge. Es wurden auch einige gute Aktionen hervorgebracht.

Bekanntermassen bezogen diese sich insbesondere auf die Situation von Geflüchteten („Leave no one behind“), die Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Pflegesystem und seine Kapitalverwertungsimperative. Später wurde dann der sogenannte „Impfnationalismus“ und die in der Krise gewachsenen Profite von Superreichen (sowie einiger Politiker:innen mit ihren Maskendeals) kritisiert. Hierin fanden sich einige gute Momente. Ausserdem handelte es sich auch um Versuche, aus der Schock-Situation, in welchen sich die Rahmenbedingungen des Handelns schlagartig geändert hatten und die gesellschaftlich-politische Konstellation völlig unübersichtlich geworden war, herauszukommen. Darunter zählte auch die eine oder andere autonome Spontandemonstration, etwa den Irrsinn der Ausgangssperre.

Allerdings blobbten leider bald auch solche hahnebüchenen Initiativen wie „ZeroCovid“ auf, die nicht nur das Wesen der Pandemie verkannten, sondern sich ungeachtet ihrer prominenten Unterstützung, fern ab der Wirklichkeit bewegten. Mit ihrem moralistischen Gehabe stellten lediglich das Kehrseite der eigenen Positionslosigkeit und Verzweiflung an der Lage dar. Emanzipatorische soziale Bewegungen, werden sich erst dann echte Macht aneignen können, wenn sie mit den Illusionen einer abgehobenen Akademiker:innen-Linken und anderen Pseudo-Avantgarden brechen und stattdessen konsequent auf Selbstorganisation setzen und nach Autonomie streben.

Leider gelang es meiner Wahrnehmung nach nur sehr wenig, die erwähnten sinnvollen Ansatzpunkte, mit den Gegenprotesten und -aktionen gegen die sogenannte Querdenker-Bewegung zu verbinden, die bekannterweise schon wenige Monate nach ihrer Entstehung vollkommen von organisierten Faschisten, AfD-Politiker:innen, Reichsbürger:innen und Rechts-Esoteriker:innen durchsetzt war. Ebenfalls stimmt es, dass die Querfront zu einem geringeren Teil von links gesucht wurde, durch Leute wie Anselm Lenz oder krypto-leninistischen Gruppierungen wie die „Freie Linke“.

Warum in den deutschsprachigen Länder etwa im Unterschied zu den mediterranen Ländern, der anti-moderne Irrationalismus besonders ausgebreitet ist, darüber könnten verschiedene Thesen aufgestellt werden, bleibt aber noch weiter zu klären. Ich persönlich glaube, dass dies mit einem weiter verbreiteten Gemeinschaftssinn zu tun hat, der kulturell und durch andere Krisenerfahrungen gewachsen ist, den es aber nicht zu romantisieren gilt.

Vielleicht haben die Anhänger der „konservativen Revolution“ recht mit ihrer These eines dekadenten Zivilisationsverfalls – nur, dass sich dieser keineswegs an der Verbreitung liberaler Diskursen und selbstbestimmter Lebensweisen, sondern an der Zuspitzung der materiellen, sozialen und politischen Ungleichheit sowie der Wahnhaftigkeit der Privateigentumsfetischist:innen festmachen lässt.

Die Zerrissenheit emanzipatorischer sozialer Bewegungen und die Notwendigkeit einer umfassenden Systemkritik

Wie auch immer: Akteur:innen in emanzipatorischen sozialen Bewegungen fanden sich zerrissen zwischen, erstens, dem Gegenprotest gegen eine erschreckend starke reaktionäre Bewegung mit ungeheurerer Dynamik, die den Volkszorn effektiv mobilisieren konnte (und kann), zweitens, den zaghaften und oftmals realitätsfernen linken Forderungen an die Regierungen, und drittens, den Versuchen wieder selbst unter veränderten Bedingungen in Bewegung zu kommen und nach der schockierten Pause die eigene Agenda weiter zu verfolgen. Platz für viertens blieb dagegen bislang so gut wie kaum: Kritik und Gegenwehr gegen die Transformation der bestehenden Gesellschaftsformation, die durch die Pandemie in einer neuen Phase durchsetzbar erschien.

Der italienische Philosophie Giorgio Agamben wurde viel für seine Kritik der Biopolitik und seine Statements in der „Corona-Krise“ kritisiert. Inwiefern dies im Detail berechtigt ist, kann ich nicht beurteilen. Dennoch teile ich die Kritik am Ausbau der neoliberalen Technokratie, der Veränderung des Verhältnisses von Herrschenden und Beherrschten in Hinblick auf eine weitere Verinnerlichung herrschaftlicher Imperative, sowie die post-demokratische Erosion gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse. Deswegen spreche ich auch von einem „Hygiene-Regime“, dass spezifische Veränderungen, Herrschaftstechnologien und Subjektivierungen ermöglicht. Daraus aber umgekehrt eine Ablehnung des Impfens zu folgern, wäre ein verkürzter Fehlschluss, der sich nicht an medizinischen Erkenntnissen orientiert, welche ich zu schätzen weiss.

Wer heute von umfassender Gesellschaftsveränderungen spricht, setzt sich schnell dem Verdacht aus, in der „grossen Transformation“ einen geheimen Plan der Eliten zu sehen – einem grundlegenden Element antisemitischer und rassistischer Verschwörungsideologie, analog zur angeblichen „Umvolkung“, dem „Gender-Gaga“ oder „Klima-Hype“, die Rechtspopulist:innen aller Orten von einem linksliberalen Establishment durchgesetzt sehen.

Wenn aber der anti-emanzipatorisch Rechtspopulismus zurückgekämpft werden soll, der sich Verschwörungsmythen, Rassismus und Strassengewalt bedient, muss verstanden werden, welche Punkte dieser aufmacht, die ihm derartigen Zulauf gewähren. Dies hat auch mit technischen Möglichkeiten zu tun, etwa der massenweisen, instrumentellen Nutzung der sozialen Medien, sowie der quasi-faschistischen Emotionalisierung von Politik, mit welcher Ängste von Menschen nicht nur angesprochen, sondern auch geschürt werden. Daraus hervor hervorgehender Zorn wird dann auf Sündenböcke gelenkt, die in Anderen, Fremden und dem politischen Gegnern ausgemacht werden. Damit wird auch das konservativ-reaktionäre Märchenbild einer vermeintlich besseren, vergangenen, organischen, hierarchischen Ordnung gezeichnet, die es wieder zu erlangen gälte.

Umbau des technokratischen Herrschaftsarrangements

Und dennoch geschieht der Gesellschaftsumbau vor unseren Augen. Der kapitalistische Staat und die mit ihm verbundenen herrschenden und verwaltenden Klassen, sind angesichts der umfassenden Folgen von Klimawandel, Migrationsströme, sozialen Verwerfungen, Verfall der öffentlichen Infrastrukturen, der Kapitalverwertungsschwierigkeiten durch Automatisierung, der Begrenztheit gewisser Ressourcen, der Veränderung der Machtverhältnisse im internationalen Staatensystem, neuen kriegerischen Bedrohungen und im besten Fall auch durch die sich ausweitende Gegenmacht von emanzipatorischen sozialen Bewegungen, gezwungen, systemische Veränderungen vorzunehmen. Wie stets und je nach dem, wie die Auseinandersetzungen darüber geführt werden und sich entwickeln, wird dies repressive, subjektivierende, reformerische und technologische Folgen nach sich ziehen.

Erstere vollzieht sich im Ausbau des Überwachungssystems, als auch der Ausweitung polizeilicher Kompetenzen und des Gefängnissystems. Die subjektivierenden Effekte finden sich in suggestiver Verhaltenskontrolle und neuem bürgerlichen Moralismus, wie auch der Individualisierung von Verantwortlichkeiten. Als Reformprojekt fällt der „grüne“ Kapitalismus ins Auge, welcher in Form des „Green New Deal“ auch offensiv von linken Parteien wie Diem25 in der Hoffnung gefordert wird, damit Spielräume für sozialistische Anliegen zu eröffnen – die selbstredend alle über den Staat vermittelt gedacht werden.

Was die Technologisierung angeht, war und ist nie die Nutzung von Werkzeugen selbst das Problem, sondern jene schlichtweg ein ko-evolutionärer Bestandteil menschlicher Entwicklung. Dennoch ist in Technologie ein Herrschaftscharakter eingeschrieben, den es nicht zu vernachlässigen gilt. Es kommt hierbei zu einer „Smartphonizierung der Macht“, wie in einem insurrektionalistischen Sammelband von 2018 zurecht festgestellt wird. Und dies gilt insbesondere bei einem neuen Schub für das technokratische Regieren, wie wir ihn derzeit erleben. Denn die technische Handhabung von Regierungsinstrumenten durch Politiker:innen geschieht in Übereinstimmung mit der Kontrolle über die von fast allen genutzten Technologien durch Tech-Unternehmen.

Digitalisierung wird nicht nur als Allheilmittel gepriesen, sondern – viel problematischer – nimmt das mehr oder weniger liberale Bürgertum seine Selbstentmündigung vor – damit aber zugleich jene aller anderen Bürger:innen. Die eigentlich offenen Fragen zum Nutzen, dem Klassencharakter, dem Besitz, der Notwendigkeit und der konkreten Ausgestaltung von technologischen Innovationen und ihrer massenweisen Implementierung, werden schlichtweg der Vorstellung geopfert, diese Entwicklungen seien unausweichlich und könnten deswegen auch der gesellschaftlichen Verhandlung darüber entzogen werden.

Zu den Grenzen der Regierbarkeit vordringen

Dass es vernünftigerweise Grenzen geben könnte und sollte, was technologischen „Fortschritt“ und seine rücksichtslose, warenförmige Verbreitung angeht, wird damit weggewischt. Es muss keinen Gott geben, um sagen zu können, dass Leben – auch nicht-menschliches – als heilig angesehen werden sollte, dass es ein pluriversales Recht auf Selbstbestimmung und Selbstentfaltung geben sollte. Es braucht keine Religion, um darauf aufmerksam zu machen, dass wir eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform nur erkämpfen können, wenn Menschen holistische Weltbeziehungen und auch neue Formen materialistischer Spiritualität entwickeln. Denn eine Bearbeitung unseres Entfremdungszustandes ist kein Luxusgut für Privilegierte und auch kein Ergebnis sozial-revolutionärer Kämpfe, sondern ebenso Ausgangsbedingung dafür, diese motiviert und emanzipatorisch führen zu können.

Sozial-revolutionäres Agieren ist überhaupt das Stichwort, mit welchem es sich in diesem Zusammenhang weiter zu beschäftigen gilt. Denn es beinhaltet – nicht im Detail, aber in der Herangehensweise – das, bei der obigen Schilderung von im weiteren Sinne links-emanzipatorischen Umgangsweisen mit den Pandemie fehlt. Anarchist:innen machen hier Unterschiede und verweisen auf andere Handlungsmöglichkeiten, eine umfassendere Kritik und einen konkret-utopische Vision, von denen sich Linke, auf die ich mich hier beziehe, etwas abschauen können.

Die Frage lautet eben nicht, ob wir im pandemischen Ausnahmezustand unseren Fokus auf die Bekämpfung reaktionärer Bewegungen, den zaghaften Kritik an Regierungspolitik oder dem Wiederaufleben eigener Kampagnen legen sollten. Vielmehr gilt es in allen drei Hinsichten sozial-revolutionäre Perspektiven herauszuarbeiten, die sich wie erwähnt aber nur dadurch entwickeln lassen, wenn die funktionale Veränderung des herrschenden Arrangements unter pandemischen Bedingungen mitgedacht, rekonstruiert und sabotiert wird.

Wenn Anarchist:innen dies verstehen würden, könnten sie ihr eigenes Potenzial entfalten, ihre Perspektiven verbreiten, aus der Szene heraustreten und inspirierend und motivierend wirken. Damit könnte auch die Angst des reaktionären Lagers aufgegriffen werden, deren verschwörungsmythologisches Zerrbild einer „grossen Transformation“ ja eine Wahrheit enthält: Nämlich, das die soziale Revolutionierung der Gesamtgesellschaft, in einem libertär-sozialistischen Sinne, auf lange Sicht keineswegs so abwegig und unmöglich erscheint, wie wir zu glauben gewohnt sind.

Jonathan

Fussnoten:

[1] https://www.untergrund-blättle.ch/gesellschaft/coronavirus-soziale-freiheit-solidaritaet-2214.html

[2] https://www.untergrund-blättle.ch/buchrezensionen/sachliteratur/marina-sitrin-colectiva-sembrar-pandemic-solidarity-mutual-aid-during-the-covid-19-crisis-6252.html

Demut beibringen

Lesedauer: 3 Minuten

Verletzlich zu sein ist ja nichts Schlimmes. Wenn wir unsere Grenzen erfahren, können wir uns selbst – in einer Welt der sinnentleerten kapitalistischen Warenform besonders spüren. Dies ermöglicht uns, eine realistische Einschätzung darüber gewinnen, was wir effektiv schaffen und erreichen können. Das gilt für Einzelnen, Gruppen, sogenannten „Szenen“, aber auch für soziale Bewegungen. In gewisser Hinsicht kann diese Lernerfahrung nur geschehen, wenn wir riskieren, auch Verletzungen zu kassieren. Dies gilt insbesondere, wenn mensch eine konfrontative sozial-revolutionäre Praxis entfalten möchte, die darauf abzielt, Verletzungen zu heilen, indem wir um unsere Würde kämpfen.

Ich möchte gerne so viel mehr machen und Geduld war nie meine Stärke. Es war auch nie meine Stärke, meine Lebenssituation zu akzeptieren, sie anzunehmen – und sie davon ausgehend zu verändern. Stattdessen neige ich dazu, in ihr festzuhängen. Äußere Umstände und bestimmte Gründe, gesellschaftliche Gesamtscheiße und tägliche Apokalypse hin oder her – Mensch steht sich oftmals selbst am meisten im Wege. Selbstbestimmung bleibt ein lebenslanger Prozess, dessen Gelingen davon abhängt, inwiefern mensch sich von anderen inspirieren und mitreißen lässt, ohne sich selbst einzugliedern oder sich mit anderen zu vergleichen.

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Und wieder andere Wege gehen

Lesedauer: 7 Minuten

Ein Nachruf auf die anarchistische Zeitschrift Gǎi Dào

zuerst veröffentlicht in: Graswurzelrevolution #461

Die Zeitschrift Gǎi Dào war mehr als nur das Presseorgan der Anarchistischen Föderation. In den 10 Jahren ihres Bestehens gab sie vielen Anarchist*innen und am Anarchismus Interessierten Einblicke in Theorie und Praxis, vermittelte Wissen über laufende Kampagnen und spannende Aktionen und ermöglichte 115 Ausgaben lang den Austausch unterschiedlichster Menschen und Projekte. Die Gǎi Dào war nicht nur ein Medium, das zum lustvollen Konsumieren einlud (und im Online-Archiv weiter einlädt). Sie bot Aktivist*innen auch die Möglichkeit, die Zeitung selbst mitzugestalten, sich durch Berichte, Analysen und subjektiv geprägte Beiträge in Debatten einzubringen und die eigenen Sichtweisen mitzuteilen. Über die Bedeutung und Reichweite von Gǎi Dào sowie über seine persönlichen Erfahrungen und Reflexionen über die eigene Sicht auf die anarchistische Szene schreibt für die Graswurzelrevolution Jonathan Eibisch. (GWR-Red.)

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Auf ein Neues!

Lesedauer: < 1 Minute

Ein turbulentes Jahr ging zu Ende, eine neues bricht an. Die großen Fragen, was uns wichtig ist und wie wir leben wollen, wofür wir streiten, stellten sich für Viele neu. Manche Perspektiven haben sich verschoben, manche Einsicht wurde gewonnen. Ich sehe auch, im Harren auf das Kommende, konnten wir neuen Mut schöpfen und dem Ernst der Lage gewahr werden.

Die große Vision, wo es hingehen kann, ist nach wie vor zu spinnen. Unverstellt und undogmatisch gilt es die Dinge anzuschauen, uns mit ihnen zu konfrontieren, damit wir weiter kommen. Aus unseren Erfahrungen in Auseinandersetzungen lernen, verstehen und nehmen wir wahr, wie es anders ist und sein kann; wie wir unsere Leben teilen, sie gelingen, schön und reich werden lassen können. Und dies soll für Alle gelten. Darum: Nieder mit dem Zynismus! Von meiner Hoffnung lass ich nicht.

Deswegen will ich weiter mit euch leben, lachen, weinen, denken, stören, schwach sein können, unsere Ohnmacht überwinden und mit euch was zu tun ist, in die eigenen Hände nehmen. Deswegen werde ich auch im nächsten Jahr weiter die Kritik der Kritik kritisieren.

Meinen Freund*innen danke ich sehr, dass sie diese Zeiten mit mir durchstehen, meinen Genoss*innen, das sie mit mir kämpfen. Meine Gefährt*innen: Ihr wisst, das ich euch brauche, das ihr mich gebrauchen und auf mich zählen könnt. Meinen Kontrahent*innen sage ich: Nur, weil ihr kein Eigentum habt, seid ihr nicht im Besitz der Wahrheit!

Blumen über den Winter retten

Lesedauer: 5 Minuten

Einer, bei dem die antideutsche Regression ebenfalls um sich griff, fragte mich, wozu ich vor habe zu sprechen bei dem Kongress, antwortete ich: Zu sozialer Revolution und Anarchismus, das Übliche eben. Darauf hin meinte er zu mir: „Blumen über den Winter retten“. Ich sagte, mit Blumen hätte ich eigentlich überhaupt nichts am Hut, aber falls ich mal wieder nach Holland fahren sollte, würde ich mich damit vielleicht doch mal beschäftigen. Damit hatte sich das Gespräch erledigt.

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Konsummentalität

Lesedauer: 3 Minuten

Ich habe einen Freund. Und dieser Freund konsumiert. Ja klar wirst du sagen, so wie wir alle. Das Leben als ein Kreislauf des Einströmens und Ausströmens. Des Imports und Exports könnte man sagen. Alles im Fluss eben. Abgesehen davon, dass die Idiotie und Besessenheit der Menschen sich dermaßen verselbständigt hat, dass sie alles auffressen, alles zertrampeln und zerstückeln. Wir machen da mit. Und wir konsumieren alle, natürlich, das ist Leben. Es könnte nur eben auch ohne Zerstörung stattfinden. Das gilt es festzuhalten.

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