Eine Sendung zu Landauer

Lesedauer: < 1 Minute

Eine gute Weile ist es her, dass wir dieses Interview geführt haben. Die Länge meiner Antworten sollte ich noch mal herunterschrauben und fokussierter sprechen. Ansonsten bin ich aber damit ganz zufrieden. Produziert und ausgestrahlt vom Anarchistischen Radio aus Karlsruhe.

https://radioa.noblogs.org/14-08-2022-radio-%e2%93%90-der-gudde-gustl-eine-sendung-fuer-und-ueber-gustav-landauer-interview-mit-jonathan-eibisch/

https://archive.org/details/sendung-14.08

Von der apokalyptischen zur prophetischen Eschatologie

Lesedauer: 29 Minuten

Anarchistische Vorstellungen von Zeitlichkeit und revolutionärer gesellschaftlicher Entwicklung

Jonathan Eibisch

in: Gregor J. Betz | Saša Bosančić (Hrsg.), Apokalyptische ZeitenEndzeit- und Katastrophenwissen gesellschaftlicher Zukünfte, Weinheim: BeltzJuventa 2021, S. 90-111.

1 Annäherungen an apokalyptische Narrative im Anarchismus

Die Assoziierung apokalyptischer Narrative und Bilder mit ‚Anarchie‘ oder ‚Anarchismus‘ ist im Alltag weit verbreitet. Schließlich wird das Hobbes‘sche Paradigma eines drohenden ‚Kampfes aller gegen alle‘ in Zeiten fragiler Herrschaftsordnungen durch Regierungsvertreter*innen und konservative Intellektuelle hartnäckig reproduziert. Aus anarchischer Perspektive sind politische und ökonomische Eliten auf die Angst vor ‚Chaos‘ und ‚Terror‘ angewiesen, während die bestehende gespaltene Gesellschaftsformation selbst Solidaritäten zerstört, Konkurrenzsituationen verursacht und grundlegend auf Gewaltverhältnissen fußt. Bei der folgenden Betrachtung potenziell apokalyptischer Narrative im anarchistischen Denken ist es daher entscheidend, nicht in die Falle des Schreckgespenstes chaotischer und barbarischer Zustände zu verfallen, wie es in einer Vielzahl von Katastrophenfilmen ausgiebig inszeniert wird. Vielmehr gilt es, theoretische Überlegungen im Anarchismus kritisch darauf hin zu überprüfen, inwiefern sie apokalyptische Aspekte beinhalten und – wichtiger noch – wie mit diesen umgegangen wird.

In diesem Beitrag werde ich, ausgehend vom anarchistischen Konzept der sozialen Revolution vier verschiedene geschichtsphilosophische Stränge im Anarchismus darstellen, welche sich auf apokalyptisches Denken und Empfinden beziehen und es verarbeiten. Das Argument lautet, dass sie auf unterschiedliche Weise apokalyptische Narrationen im kollektiven Bewusstsein ansprechen, diese jedoch in Richtung ermächtigender Handlungsaufforderungen wenden. Zunächst aber dienen drei ästhetische Beispiele für eine erste Annäherung an anarchistische apokalyptische Narrative.

1) Dem anarchistischen Kontext entsprang der geflügelte Satz „Wir sind ein Bild der Zukunft“, welcher geprägt wurde, nachdem Polizisten den Jugendlichen Alexandros Grigoropoulos am 12. Dezember 2008 in Athen erschossen hatten und es daraufhin wochenlang zu massiven Ausschreitungen in Griechenland kam. Viele der weit verbreiteten „Bilder der Zukunft“ zeigten vollvermummte Straßenkämpfer*innen, die vorzugsweise hinter Gasmaske verborgen sind. Noch zu finden sind sie als Graffitis an den Wänden des nunmehr stark von Gentrifizierung und polizeilicher Repression bedrohten Athener Alternativ- und Szeneviertels Exarchia. Zahlreiche Interviews von Beteiligten in den Kämpfen um Autonomie offenbaren allerdings, welche unglaubliche Sehnsucht nach alternativer Vergesellschaftung sich hinter den bedrohlichen Masken verbirgt (vgl. A.G. Schwarz/Sagris/Void Network 2010). Es wirkt, als könnte nur die apokalyptisch inszenierte Konfrontation mit den Repräsentanten des Staates und jene Befreiungsräume eröffnen, durch welche die neue Welt geboren werden könnte.

2) Eine zynische, von anarchistischen Aktivist*innen produzierte US-amerikanische Videoreihe, die in den Jahren 2006 bis 2019 erschien, wurde mit „It‘s the end of the world as we know it and I‘ll feel fine“ benannt. Der Titel wurde vom populären Song der Band R.E.M. (1987) adaptiert und als Intro der jeweiligen Videos leicht verfremdet eingespielt (vgl. Anonym 2018a). Die unverhohlene Propaganda und kontinuierliche Delegitimierung von politischen Repräsentant*innen, sowie der zur Schau gestellte Hass auf die Polizei in der Serie, dient augenscheinlich zur Verdeutlichung der Angreifbarkeit von Herrschaftsinstitutionen sowie zur Provokation und Legitimierung widerständigen Handelns. Das Motto des bitter lachend begrüßten Weltendes beinhaltet gleichwohl die Hoffnung auf eine selbstorganisierte, horizontale und dezentrale Organisierung der Gesellschaft und eine Beendigung des alltäglichen Leidens unter der Gewalt vorgefundener Herrschaftsverhältnisse.

3) In der deutschsprachigen Rap-Szene weit verbreitet ist der Song der Berliner Rapper K.I.Z „Hurra diese Welt geht unter“, vom gleichnamigen Album (2015). Darin wird aus der Perspektive der Überlebenden und der nächsten Generation die Zufriedenheit über die Katastrophe nach einem Atomschlag besungen. Durch den Untergang der heutigen Gesellschaft wäre ein Leben in Schlichtheit, Zwangslosigkeit, mit freier Liebe und verfügbarer Zeit, wenig Arbeit, ohne Geld, Banken, Gefängnisse, Armut und politischer Herrschaft möglich geworden. Mit der Aufforderung: „Haut in Trümmern das Paradies“ wird angedeutet, dass dies nicht durch eine zwangsläufige Entwicklung geschehen könne, sondern der ersehnte radikale Neuanfang des aktiven Zutuns von Menschen bedürfe. Dieser beinhalte unter anderem die Überwindung der eigenen Konsumentenhaltung im vermeintlichen Paradies westlicher Industriestaaten. Wenngleich es zu weit geht, die Texte von K.I.Z als anarchistisch zu bezeichnen, können hier dennoch deutliche Parallelen zu anarchistischen Narrativen radikaler Transformation ausgemacht werden.

Die Beispiele verdeutlichen, dass aktuelle anarchistische Mythologie durchaus an apokalyptische Vorstellungen, Ängsten oder Sehnsüchte anknüpft. Dies ist wenig überraschend, immerhin besteht der Kern der äußerst unterschiedlichen anarchistischen Bestrebungen im Vorantreiben der sozialen Revolution, die als umfassende, radikale, mehrdimensionale und intentionale Gesellschaftstransformation zu verstehen ist.

Um adäquat erfassen zu können, inwiefern Anarchist*innen apokalyptische Narrationen ausprägen, ist es zunächst erforderlich, zwei umstrittene Rezeptionen des Anarchismus zu betrachten, welche über die Geschichtswissenschaften Eingang in die sozialwissenschaftliche Betrachtung des Phänomens fanden.

Dies betrifft zum einen Eric J. Hobsbawms Darstellung der „andalusischen Anarchisten“ als moderne chiliastische Bewegung (vgl. 1979, S. 104 ff.). Die enormen gesellschaftlichen Umwälzungen, welche mit der Etablierung des Kapitalismus und moderner Staatlichkeit einhergingen, riefen zweifellos ein spezifisches Zeit- und Lebensgefühl – beispielsweise auf der iberischen Halbinsel – hervor. Hobsbawms Erklärungsansatz, hierbei handele es sich um eine im Grunde genommen anti-moderne Bewegung, welche die Bedingungen der Moderne nicht zu begreifen imstande gewesen wäre und daher von einer eschatologischen Erlösungshoffnung getrieben sei, greift deutlich zu kurz. Dagegen wird Walter L. Bernecker (2006) der Komplexität des Gegenstandes gerecht, indem er sowohl sozial-strukturelle, wirtschaftliche, kulturelle und ideologische Aspekte der spanischen Geschichte beleuchtet, wodurch sich eine verkürzte Darstellung des Anarchismus als pseudo-religiöse soziale Bewegung als falsch erweist.

Zum anderen ist in diesem Zusammenhang Norman Cohns Das neue irdische Paradies. Revolutionärer Millenarismus und mystischer Anarchismus im mittelalterlichen Europa (1988) zu nennen. Cohn untersucht darin dissidente und häretische soziale Bewegungen (wie beispielsweise die Begharden und Beginen oder die Taboriten) auf ihren proto-anarcho-kommunistischen Gehalt und ihre apokalyptischen Vorstellungen hin. Weil die Durchsetzung der modernen Gesellschaft weder als eine Kontinuität, noch als ein klarer Bruch zur mittelalterlichen Lebens- und Gedankenwelt zu betrachten ist, hilft Cohns Studie durchaus, um die lange Geschichte apokalyptischen Denkens, seine lebensweltlichen Ausprägungen sowie kulturellen, sozialen und politischen Folgen zu verstehen. Gleichwohl ist der libertäre Sozialismus nicht als pseudo- oder postreligiöse Weltanschauung zu rahmen, sondern als grundlegend moderne soziale Bewegung anzusehen. Ihn lediglich als klischeebehaftetes Abbild zu erfassen oder als historisch abgeschlossenes Phänomen zu konservieren, wird dem Gegenstand nicht gerecht.

Im Folgenden widme ich mich verschiedenen, möglicherweise als apokalyptisch zu beschreibenden Narrativen im Anarchismus, die parallel zueinander existieren und fortgeschrieben werden. Hierbei gilt es zu bedenken, dass es spezifische sozial-strukturelle und sozial-kulturelle Faktoren und Entwicklungen sind, welche die Ausprägung bestimmter Zeitlichkeitsvorstellungen und -empfindungen bedingen. Weil der moderne Anarchismus wie der Sozialismus insgesamt als Reaktion auf die Entwicklung der krisenhaften modernen Gesellschaft gilt, kann vermutet werden, dass seine Narrationen in den aktuellen Umwälzungsprozessen wieder an Relevanz gewinnen. Weil das Wissen um Anarchismus als soziale Bewegung, Theorie und Lebensweise wenig verbreitet ist und oftmals verkürzt wiedergegeben wird, werde ich eine vorwiegend politisch-theoretische, immanente Betrachtung vornehmen, um die spezifischen Vorstellungen von Geschichte und Zeitlichkeit in ihm aufzuzeigen, welche teilweise apokalyptische Aspekte aufweisen oder sich auf solche beziehen (vgl. Loick 2017, S. 9 ff.). In diesem Zusammenhang greife ich auf Gustav Landauers (1907/1977) unkonventionelles Geschichtsverständnis zurück. In seinem Buch Revolution erläutert er, dass Geschichtsverständnisse mit den jeweiligen historisch-kontingenten sozialen und politischen Bedingungen, sowie deren spezifischer Interpretationen verknüpft sind. Landauer behauptet,

dass unser geschichtliches Verständnis viel weniger von den Zufällen der äußeren Überlieferung und Erhaltung abhängt als von unserem Interesse. Wir wissen von der Vergangenheit nur unsere Vergangenheit; wir verstehen von dem Gewesenen nur, was uns heute etwas angeht; wir verstehen das Gewesene nur so, wie wir sind; wir verstehen es als unseren Weg. Anders ausgedrückt heißt das, dass die Vergangenheit nicht etwas Fertiges ist, sondern etwas Werdendes. Es gibt für uns nur Weg; nur Zukunft; auch die Vergangenheit ist Zukunft, die mit unserm Weiterschreiten wird, sich verändert, anders gewesen ist. (Landauer 1907/1977, S. 26)

In jüngerer Zeit hat beispielsweise Eric Selbin (2010) eine ähnliche Herangehensweise, um revolutionäre Narrationen in den Blick zu bekommen. In diesem Sinne sind bei der Frage nach apokalyptischen Narrationen im Anarchismus deren explizite und implizite Funktionen und Wirkungsweisen für emanzipatorische soziale Bewegungen zu bedenken. Deswegen wende ich mich zunächst dem anarchistischen Konzept von sozialer Revolution zu, bevor ich vier Formen anarchistischer Geschichtsverständnisse und Zeitlichkeit darstelle, welche bestimmte Handlungsstrategien intendieren.

Vorweggenommen werden soll jedoch bereits die Herangehensweise Martin Bubers. Dieser strebt an, von einer ‚apokalyptischen‘ zur ‚prophetischen‘ Eschatologie zu gelangen. Letztere überlasse Menschen die Entscheidung über ihr Handeln, während erstere von historischen Notwendigkeiten ausgehe und die Konkretisierung von Utopie ablehne. Damit wird zugleich eine Unterscheidung zwischen den tendenziell marxistischen und den libertär-sozialistischen Vorstellungen von radikaler Gesellschaftstransformation deutlich. Denn der

Punkt, an dem bei Marx die utopisierte Apokalyptik aufbricht und alle ökonomisch-wissenschaftliche Topik in reine Utopie umschlägt, ist die Wandlung aller Dinge nach der sozialen Revolution. Die Utopie der sogenannten Utopisten ist vorrevolutionär, die marxistische ist nachrevolutionär. (Buber 1950, S. 25)

2 Das anarchistische Konzept von sozialer Revolution

Das anarchistische Verständnis von sozialer Revolution kann als ein schwer konturierbarer Zwischenraum zwischen sozialer Evolution, politischer Revolution und politischer Reform begriffen werden. In ihm geht es weder darum, eine bürgerliche Regierung durch eine vermeintlich sozialistisch-revolutionäre zu ersetzen, noch um eine Diktatur des Proletariats, noch um reformerische Bestrebungen im Rahmen der bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse und -institutionen. Ebenso wenig geht es beim anarchistischen Konzept von sozialer Revolution um die Annahme einer vollkommen eigendynamischen gesellschaftlichen (Weiter-)Entwicklung. Die frühen Anarchist*innen begriffen sich selbst in der Rolle von ‚Geburtshelfer*innen‘ für eine grundlegend neue, selbstorganisierte, egalitäre und sozialistische Gesellschaftsform, deren Anlagen immanent vorhanden seien und die prozesshaft zu erkämpfen und einzurichten seien. Hierbei ist der Gedanke von Élisée Reclus (1898/2013) von Bedeutung, dass zwischen Evolution und Revolution kein Widerspruch bestünde. Die bürgerliche und sozialdemokratische Aufforderung, auf gesellschaftliche ‚Evolution‘ zu setzen, laufe demnach darauf hinaus, den Anspruch einer grundlegenden Gesellschaftstransformation fallen zu lassen – und sei es unter dem Deckmantel radikaler Phrasen wie in der marxistischen Orthodoxie Karl Kautskys. Reclus schreibt:

It can thus be said that evolution and revolution are two successive aspects of the same phenomenon, evolution preceding revolution, and revolution preceding a new evolution, which is in turn the mother of future revolutions. […] A new phenomenon can thus come into being only through an effort that is more violent, or a force that is more powerful, than the resistance. (Reclus 1898/2013, S. 138)

Wichtig ist hierbei, dass Reclus nicht naiv die Radikalität oder Rapidität gesellschaftlicher Veränderungsprozesse per se begrüßt, sondern deren Inhalte und ethische Zielsetzungen in den Vordergrund rückt, denn Revolutionen

do not necessarily constitute progress, just as evolutions are not always directed toward justice. Everything changes; everything in nature moves as part of an eternal movement. But where there is progress, there can also be regression, and if some evolutions tend toward the growth of life, there are others that incline toward death. To stop is impossible, and it is necessary to move in one direction or another. (Reclus 1898/2013, S. 139)

In der anarchistischen Theorie wird somit nach einem Zwischenraum zwischen Aufstand und Evolution, zwischen Voluntarismus und Determinismus, gesucht, um Möglichkeiten für soziale Fortschritte auszuloten. Dieses Problem betrachtet auch Bini Adamczak, indem sie formuliert:

In der klassischen Perspektive sind die Pole miteinander vermittelt, insofern eine bewusste Revolution erst stattfinden kann, wenn sich in der alten Gesellschaft – in ‚ihrem Schoß‘ – die neue entwickelt hat (MEW 13, 9). Dies lässt sich im Sinne von Produktivkräften verstehen, welche die ‚Fesseln‘ (MEW 4, 467) der überkommenen Produktionsverhältnisse sprengen, oder im Sinne einer Klasse, die ‚zum Totengräber‘ (MEW 4, 474) der bisher herrschenden wird, oder im Sinne von Produktionsverhältnissen und Verkehrsformen, die sich parallel zu den dominanten entwickeln, um sie schließlich zu ersetzen. Nur die dritte Möglichkeit kann den verschiedenen Einwänden standhalten, die in der Geschichte des Marxismus gegen sie erhoben wurden. (Adamczak 2017, S. 89)

An dieser Stelle ist auf das Detail zu schauen. Denn es ist bezeichnend, dass Adamczak sowohl für die deterministische als auch für die voluntaristische Herangehensweise ein Zitat von Marx anführen kann, für die dritte Option der sich parallel entwickelnden neuen gesellschaftlichen Verhältnisse und Institutionen jedoch keinen Beleg bei diesem findet. Im Unterschied dazu umkreist das anarchistische Konzept von sozialer Revolution genau diese interstitielle Herangehensweise und geht entschieden von als ethisch wünschenswert erachteten parallel vorhandenen gesellschaftlichen Verhältnissen aus, die verteidigt und ausgedehnt werden können, bis sie schließlich die dominierenden Herrschaftsverhältnisse soweit untergraben haben, dass sie verdrängt werden (vgl. Critchley 2008, S. 20, S. 109, S. 132 ff.).

Die Ambivalenz, welche in einer Herangehensweise des Agierens in-gegen-und-jenseits der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck kommt, findet sich naheliegender Weise auch im sozial-revolutionären Geschichtsverständnis und Denken von Zeitlichkeit wieder. Soziale Revolution bezeichnet demnach zugleich prozesshafte und schrittweise gesellschaftliche Transformationsvorgänge als auch rapide, abrupte und erschütternde Brüche und Eruptionen. Sollen dadurch emanzipatorische Ansprüche verwirklicht werden, könnten jene jedoch nicht einfach herbeigeführt werden, sondern sind Ausdruck verschiedenster untergründiger Tätigkeiten. Daraus lässt sich die emphatische Anrufung des Handelns im sogenannten Hier-und-Jetzt als spezifischer Modus von Zeitlichkeit im Anarchismus erklären. Jeder einzelne heute und vor Ort gegangene Schritt in Richtung des sozialen Fortschritts und zur Abwehr der antiemanzipatorischen Konterrevolution ist demnach Ausgangsbasis und Voraussetzung aller weiteren sozial-revolutionären Veränderungsmöglichkeiten. Jene sind freilich von einer Vielzahl struktureller Bedingungen abhängig, wobei ein herausgebildeter und verbreiteter Veränderungswillen sowie die Ausbildung von Organisationsformen, welche den angestrebten Zielsetzungen entsprechen, als solche Bewegungen zu verstehen sind. Die Gleichzeitigkeit von prozesshaften Entwicklungen als auch von rapiden und abrupten Zusammenbrüchen und Aufbrüchen zu denken, bleibt im anarchistischen Verständnis von sozialer Revolution also auf paradoxe Weise unaufgelöst. Wenn das Anliegen der sozialen Revolution ernstgenommen wird, liegt es auf der Hand, dass bestimmte Beschreibungen von Vergangenheiten und Gegenwärtigkeiten dazu dienen, ein grundlegendes Transformationsprojekt zu ermöglichen, dessen Notwendigkeit möglicherweise anhand eines katastrophalen Zustandes beziehungsweise durch dessen abrupte Überwindung legitimiert wird.

3 Vier geschichtsphilosophische Stränge zum Umgang mit apokalyptischen Narrativen im Anarchismus

Unter diesem breiten gemeinsamen Nenner finden sich in der anarchistischen Theorie vier Stränge von Geschichtsvorstellungen und Zeitlichkeit, die auf ihren apokalyptischen Gehalt hin überprüft werden können. Sie können benannt werden als dialektische Befreiung, (r)evolutionäre Entwicklung, eschatologischer Bruch und als prozesshafte strukturelle Erneuerung. Diese Verständnisse werde ich nun nacheinander behandeln, wozu ich jeweils ein Beispiel aus dem frühen Anarchismus und ein aktuelles wähle, um ihre Kontinuität aufzuzeigen.

3.1 Materialistische dialektische Befreiung

Michael Bakunin gewann aufgrund seiner revolutionären Tätigkeiten und als Gegenspieler der Staatssozialisten in der Ersten Internationalen Arbeiterassoziation weltweit große Bekanntheit. Weniger beachtet sind seine theoretischen Schriften, was teilweise deren fragmentarischem Charakter geschuldet ist. So bezog er nicht nur wesentliche Gedanken aus den radikalen sozialistischen Kreisen, in denen er sich bewegte, sondern insbesondere aus der deutschen Philosophie von Fichte, Kant und vor allem Hegel. Von Hegel übernahm Bakunin dessen dialektisches Denken. Für seine reife Schaffensphase kann festgehalten werden, dass Bakunin ein materialistisches Geschichtsverständnis entwickelt und Geschichtsverläufe als dialektischen Prozess der Befreiung im Sinne einer Negation des Bestehenden begreift. So deutet er den Mythos der jüdisch-christlichen Schöpfungsgeschichte so:

Der Mensch hat sich befreit, er hat sich von der tierischen Natur getrennt und sich als Mensch gebildet; er begann seine Geschichte und seine eigentlich menschliche Entwicklung mit einem Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empörung und dem Denken. (Bakunin 1975, S. 95 f.)

Doch insbesondere in seiner philosophischen Frühschrift Die Reaktion in Deutschland (1842/1969) argumentiert er, weshalb sich eine sozial-revolutionäre Perspektive nicht auf demokratische Vermittlungsversuche einlassen dürfe, sondern konsequent die Negation der bestehenden Gesellschaft betreiben müsse, um diese tatsächlich überwinden zu können. Er beendet den Text mit der bekannten, aber oft unverstandenen Passage:

Und die Vermittelnden mahnen wir, ihre Herzen der Wahrheit zu öffnen und sich von ihrer armseligen und blinden Weisheit, von ihrem theoretischen Hochmut und von der knechtischen Furcht zu befreien, welche ihre Seele austrocknet und ihre Bewegungen lähmt. Laßt uns also dem ewigen Geiste vertrauen, der nur deshalb zerstört und vernichtet, weil er der unergründliche und ewig schaffende Quell alles Lebens ist. – Die Lust der Zerstörung ist zugleich eine schaffende Lust! (Bakunin 1842/1969, S. 95f.)

Bakunin stellte fest, dass eine revolutionäre Gesellschaftsveränderung zwangsläufig auch Gewaltanwendung beinhaltet. Wesentlich interessanter als die Debatte um diese Problematik ist für den vorliegenden Zusammenhang das dahinterliegende Geschichtsverständnis des dialektischen Befreiungsprozesses, nach welchem nur durch radikales Agieren überhaupt nennenswerte Erfolge erzielt werden könnten. Demnach ist es nur folgerichtig, wenn er sich rhetorisch aufgeladen in diesem Text selbst als „Apokalyptiker“ bezeichnet (vgl. ebd., S. 87). Nach dieser Logik lehnt er es tatsächlich auch ab,

das Paradiesgebäude des zukünftigen Lebens aufzurichten, von dem wir nur eine nebelhafte Vorstellung haben können […]. Für Leute der bereits begonnenen praktischen Revolutionssache halten wir jegliche Betrachtungen über diese nebelhafte Zukunft für verbrecherisch, da sie nur der Sache der Zerstörung als solcher hinderlich sind. (Bakunin zitiert nach Adamczak 2017, S. 46)

Ungeachtet dessen entwickelte Bakunin als Theoretiker des kollektivistischen Wirtschaftsmodells letztendlich dennoch auch konstruktive Überlegungen.

Fortgesetzt wird das materialistische Denken von Geschichte als dialektischer Befreiungsprozess von John Clark in seinem Buch The Impossible Community. Realizing Communitarian Anarchism (2013). Darin verteidigt er dialektisches Denken als epistemologisches Werkzeug für den Anarchismus.

Radical dialectic sees the world (including the social world, the natural world, and the world of ideas) as the site of constant change and transformation that takes place through processes of mutual interaction, negation, and contradiction. It asserts that a dynamic, self-transforming reality is always a step, or several steps, ahead of our processes of conceptualization. Things are in a state of becoming and therefore always are not what they are, and always are what they are not. Negation is determination. Things are what they are not in the sense that to which they are related is internal to their being. (Clark 2013, S. 21)

In den folgenden Beiträgen des Bandes durchdenkt Clark mit seiner dialektischen Herangehensweise unter anderem ein drittes Freiheitskonzept im Sinne der Freiheit in Gemeinschaft (vgl. ebd., S. 53 ff.) und umkreist damit implizit – aber keineswegs zufällig – wiederum ein Thema, welches schon Bakunin behandelte (vgl. Bakunin 1871/1969). Weiterhin widmet sich Clark (2013, S. 127 ff.) der Dialektik von Utopie als Ort des Nicht-Orts, wie auch der Vermittlung persönlicher Veränderung und sozialer Aktivität in anarchistischen Praktiken (ebd., S. 169 ff.). Auf einer theoretischen Ebene kann daher festgehalten werden, dass er ein dialektisches Geschichtsverständnis für den Anarchismus erneuert.

3.2 (R)evolutionäres soziales Fortschreiten

Peter Kropotkins Geschichtsverständnis kann am ehesten als Antagonismus zwischen Freiheit und Herrschaft, zwischen egalitären/horizontalen und hierarchischen/staatlichen Gesellschaftsordnungen verstanden werden. In einer Schrift Die historische Rolle des Staates ist Folgendes pointiert zu lesen: durch

die gesamte Geschichte unserer Kultur ziehen sich zwei Traditionen, zwei entgegengesetzte Strömungen: die römische Tradition und die volkstümliche, die kaiserliche Tradition und die eidgenössische, die autoritäre Tradition und die freiheitliche. Und heute, am Vorabend der sozialen Revolution, treffen diese zwei Traditionen von neuem aufeinander. (Kropotkin 1896/2008, S. 68)

Tendenzen zu anarchistischen und kommunistischen gesellschaftlichen Verhältnissen wären demnach seit Jahrtausenden parallel zu den Dominanten der politischen und ökonomischen Herrschaft zu finden. Statt der Konkurrenz der Individuen im Kapitalismus entstünden gleichzeitig

unter tausend verschiedenen Gesichtspunkten neue, auf dasselbe Prinzip: Jedem nach seinen Bedürfnissen gegründete Organisationen; denn ohne eine gewisse Dosis Kommunismus vermögen die gegenwärtigen Gesellschaften nicht zu leben. Trotz der durch die Warenproduktion evozierten beschränkten egoistischen Geistesverfassung offenbart sich die kommunistische Tendenz in jedem Moment und dringt in allen möglichen Gestalten in unsere Verhältnisse ein. (Kropotkin 1973, S. 97, kursiv im Original)

Kropotkin geht also von einem grundlegenden Antagonismus zwischen einerseits solidarischen, egalitären, freiheitlichen, sowie auf Konkurrenz basierten, hierarchischen, autoritären Vergesellschaftungsformen andererseits aus. Dies führt ihn jedoch nicht zu einer im engeren Sinne apokalyptischen Logik einer unvermeidlichen Zuspitzung, sondern zum komplexen Denken von Fort- und Rückschritten, von Terraingewinnen und -verlusten. Gleichwohl bleibt Kropotkin mit seiner Vorstellung von sozialem Fortschritt, welcher den ökonomischen, kulturellen und technischen Entwicklungen folgen müsse, weitgehend dem teleologischen Fortschrittsdenken der Aufklärung verhaftet.

Zwischen 1879 und 1882 schrieb er eine Artikelreihe, die als Worte eines Rebellen publiziert wurden. Darin begründet er, warum eine große soziale Revolution bevorstünde (vgl. Kropotkin 1922, S. 18 f., S. 23 ff., S. 182 f., S. 188 f.), stellt jedoch ebenso fest, dass ihr Verlauf sehr stark vom Bewusstseinsstand und Organisationsgrad der unterdrückten und ausgebeuteten Klassen abhängig wäre (vgl. ebd., S. 35 ff., S. 210 ff.), dessen Mangel nicht durch einen autoritären Parteikommunismus kompensiert werden könne (vgl. ebd., S. 171 ff.). Schon im Vorwort zur italienischen Ausgabe von 1904 reflektiert Kropotkin über das Ausbleiben des von ihm vorhergesagten großen Umbruchs und erklärt es mit den massiven Repressionswellen nach der Zerschlagung der Pariser Kommune, mit dem Ausbau des Imperialismus, welcher eine Anhebung des durchschnittlichen Lebensstandards ermöglichte, der Einhegung und Entradikalisierung der Arbeiter*innenbewegung, sowie den gegenrevolutionären Anstrengungen der Kirchen (vgl. ebd., S. 1 ff.). Das Zusammendenken von gesellschaftlicher Evolution und sozialer Revolution führt ihn also keineswegs zu einer eschatologischen Endzeiterwartung, sondern zu einer differenzierten Suche nach den Handlungsmöglichkeiten eines libertär-sozialistischen Projektes.

Dieses Geschichts- und Zeitverständnis lässt sich auch bei David Graeber nachzeichnen. In seinem Buch Debt ist die Passage zu lesen:

For thousands of years, the struggle between rich and poor has largely taken the form of conflicts between creditors and debtors-of arguments about the rights and wrongs of interest payments, debt peonage, amnesty, repossession, restitution, the sequestering of sheep, the seizing of vineyards, and the selling of debtors‘ children into slavery. By the same token, for the last five thousand years, with remarkable regularity, popular insurrections have begun the same way: with the ritual destruction of the debt records-tablets, papyri, ledgers, whatever form they might have taken in any particular time and place. (Graeber 2011, S. 8)

Ganz wie bei Kropotkin kann diese geschichtsphilosophische Perspektive als dualistisch, nicht jedoch als manichäisch bezeichnet werden. Zwar wird von einem grundlegenden Antagonismus zwischen Regierung und Selbstbestimmung (vgl. CrimethInc 2018) ausgegangen, dieser jedoch nicht in einer vereinfachten schwarz-weiß-Unterscheidung zugespitzt, sondern in seiner Verwobenheit und im Prozess gesehen. In einem Essay wird deutlich, dass Graeber (2012) den Verlauf historischer Entwicklungen als offen und vom Handeln verschiedener Akteure abhängig erachtet, wobei er Bezug auf emanzipatorische soziale Bewegungen nimmt. Die Beschäftigung mit sozial-revolutionären Transformationsmöglichkeiten unter den Bedingungen der gegenwärtigen Situation heraus sei demnach selbst ein Bestandteil, sie zu verwirklichen. In post-situationistischer Manier betont er damit die Rolle der Vorstellungskraft, also letztendlich auch von Narrationen, sowohl im zeitdiagnostischen Sinne einer Gegenwartsanalyse, als auch im prognostischen, dem Aufzeigen von Veränderungsmöglichkeiten. Es erscheine ihm,

that at the current historical juncture, some such reflection wouldn’t be a bad idea. We are at a moment, after all, when received definitions have been thrown into disarray. It is quite possible that we are heading for a revolutionary moment, or perhaps a series of them, but we no longer have any clear idea of what that might even mean. This essay then is the product of a sustained effort to try to rethink terms like realism, imagination, alienation, bureaucracy, and revolution itself. (Graeber 2012, S. 41)

Eine Umkehrung ‚klassischer‘ Revolutionsvorstellungen bestünde darin, sich im Hier und Jetzt sozial-revolutionär auszurichten und im Modus direkter Aktionen zu agieren, anstatt ihre Forderungen lediglich auf die Zukunft zu verschieben und zu projizieren (vgl. ebd., S. 42 f., S. 57 ff.). Um Revolution neu denkbar zu machen, plädiert Graeber auch dafür, links-emanzipatorische Geschichte nicht fortwährend negativ, als Verlust, Niederlage oder Scheitern zu begreifen, sondern Konzepte des Siegens zu entwickeln, die er beispielsweise in der Geschichte feministischer Bewegungen sieht (vgl. Graeber 2011, S. 11 ff.; vgl. Adamczak 2017, S. 97). In seinem Essay Fragments of an anarchist Anthropology fokussiert sich Graeber (2004, S. 33) auf die „stillen“ Revolutionsprozesse der alltäglichen Ablehnung von Macht, Verweigerung von Zustimmung und Unterstützung. Wiederum betont er die Rolle des politischen Träumens, der Imagination – das heißt im Grunde auch: des Alltagsverstands mit seinen utopischen Potenzialen –, damit soziale Bewegungen Einfluss auf Revolutionsprozesse erlangen können (vgl. ebd., S. 44). Anstatt in Kategorien des Regierungssturzes zu denken, könne Revolution auch bedeuten, autonome Gemeinschaften zu schaffen beziehungsweise diese zu fördern und auszubauen (vgl. ebd., S. 45), wobei es über den Horizont der westlichen Welt hinauszuschauen gälte (vgl. ebd., S. 54).

3.3 Mythologisierter eschatologischer Bruch

Während Kropotkins und Graebers anarchistisch-kommunistisches Verständnis von Geschichte und Zeitlichkeit nicht als apokalyptisch bezeichnet werden können, trifft dies auf Georges Sorels Verständnis von Geschichte als mythologisiertem Klassenkampf grundlegend zu, welches er in seinem Werk Über die Gewalt entfaltet.1

Analog zu den avantgardistischen Surrealist*innen seiner Zeit führte Sorel die Dimension des Imaginären in das politische Denken ein, indem er die Taktik des Generalstreiks bewusst mythologisiert (vgl. Sorel 1908/1969, S. 174). Sorel schreibt, wir könnten

nicht handeln, ohne aus der Gegenwart herauszutreten, ohne über jene Zukunft vernunftgemäß nachzudenken, die doch für immer verdammt erscheint, sich unserer Vernunft zu entziehen. Die Erfahrung beweist uns, daß Konstruktionen einer in ihrem Verlauf unbestimmten Zukunft eine große Wirksamkeit besitzen und nur geringe Unzuträglichkeit mit sich bringen können, sofern sie von einer bestimmten Art sind. […] Es kommt also äußerst wenig darauf an, zu wissen, was die Mythen an Einzelheiten enthalten, die bestimmt sind, wirklich auf der Ebene der Zukunftsgeschichte zu erscheinen […]. Man muß die Mythen als Mittel einer Wirkung auf die Gegenwart beurteilen; jede Auseinandersetzung über die Art und Weise, wie man sie inhaltlich auf den Verlauf der Geschichte anzuwenden vermöchte, ist ohne Sinn. Die Ganzheit des Mythos ist allein von Bedeutung; seine Teile bieten nur insofern Interesse, als sie die in dem Gefüge enthaltene Idee hervortreten lassen. (Sorel 1908/1968, S. 143)

Die im Anarcho-Syndikalismus angelegte und forcierte Analyse der strukturellen Spaltung zwischen Arbeiter*innenklasse und Kapitalist*innen essenzialisiert Sorel zu einem „Klassenkrieg“ oder „sozialen Krieg“ (vgl. ebd., S. 63, S. 83). Den Generalstreik begreift er als die ultimative Endschlacht der antagonistischen Klassen (vgl. ebd., S. 134, S. 152 ff.), an welcher die alltäglichen sozialen Kämpfe zu orientieren seien. Man müsse „den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus als eine Katastrophe auffassen, deren Prozeß sich der Beschreibung entzieht“ (ebd., S. 173). Entgegen der Verwässerung inhaltlicher Positionen, der Verweichlichung des militanten Kampfeswillens, der Saturierung durch Lohnerhöhungen und Preisnachlasse, der Einhegung der autonomen Arbeiter*innenbewegung durch sozialistische und bürgerliche Parteien, den Parlamentarismus und vermittelnde staatliche Sozialpolitik zielt Sorel auf eine unbedingte Spaltung der Fronten ab, die ihm als Voraussetzung für die eschatologisch überhöhte Endschlacht gilt (vgl. ebd., S. 60 ff.). Der Mythos des Generalstreiks als spezifische „Ordnung von Bildern“ (ebd., S. 145) dient somit als voluntaristische Anrufung, um sozial-revolutionäre Gewerkschaftsaktivist*innen zu motivieren, die klaren Frontverläufe wiederzugewinnen, welche sie historisch vor 10 bis 30 Jahren vermeintlich – tatsächlich allerdings niemals in Reinform – gegenübergestanden hätten. Damit zeigt Sorel eine dritte Perspektive gegen den sozialdemokratischen Reformismus und die marxistische Orthodoxie im Revisionismus-Streit auf (vgl. ebd., S. 60, S. 163, S. 199, S. 259). Eine Gewaltanwendung militanter Arbeiter*innen sei gerechtfertigt und als reinigende Praxis erforderlich, um die Lager zu polarisieren und zu trennen, um der strukturellen Gewalt der ökonomischen und politischen Herrschaftsverhältnisse zu begegnen und um sie letztendlich zu überwinden. Die proletarische Gewalt wäre in jedem Fall deutlich milder als die systematische Gewaltausübung des Staates (vgl. ebd., S. 28, S. 129 ff., S. 208 ff.). Dagegen sei die Tabuisierung von Gewalt ein Ergebnis bürgerlichen Denkens, welches auch Sozialist*innen übernommen hätten, um die strukturellen Gewaltverhältnisse zu verschleiern (vgl. ebd., S. 124 ff.). Demgegenüber betreibt Sorel eine Heroisierung von Gewalt, setzt sie somit zum Selbstzweck (vgl. ebd., S. 106 f.; S. 280 ff.) und fetischisiert den Kampf (ebd., S. 154 f.). Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Sorel sich klar von blanquistischen Aufstandstheorien abgrenzt (vgl. ebd., S. 198 ff.). Weiterhin wendet er sich gegen utopische Entwürfe und aufklärerische Erziehungsmodelle, die er als humanistisch und zahnlos verwirft (vgl. ebd., S. 93 f., S. 116, S. 158 f., S. 188, S. 266.). Sorels Denkweise als apokalyptisch zu beschreiben ist schließlich auch deswegen plausibel, weil die sozialistische Revolution für ihn den letzten Ausweg darstellt, um die Zivilisation zu retten (vgl. ebd., S. 101 ff., S. 195 ff., S. 300 ff.) und die Moral zu erneuern, die im dekadenten Bürgertum niedergegangen wäre (vgl. ebd., S. 272 ff.).

Allgemein ist festzustellen, dass der dezidiert apokalyptische Strang des eschatologischen Bruchs in der anarchistischen Szene und Literatur im Vergleich zu den anderen geschichtsphilosophischen Narrativen deutlich unterrepräsentiert ist und somit eher einen Sonderfall darstellt. Gleichwohl greift ihn eine US-amerikanische anarchistische Gruppe jüngst in der Flugschrift Inhabit. Instructions for Autonomy (o. J.) wieder auf und treibt die Logik der Zuspitzung als apokalyptische Narration voran. Von der Mythologisierung des Klassenkampfes kann hierbei nicht die Rede sein, wohl aber von jener des Aktivismus. Die Angesprochenen sollen demnach einen unumkehrbaren Bruch mit der bestehenden Herrschaftsordnung vollziehen, sich organisieren, Knotenpunkte („hubs“) gründen, eine geteilte Zukunftsvision entwickeln, Autonomie aufbauen und unregierbar werden. Dennoch wird in der Schrift Apokalypse als ein bereits vorschreitender Prozess und nicht als zukünftiges Katastrophenereignis begriffen. Weiterhin sei sie von Menschen verursacht und kein unvermeidliches Naturereignis. Ohnehin wird in Inhabit nicht nach einem fiktiven naturalisierten Zustand als utopischer Bezugspunkt gesucht, wie etwa von den sogenannten Anarcho-Primitivist*innen. Vielmehr wird die Vision einer nicht-entfremdeten Hybridisierung von technischen und organischen Artefakten entfaltet, welche durch das sogenannte Hacken der herrschaftsförmigen Infrastruktur gelingen würde. Mit diesen Aspekten gewinnt die apokalyptische Erzählung keinen außerweltlichen, sondern immanenten Charakter und soll zum eigenständigen Handeln motivieren, weil eine positive – in gewisser Weise versöhnte – Zukunft möglich wäre. Im fulminanten Schlusswort heißt es:

There is no future emergency for which we must prepare. We are already here – with every dystopian element, every means of revolution. The horrific consequences of our time and its beautiful potential are unfolding everywhere. We are resisting the end of the world by proliferating new worlds. We are becoming ungovernable – unbeholden to their merciless law, their crumbling infrastructure, their vile economy, and their spiritually broken culture. We violently stake a claim in happiness – that life resides in our material power, in our refusal to be managed, in our ability to inhabit the earth, in our care for each other, and in our encounters with all forms of life that share these ethical truths. (Anonym 2018b)

3.4 Prozesshafte strukturelle Erneuerung

Der in Anschluss an Sorel dargestellte apokalyptische Strang im Anarchismus wird in Frage gestellt durch die Narration eines vielfältigen Prozesses der strukturellen Erneuerung ohne bestimmbaren Anfang und ohne benennbares Ziel. In dieser Linie ist die eingangs erwähnte theoretische Figur Bubers zu verorten, mit der jener von der apokalyptischen zur prophetischen Eschatologie gelangen möchte. Das Verständnis von einer prozesshaften strukturellen Erneuerung kann maßgeblich von Gustav Landauer (1900) ausgehend betrachtet werden. Da die prophetische Eschatologie vom Willen einzelner Menschen ausgeht und diesen zum Ausgangspunkt nimmt, müsse es darum gehen, die Veränderungswilligen zu versammeln und intentionale Gemeinschaften, soziale Bewegungen oder sub-kulturelle Szenen mit ihnen zu gründen. Dazu wäre nach Landauer eine andere Weltwahrnehmung und ein mystisch anmutendes Lebensgefühl der kosmischen Verbundenheit wiederzugewinnen, die eine sinnliche Erfahrung darstellt und den modernen Individualismus überwindet. Durch das Experimentieren mit alternativen Produktions- und Lebensformen könnten demnach Potenziale entfaltet werden, um die gesamte Gesellschaftsstruktur zu erneuern, ohne dass dahinter ein zentraler Plan oder zwangsläufig eine ausgearbeitete Strategie stünden. Diese Herangehensweise ist eng mit Landauers Utopiebegriff verbunden. In der Schrift Revolution schreibt er, als Revolution werde

die Zeitspanne [genannt], während derer die alte Topie nicht mehr, die neue noch nicht feststeht. Revolution ist also der Weg von der einen Topie zur andern, von einer relativen Stabilität über Chaos und Aufruhr, Individualismus zu einer andern relativen Stabilität. […] Die neue Topie tritt ins Leben zur Rettung der Utopie, bedeutet aber ihren Untergang. (Landauer 1907/1977, S. 14 f.)

In jeder historischen Phase gäbe es demnach verschiedene utopische Narrationen und Gefühle, die sich untergründig durch die Geschichte hindurch fortpflanzten und sich in revolutionären Situationen enorm verdichteten, wodurch die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wie auch das kollektive Bewusstsein einige grundlegende Verschiebungen erfahren würden. Darin besteht eine deutliche Parallele zu Reclus‘ Figur des Ineinanderfallens von Evolution und Revolution, die Landauer durch sein Verständnis eines gemeinschaftsstiftenden kollektiven ‚Geistes‘ ergänzt. Dieser wäre die spirituelle, affektive beziehungsweise psychische Kraft, mit welcher eine komplexe, dezentrale und pluralistische Gesellschaft integriert werden könnte, ohne dass es einen erzwingenden Staat bräuchte und ohne auf die künstliche Pseudo-Gemeinschaft der Nation zu rekurrieren (vgl. Landauer 1911). Sozialismus sei demnach nicht vorrangig als eine gesamtgesellschaftliche Produktionsweise und Eigentumsordnung zu verstehen, die den Kapitalismus zur Voraussetzung hätte, sondern als egalitäre, solidarische und freiheitliche Beziehungsweise, welche parallel zu den bestehenden Herrschaftsverhältnissen bestünde und ausgebaut werden könne.

In jüngerer Zeit kann beispielsweise Rolf Cantzens Buch Weniger Staat – mehr Gesellschaft (1987) dem Strang eines anarchistischen Geschichts- und Zeitverständnisses zugerechnet werden, welches diese als vielfältigen Prozess der strukturellen Erneuerung begreift. Cantzens Postulat

‚Weniger Staat – Mehr Gesellschaft‘ zielt […], neben einer Entstaatlichung im Sinne eines Zurückdrängens staatlicher Einflußnahmen auch auf die Vergesellschaftung herrschaftlicher Strukturen durch den sukzessiven Ausbau der Selbstverwaltung und Selbstbestimmung, durch Dezentralisierung zentralisierter Strukturen sowie durch die föderalistische Organisation der politisch autonomen Einheiten. (Cantzen 1987, S. 96)

Autor*innen wie Eva von Redecker (2018) greifen diese oft verborgene Denktradition erneut auf und verdeutlichen somit, dass sie nie ganz verschwunden ist. Für Cantzen intendiert der

aus anarchistischen Theorien zu rekonstruierende Gesellschaftsbegriff […] neben der Kritik an der Vorstellung des Sozialismus als staatliche Organisationsaufgabe auch eine Kritik am Glauben, daß eine Revolution, die nur entschieden genug mit der Vergangenheit bricht, notwendig ein neues sozialistisches und anarchistisches Zeitalter einleiten wird. Die Ablehnung von revolutionären Totalumstürzen ist verbunden mit der Alternative, entweder unter Beibehaltung des Zieles ‚Revolution‘ die neue Gesellschaft in der alten vorzubereiten oder, unter Ablehnung des Konzepts einer einmaligen revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, sukzessive die alte Gesellschaft in die angestrebte neue zu transformieren. (Cantzen 1987, S. 231)

4 Fazit und Ausblick

aus anarchistischen Theorien zu rekonstruierende Gesellschaftsbegriff […] neben der Kritik an der Vorstellung des Sozialismus als staatliche Organisationsaufgabe auch eine Kritik am Glauben, daß eine Revolution, die nur entschieden genug mit der Vergangenheit bricht, notwendig ein neues sozialistisches und anarchistisches Zeitalter einleiten wird. Die Ablehnung von revolutionären Totalumstürzen ist verbunden mit der Alternative, entweder unter Beibehaltung des Zieles ‚Revolution‘ die neue Gesellschaft in der alten vorzubereiten oder, unter Ablehnung des Konzepts einer einmaligen revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, sukzessive die alte Gesellschaft in die angestrebte neue zu transformieren. (Cantzen 1987, S. 231)aus anarchistischen Theorien zu rekonstruierende Gesellschaftsbegriff […] neben der Kritik an der Vorstellung des Sozialismus als staatliche Organisationsaufgabe auch eine Kritik am Glauben, daß eine Revolution, die nur entschieden genug mit der Vergangenheit bricht, notwendig ein neues sozialistisches und anarchistisches Zeitalter einleiten wird. Die Ablehnung von revolutionären Totalumstürzen ist verbunden mit der Alternative, entweder unter Beibehaltung des Zieles ‚Revolution‘ die neue Gesellschaft in der alten vorzubereiten oder, unter Ablehnung des Konzepts einer einmaligen revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft, sukzessive die alte Gesellschaft in die angestrebte neue zu transformieren. (Cantzen 1987, S. 231)Aus der Darstellung von vier unterschiedlichen Verständnissen von Zeitlichkeit und Geschichte im anarchistischen Denken geht hervor, dass es unmöglich – und auch gar nicht erstrebenswert – ist, diese auf einen einheitlichen Nenner zu bringen. Gleichwohl finden sie eine Gemeinsamkeit in der Bezugnahme auf eine spezifisch anarchistische Konzeption von sozialer Revolution, was verschiedene Implikationen mit sich bringt. Thematiken wie die kontinuierliche Vermittlung von Zielen und Mitteln, die Herstellung von Kohärenz zwischen aus historischen Erfahrungen in sozialen Bewegungen gewonnenen ethischen Werten, organisatorischen Prinzipien und theoretischen Grundsätzen, wie auch die Anwendung direkter Aktionen, ergeben sich als Folgen dieser Denkweise. Für Letztere wird in jüngeren Debatten der Begriff der präfigurativen Politik verwendet, mit welcher eine mögliche und erstrebenswerte Zukunft vorweggenommen werden soll (vgl. u.a. Kuhn 2016, Marcks 2018).

Aufgezeigt wurde, dass die vier unterschiedlichen anarchistischen Geschichts- und Zeitverständnisse auch aktuell fortgeschrieben werden. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sie praktisch in Reinform vorkämen, sondern vielmehr, dass sie zumeist miteinander vermischt auftreten. Damit wird ein eindeutiger Nachweis explizit apokalyptischer Narrative im anarchistischen Denken nahezu unmöglich. Festgehalten werden kann jedoch, dass der überwiegende Teil anarchistischer Schriften sich gelegentlich auf apokalyptische Aspekte in gesellschaftlichen Diskursen und auf apokalyptische Vorstellungen im kollektiven Bewusstsein bezieht. Gleichwohl wird in ihnen eine Umwendung von Ohnmachtserfahrungen zur Eröffnung von ermächtigenden Handlungsoptionen beschrieben, mit welchen die Ursachen der gefühlten apokalyptischen Katastrophe abgebaut und beseitigt werden sollen. Daraus ist konsequenterweise zu schließen, dass anarchistische Narrationen fast ausschließlich als nicht-apokalyptisch, sondern beispielsweise als prophetisch zu bezeichnen sind. Eine Sonderstellung nimmt hierbei der Strang des eschatologischen Bruchs ein, dessen Logik der Zuspitzung durchaus ein apokalyptisches Szenario bedient. Doch auch hier zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass der irrationale Mythos bewusst konstruiert wird, also nicht von der Apokalypse unumgänglich als Tatsache ausgegangen wird.

Auch das Buch Recipes for Disaster. An anarchist cookbook des anarchistischen Netzwerkes CrimethInc (2004) erweckt zunächst den Anschein, eine Anleitung für ein individuelles Aussteigen im Katastrophenfall zu sein, womit es an verbreitete apokalyptische Narrationen und Lebensgefühle anknüpft. Dahinter verbirgt sich jedoch wiederum eine Handlungsmotivation für die radikale und unmittelbare Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse im Hier und Jetzt. Dieses spezifische Denken wird von Michael Löwy (1997) auch als „messianisch“ thematisiert und beschreiben. In Zeiten einer sich massiv zuspitzenden multiplen Krise, mündet dies in die Debatte eines Disaster Anarchism (vgl. Clark 2013, S. 197-215). In diesem Sinne schreibt etwa Rebecca Solnit, Katastrophen seien zwar

grundsätzlich schrecklich, tragisch und schmerzlich, und welche positiven Nebeneffekte und Möglichkeiten auch immer sie mit sich bringen, wünschenswert sind Katastrophen niemals. Andererseits sollten ihre Nebeneffekte aber auch nicht ignoriert werden, nur weil sie sich inmitten des Desasters einstellen. (Solnit 2012, S. 64)

Sie gewinnt katastrophalen Zusammenbrüchen also durchaus positive Aspekte ab, ohne deswegen zynisch zu werden. Denn die Katastrophe enthüllt, wie

anders die Welt sein könnte – enthüllt die Stärke dieser Hoffnungen, dieses Großmuts und dieser Solidarität. Sie enthüllt gegenseitige Hilfe als ein vorhandenes Organisationsprinzip und die Zivilgesellschaft als etwas, das hinter den Kulissen auf seinen Auftritt wartet. Auf dieser Grundlage lässt sich eine Welt bauen, und wenn das geschähe, würden die Trennungen beseitigt werden, die das tägliche Elend produzieren, die Armut, die Einsamkeit und in Krisenzeiten die mörderische Angst und den Opportunismus. (ebd., S. 79)

Uri Gordon pflichtet dieser Vorstellung bei, indem er schreibt, das

Menetekel stand seit Jahrzehnten an der Wand geschrieben. Es musste ein ungeheures Ausmaß an Ignoranz, Arroganz und Verleugnung zusammenkommen, um diese vollkommen begründete und rationale Prognose als irrationales Gegeifer von Untergangsspinnern abzutun. Aber jetzt, da uns die Wirklichkeit immer brutaler einholt, wird das Muster endlich für alle sichtbar. Wir können unsere Augen nicht länger davor verschließen: Die industrielle Zivilisation geht ihrem Ende entgegen. (Gordon 2012, S. 199)

Die interessante Frage sei nun, ob sich die Gesellschaft in Richtung eines Graswurzelkommunismus, eines Ökoautoritarismus oder zum andauernden Bürgerkrieg hin entwickeln würde (vgl. ebd., S. 203 ff.). Dieser Ansatz wird im Übrigen auch in einem ökoanarchistischen und zivilisationskritischen Text unter dem bezeichnenden Titel Introduction to the Apocalypse (Anonymous 2009) vertreten. Darin heißt es im Hinblick auf den Klimawandel:

Today, catastrophic climate change is the image of the apocalypse. Nothing has escaped the touch of humanity, from the deepest oceans to the atmosphere itself. There is little doubt that carbon emissions caused by human activity may bring about the end of the world as we know it. It’s just a matter of listening to the ticking of the doomsday clock as it counts down to a climactic apocalypse. Never before in recorded history has the question of the earth’s survival been so starkly posed, and never before has such news been greeted with such indifference (Anonymous 2009).

Schlussendlich empfiehlt Gordon direkte Aktionen für den Aufbau einer neuen Gesellschaft. Diese beinhalten,

allen Versuchen zu trotzen, lokale Eigenständigkeit in ein kapitalistisches und/oder autoritäres Rahmenwerk zu pressen und – falls sie damit erfolgreich sind – selbstorganisierte Gemeinschaften zu verteidigen, wenn sie wie auch immer angegriffen oder marginalisiert werden. (Gordon 2012, S. 214)

In diesem Sinne beziehen sich Anarchist*innen auf verbreitete apokalyptische Vorstellungen und Narrationen, um Menschen in ihrem Bedürfnis nach radikaler Gesellschaftstransformation ernst zu nehmen, ihnen Wege aufzuzeigen, um die Ursachen der als katastrophal empfundenen gesellschaftlichen Zustände zu bekämpfen – und sie durch eigenmächtiges Handeln zu beheben.

5 Nachtrag zur multiplen Krise im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie

Dieser Beitrag entstand vor der Pandemie, deren politische Bearbeitung mit ihren gravierenden Folgekosten, tatsächlich eine tiefgreifende Veränderung des gesellschaftlichen Zusammenlebens bewirken. Zweifellos verändern sich dadurch auch die Bedingungen für emanzipatorische soziale Bewegungen spürbar (vgl. Mezzadra 2020). Daher deute ich hier nachträglich noch einige Gedanken an, die anarchistische Bezugnahmen auf apokalyptische Narrative betreffen.

Stärker als die linke Szene, welche den hegemonialen Krisendiskurs weitgehend akzeptierte und ihn – abgesehen von humanistischen Appellen – teilweise aktiv unterstützte, zeigten sich Anarchist*innen gespalten in Hinblick auf die Frage, ob es angesichts der Pandemie zunächst sachliche Ruhe (vgl. Nigra 2020) zu bewahren oder aktiv Kritik an der Erklärung des Ausnahmezustandes zu üben gälte (vgl. Anonym 2020, vgl. Grupo Barbaria 2020). Eine Erklärung für diese Divergenz könnte sein, dass die Anhänger*innen des zweiten Weges, sich deutlich stärker auf die apokalyptische Grundstimmung bezogen, welche im medialen Diskurs, durch Regierungserklärungen und durch Reaktionen aus der Bevölkerung erzeugt wurde, um den Ausnahmezustand erklären und rechtfertigen zu können. Untersucht werden könnte ferner, inwiefern sich die erste Fraktion eher der hier vorgeschlagenen geschichtsphilosophischen Narrationen von (r)evolutionärem sozialen Fortschreiten und prozesshafter struktureller Erneuerung bedient, während letztere sich stärker der Erzählungen von materialistischer dialektischer Befreiung und mythologisiertem eschatologischem Bruch orientiert.

Das Gefühl an einer Zeitenwende zu stehen, welche einerseits das Potenzial in sich trägt, dass Anarchie tendenziell verwirklicht werden kann, jedoch andererseits diese Hoffnung von harten autoritären Maßnahmen der Regierungen, als auch von faschistischen Bürgerkriegs- und Putschfantasien konterkariert wird, erklärt zum Teil die emotionale und rhetorische Aufladung der unentschiedenen Umbruchssituation in der Krise. Selbst in einem Strategiepapier des Innenministeriums wurde hysterisch vor der Karikatur der „Anarchie“ gewarnt (Strategiepapier 2020: 8) – freilich lediglich, um die autoritäre Krisenbearbeitungsstrategie zu legitimieren. Schließlich wird auch in diesem Papier die Krise als Chance gesehen: Sie könne auch „zukunftsweisend sein für eine neue Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat“ (Ebd.: 17).

Dies liegt dem anarchistischen Interesse diametral entgegen (vgl. Eibisch 2020). Doch durch die Erneuerung des Primats des Politischen, von staatlicher Legitimität und Souveränität durch die Bearbeitung der mit der Pandemie einhergehenden gesellschaftlichen Herausforderungen, werden immerhin die Fronten geklärt. Die Bundesregierung strebt, mit Hilfe der Vereinnahmung des Schlagwortes „Solidarität“ (vgl. Jonathan 2020), aktiv nach der Mobilisierung und Einbindung der Zivilgesellschaft, um die Bevölkerung an sich zu binden. Völlig unabhängig davon entstanden zahlreichen Projekte der Nachbarschaftshilfe, in denen gegenseitige Hilfe praktiziert wird. Gleichzeitig entwickelte sich bei vielen ein neues Problembewusstsein dafür, dass sie wechselseitig voneinander abhängig und aufeinander angewiesen sind. Hierin liegt aus anarchistischer Perspektive die Chance auf gesellschaftliche Selbstorganisation als eine Form der sozialen Distanz zum Staat, sprich: auf Autonomie. In diesem Sinne werden apokalyptische Narrationen im anarchistischen Denken erneut in prophetische Visionen transzendiert und mit Handlungsappellen zur Restrukturierung der Gesellschaft verbunden, um Bedingungen zu erkämpfen, unter denen allen Menschen ein Leben in Selbstbestimmung, Wohlstand, Absicherung und Gesundheit ermöglicht wird.

Literatur

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  • Bakunin, Michael (1882/1975): Gott und der Staat. In: Nettlau, Max (Hrsg): Michael Bakunin. Gesammelte Werke, Band 2. Berlin: Kramer-Verlag.
  • Bernecker, Walter L. (2006): Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der sozialen Revolution in Spanien 1936-1939. Münster: Verlag Graswurzelrevolution.
  • Buber, Martin (1950): Pfade in Utopia. Heidelberg: Lambert Schneider Verlag.
  • Cantzen, Rolf (1987): Weniger Staat – mehr Gesellschaft. Freiheit – Ökologie – Anarchismus. Grafenau: Trotzdem Verlag.
  • Clark, John P. (2013): The Impossible Community. Realizing Communitarian Anarchism. New York und London: Bloomsbury.
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  • CrimethInc (2018): From Democracy to Freedom. Der Unterschied zwischen Regierung und Selbstbestimmung. Münster: Unrast-Verlag.
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  • Gordon, Uri (2012): Düstere Neuigkeiten? Anarchistische Politik in Zeiten des Zusammenbruchs. In: Trojanow, Ilija (Hrsg.): Anarchistische Welten. Hamburg: Nautilus, S. 199–216.
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  • Grupo Barbaria, „Die Pandemien des Kapitals“; verfügbar auf: https://de.indymedia.org/node/76556 (Abfrage: 30.09.2020).
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  • Nigra, Die Corona-Pandemie und wir alle. Über Aufstandsfantasien, Militanzromantik, Autoritätshörigkeit und die ganz normale Solidarität unter Menschen; verfügbar auf: https://nigra.noblogs.org/post/2020/03/22/die-corona-pandemie-und-wir-alle (Abfrage: 30.09.2020).
  • Reclus, Élisée (1898/2013): Evolution, Revolution, and the Anarchist Ideal. In: Clark, John/Martin, Camille (Hrsg.): Anarchy, Geography, Modernity. Selected Writings of Élisée Reclus. Oakland: PM Press, S. 138–155.
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  • Selbin, Eric (2010): Gerücht und Revolution. Von der Macht des Weitererzählens. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
  • Solnit, Rebecca (2012): Aus der Hölle ein Paradies gebaut. In: Trojanow, Ilija (Hrsg.): Anarchistische Welten. Hamburg: Nautilus, S. 63–80.
  • Sorel, Georges (1908/1969). Über die Gewalt. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

1 Um diesen theoretischen Strang adäquat behandeln zu können, sind vier Punkte im Vorhinein zu bemerken: Erstens, beschäftigte sich Sorel nur eine Zeit lang intensiv mit dem Anarcho-Syndikalismus und war in dieser radikalen Gewerkschaftsbewegung nicht stark verankert oder einflussreich. Zweitens, greift er wesentliche Aspekte der anarcho-syndikalistischen Theorie auf, denkt sie weiter und spitzt sie vor allem zu. Drittens, war Sorel kein Faschist, suchte jedoch zwischen 1908 und 1914 den Kontakt zu rechtsradikalen Kreisen, mit denen er anschließend wieder brach. Viertens, verachtete er den Republikanismus, den Liberalismus und die Demokratie, weswegen seine Schriften von französischen und italienischen Proto-Faschisten rezipiert wurde, förderte damit jedoch nicht die Entstehung des Faschismus.

Soziale Revolution als radikale und umfassende Gesellschaftstransformation

Lesedauer: 7 Minuten

Auf theorieblog.de erschien dieser Beitrag zum Call for Blogposts unter dem Motto „Neuanfang“. Ich freue mich sehr, das mein Artikel ausgewählt wurde und somit zur Verbreitung und Vertiefung von Debatten zu anarchistischer Theorien beitragen kann. Hier ist der Beitrag ebenfalls zu lesen.

„Soziale Revolution als radikale und umfassende Gesellschaftstransformation“ weiterlesen

Eine Welt zu bewahren…

Lesedauer: 19 Minuten

Mit Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen schuf die Philosophin Eva von Redecker ein Werk, was zur Verortung in der gegenwärtigen Zeit bitter notwendig ist.

zuerst veröffentlicht auf: untergrund-blaettle.ch am 07.12.2020.

Nur selten gelingt es Intellektuellen, die Kluft zwischen einem verselbständigten und kommerzialisierten akademischen Diskurs und den leider oftmals kurzlebigen und wenig bewussten sozialen Bewegungen zu überbrücken. Von Redecker schafft dies auf eine glaubwürdige, überzeugende und inspirierende Weise, weil sie offenkundig die Fähigkeit besitzt, nicht lediglich zu beobachten, sondern sich in andere Perspektiven hinein zu versetzen.

Der „Sachherrschaft“ des Kapitalismus setzt sie dabei die Perspektive der „Weltwahrung“ entgegen. Mit ihrer Formulierung der „Revolution für das Leben“, bringt sie zum Ausdruck, dass es ihr ums Ganze geht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, laufen die jüngsten sozialen Bewegungen auf den Feldern des Antirassismus, des Feminismus und der Klimagerechtigkeit tendenziell auf eine grundlegende Systemkritik hinaus, wobei mit ihnen zugleich auch aktive solidarische Alternativen zu diesem aufgebaut werden. Das Buch ist lebendig und anschaulich geschrieben und spürbar von der Sehnsucht motiviert, aus der bestehenden Herrschafts- und Eigentumsordnung auszutreten und andere gesellschaftliche Verhältnisse einzugehen, die nicht mehr auf Gewalt und Zerstörung, sondern auf der sozial und ökologisch verträglichen Produktion und selbstbestimmten Gestaltung von Leben, beruhen. Die Corona-Pandemie und ihre Folgeerscheinungen waren zweifellos der Katalysator, um mit diesem Buch auch die Frage nach sozialer Revolution weiter zu verfolgen.

Das Buch ist in neun Kapiteln aufgebaut. Unter den Überschriften der ersten vier Kapitel „beherrschen“, „verwerten“, „erschöpfen“ und „zerstören“ betreibt sie eine Art philosophische Zeitdiagnose. Das Kapitel „revolution“ stellt gewissermassen den Umschwung dar. Mit ihm aktualisiert von Redecker einen zeitgemässen Revolutionsbegriff. Dieser wird mit dem Blick auf die genannten gegenwärtigen sozialen Bewegungen in den Kapiteln „retten“, „re-generieren“, „teilen“ und „pflegen“ entfaltet und somit veranschaulicht, dass sich von emanzipatorischer Seite her bereits wichtige Ansatzpunkte für die „Neugestaltung der Gesellschaft“ (Murray Bookchin) finden lassen. Im Folgenden möchte ich sechs Punkte ansprechen, die ich aus der Lektüre gezogen habe und dazu von Redecker in Zitaten selbst sprechen lassen.

Das Unfassbare begreifen

Was von Redecker insbesondere gelingt, ist, die katastrophalen Bedingungen, die Menschen mit einer Herrschaftsordnung der Zerstörung geschaffen haben, in Worte zu fassen, also eine Sprache zu finden, um sie unverstellt auszudrücken, ohne jedoch dabei zu resignieren, dogmatisch oder menschenfeindlich zu werden. Dies sieht sie jedoch bei den jüngeren Bewegungen selbst schon angelegt, denn bereits „in der Katastrophenvergegenwärtigung durch Akteur_innen von Fridays for Future und Extinction Rebellion zeichnet sich eine Haltung ab, die die abgestumpfte Indifferenz gegenüber der Welt jenseits des eigenen Eigentums, die uns moderne Sachbeherrscher_innen auszeichnet, durchbricht. Wir könnten anders leben, wir könnten in unseren alltäglichen Handlungen andere Muster reproduzieren“ (S. 15).

Die menschengemachte Apokalypse zu beschreiben ist eine grosse Herausforderung. Ebenso schwierig ist es allerdings auch, klar zu formulieren, worin die Probleme bestehen. So insbesondere in der Form des Privateigentums: „Die Version des Eigentums, die uns vollkommen selbstverständlich scheint, ist historisch einmalig. […] Die Form, die die westliche Moderne für das Besitzen gefunden hat, lautet ‚absolute Sachherrschaft‘. Sie beruht auf der Vorstellung grenzenloser Verfügung, und sie hat mit Kolonialismus und kapitalistischer Globalisierung jeden Winkel der Welt erobert. Das Prinzip der Sachherrschaft ist in unseren alltäglichen Weltbezug eingesickert – auch da, wo wir uns gar nicht mehr direkt auf Eigentum beziehen“ (S. 23). Bekanntermassen verdinglicht der kapitalistische Verwertungszusammenhang auch soziale „Beziehungen nach dem Muster des Eigentums [und] erlaubte es zumindest den weissen und männlichen Besitzlosen, sich ebenfalls zu Sachherrschern aufzuschwingen. Ihr ‚fiktives‘ Eigentum kann als geronnene Herrschaft verstanden werden; es besteht in den Verfügungsansprüchen, die die modernen Institutionen der Sklaverei und patriarchalen Ehe bereitstellen. Die Besitzlosen, so könnte man sagen, wurden auf Kosten der Machtlosen entschädigt“ (S. 28). Auf den Punkt gebracht ist das „Prinzip, das die Lebensgrundlagen absaugt, […] die kapitalistische Verwertung selbst. Sie zielt, selbst wenn sie mit dessen Grundbaustein handelt, nicht aufs Leben, sondern auf den Profit“ (S. 48).

Gerade die sachliche und abstrakte Herrschaft macht es so schwierig, sie wirklich zu erkennen und so weiss man „gar nicht, dass man beherrscht wird. Oder selbst wenn man es vage spürt, weiss man nicht, wovon – jede Verschwörungstheorie, ganz besonders aber der moderne Antisemitismus, zehrt von dieser Undurchschaubarkeit“ (S. 55). Sind keine klaren Begriffe und Vorstellungen von den Herrschaftsverhältnissen vorhanden, so erstaunt es auch nicht, dass manche Linken „die Rückkehr des Staates in der Pandemie als Bruch mit dem Neoliberalismus des Staates begrüsst [haben]. Aber wenn, wie die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown nahelegt, das Hochziehen von Mauern gerade ein Anzeichen schwindender Souveränität ist, liesse sich die Demonstration staatlicher Souveränität in der Quarantäne auch als ihr letztes Aufbäumen lesen. Indessen geht die eigentliche Souveränität – die Macht, das Leben der Bevölkerung zu durchdringen und zu regieren – in einem furiosen Digitalisierungsschub an die Techgiganten über“ (S. 186).

Die moderne Souveränität des Staates stülpt sich nach von Redecker gewissermassen über das gesellschaftliche Leben, weswegen die Abschottungen und Abriegelungen, welche Nationalstaaten zur Regulierung der Pandemie einführen zwar kurzfristig schützen könnten, aber – in meinen Worten – zugleich offenbar wird, dass der Staat nicht auf die Bedürfnisse von Menschen eingehen kann. Dagegen steht in „allen wirklich rettenden Praktiken […] am Anfang ein anderer Antrieb als der viraler Furcht. Die Rettung geht von einer anderen Angst aus als die Abriegelung. Denn eine Angst, die auf Verbundenheit vertraut, kann der Unwägbarkeit ins Auge sehen […]. Es ist immer noch Angst, aber eine Angst, die sich stillen lässt: in jedem Moment, überall, durch das Leben selbst, das bereits verbunden ist“ (S. 189).

Nihilismus und Hoffnung werden hergestellt

Ein weiterer Punkt, den ich in Revolution für das Leben finde, ist, dass Nihilismus und Hoffnung gesellschaftlich erzeugt werden. Dies berührt eine Dimension des Sinns, mit welchem sich Einzelne und Gruppen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang sehen. Nihilismus und Zynismus sind Produkte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung und führen in einem Kreislauf des Todes zu ihrer Aufrechterhaltung. Doch es bestehen auch andere Verhältnisse neben dieser. Dazu gilt es wiederum den Tatsachen ins Auge zu schauen: „Die Bedingung dieses Spiels ist eine […] Elimination: Die Auslöschung der Hoffnung auf andere, zärtlichere Verhältnisse. Diese Elimination wird mitunter tätlich an jenen vollstreckt, die an diese Hoffnung, die keinem fühlenden Wesen gänzlich fremd sein kann, erinnern. Diese Hoffnung muss zerstört werden, weil man sich keine Blösse leisten kann – und vielleicht auch nicht eine einzige weitere Enttäuschung verkraften würde“ (S. 60f.). Es stimmt, wir sind „allesamt in der Verwüstung der Erde eingespannt. Der Kapitalismus, die sachliche Sachherrschaft, ist unsere Lebensform. Eine andere haben wir nicht. Nicht nicht. Gegen die lebensbedrohliche, zerstörerische, herrische Dimension unserer Lebensform hat sich in den letzten Jahren ein massives Aufbegehren mit neuen Akzenten artikuliert. Die Klimabewegung leistet unmittelbare, drängende Sachherrschaftskritik“ (S. 91).

Während das saturierte, aber Sinn-entleerte, Bürgertum darauf spekuliert, dass seine Kinder in der Klimagerechtigkeitsbewegung früher oder später wieder „realistisch“ werden, besteht „der Realitätssinn der Katastrophenvergegenwärtigung gerade darin, dass für langsames Heranreifen gar keine Zeit mehr ist. […] Die eklatant auseinandergehenden Einschätzungen mögen auch verraten, dass wir uns tatsächlich in einer revolutionären Situation befinden. Es zeichnet einschneidende Krisen aus, dass in ihnen die Grundüberzeugungen so auseinanderdriften, dass verschiedene Haltungen einander vollkommen unentzifferbar werden – darunter auch die neuen, die womöglich ihren Teil zur Lösung der Krise werden beitragen können“ (S. 102). Das viele in dieser Situation „menschheitsverdrossen“ werden, ist zwar nachvollziehbar, aber für von Redecker eine im Grunde genommen infantile Verweigerung von Verantwortung (S. 105).

Vielmehr entsteht Hoffnung gerade in den Erfahrungen, die Menschen in widerständigen Bewegungen machen selbst. Vor allem, wenn sie auf gemeinsame Ziele ausgerichtet sind. „Dieser Widerstand, der die Frage der Lebensrettung zur kollektiven Aufgabe erklärt, impft dagegen, sich im Ausnahmezustand die vermeintliche Normalität zurückzuwünschen. Er schafft Raum für eine grössere Sehnsucht: nach einer Welt, in der alle atmen können“ (S. 160). Verständlicherweise führt das Anliegen, ins Unbekannte aufzubrechen und den Kapitalismus endlich hinter uns zu lassen zu massiven Abwehrreflexen, auch beim progressiven Bürgertum oder Proletariern. Hinter der Angst nach Eigentums- und Statusverlust, verbirgt sich dabei vor allem eine Angst vorm Verlust der eigenen Identität. Doch ausgehend „von den Grundgesten der Lebensrettung liesse sich der durch die verlorene Identität entstandene Platz ganz neu füllen. Wir können uns am Abbau erstickender Einrichtungen orientieren, an voraussetzungsloser Verbundenheit und an überschäumender Freiheit. Wir können versuchen, das richtige Verhältnis zum Leben einzunehmen. Leben, das anderes Leben erhält, braucht keine auf sozialen Tod gestützte Identität“ (S. 177).

Gerade die existenzielle Unverfügbarkeit über das individuelle menschliche Leben, bringt Menschen auf den Abweg, sich panisch an Privateigentum zu klammern. Doch die „Revolution für das Leben kämpft nicht gegen den Tod. Sie kämpft gegen den sozialen Tod, gegen das differenzielle vorzeitige Sterben. […] An erster Stelle aber gilt die Revolution für das Leben dem Weiteratmen, der Eroberung von Freiheit und wilder Verbundenheit. Will sie sichergehen, dass die geretteten Leben nicht im nächsten Augenblick wieder von Herrschaft eingeholt werden, muss sie sich ausdehnen“ (S. 192f.). Hoffnung entsteht, wenn sich die Grundbedingungen der Herrschaft nicht mehr akzeptiert und andere Handlungen vollzogen werden. Dafür gibt es die Namen „Abolition. Aktiver Streik. Vergesellschaftung. Weltwahrung. […] Diese Arbeit geschieht an der Kreuzung zweier Sehnsüchte. Die eine ist der unbändige Drang nach Befreiung aus der kapitalistischen Herrschaft. […] Die […] zweite Sehnsucht […] [ist], endlich in die befreite Zukunft eintreten zu können. Die Sehnsucht nach solidarischen Beziehungsweisen und Weltliebe. Die Sehnsucht nicht nur nach der Abwesenheit von Herrschaft, sondern nach der Anwesenheit freier Gezeiten“ (S. 285f.).

Der Bewegung zugewandt

Revolution für das Leben beinhaltet eine klare Bezugnahme auf die emanzipatorischen sozialen Bewegungen unserer Zeit. Wie erwähnt denkt sie von Redecker nicht lediglich abstrakt mit, sondern nimmt ihre Perspektive ein, ohne deswegen ihre Position als Philosophin zu verlassen. Bereits zum Einstieg schreibt sie: „Die Befreiung von kapitalistischer Herrschaft […] ist ein hehrer Anspruch, sondern eine dringende Aufgabe. Denn der Kapitalismus zerstört das Leben. Die Befreiung von kapitalistischer Herrschaft ist auch deshalb mehr als ein blosser Anspruch, weil sie an verschiedenen Stellen bereits stattfindet. Wir erleben eine Revolution für das Leben. Seit knapp zehn Jahren zeigt sich ein neuer Typus von Protest. Dieser Protest ist weder eine Wiederaufnahme der sozialen Revolutionen von vor gut einhundert Jahren noch lediglich eine Fortsetzung der über fünfzig Jahre währenden Bürgerrechtsbewegungen. Die neuen Formen des Widerstands gehen von einer Mobilisierung für akut bedrohte Leben aus und kämpfen für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben“ (S. 9f.).

untergrund-blaettle.chDie antirassistische Bewegung Black Lives Matter in den USA, die feministische Ni una menos, die vor allem in Lateinamerika und Südeuropa verbreitet ist, und schliesslich die globale Klimagerechtigkeitsbewegung, richten sich bereits nach etwas anderem aus. Sie brechen mit den Strukturen des Systems, wobei sie von vielen Menschen getragen werden, anstatt lediglich politische Szenen zu sein. In ihrer dezidierten Bezugnahme auf Marx verdeutlicht von Redecker, dessen Gesellschaftsanalyse und -kritik verstanden zu haben – und anwenden zu wollen. Dabei gilt es allerdings über den Fokus auf Lohnarbeit hinauszusehen. Denn eine „auf die Lohnarbeit beschränkte Klassenpolitik schwächt den Klassenkampf und befördert Plünderungsdynamiken in neuen Grenzgebieten. Sie verschiebt die Schlachthöfe. Dabei könnte Klassenpolitik so viel grössere Wucht haben. Denn Klasse, aus Sicht einer Theorie, die Kapitalismus als sachliche Sachherrschaft versteht, ist alles, was im Dienste der Wertschöpfung eingehegt und geplündert wird“ (S. 83).

Gerade Lohnarbeit, die vorwiegend von Frauen* ausgeübt wird, besteht entweder in absolut prekären Jobs oder informeller Arbeit. Oder sie ist wiederum so „systemrelevant“ (Krankenhaus, Pflegeheime etc.), dass eine einfache Verweigerung unverantwortlich wäre. Somit setzt der „Streik als Tarifstreit und Arbeitskampf […] reguläre Beschäftigungsverhältnisse voraus, an die eine Gewerkschaftsorganisation angelehnt ist. Ein Grossteil der weiblichen Arbeit wird aber unter anders verfassten Bedingungen geleistet und ist mit dem Dilemma konfrontiert, eigentlich unbestreikbar zu sein“ (S. 203). In einer anderen Gesellschaft ist „[b]edürfnisorientierte Arbeit ist nur dann frei, wenn sich die Fürsorgenden so vergesellschaften, dass keine_r je allein vor einer Aufgabe steht und jede_r ihrerseits ihre Bedürfnisse anerkannt weiss“ (S. 221). Dies setzt viele komplizierte Aushandlungsprozesse voraus, die jedoch erforderlich sind, um die eigenen Verhältnisse selbst zu gestalten (S. 233).

Mit Überlegungen zur Vergesellschaftung wirft von Redecker auch die Frage nach der Enteignung auf, auf welche sie jedoch nicht näher eingeht, da ihr Fokus eindeutig auf der Veranschaulichung möglicher sozialistischer Wirtschaftsweisen liegt. Im Sinne von Gustav Landauer sei jedoch noch kaum etwas dafür getan worden, diese zu ermöglichen (S. 205). Denn werden in direkten Aktionen „die Ressourcen der widerständige Körper bereits sehr effektiv geteilt. Mit der Vergesellschaftung der Trichter und Bagger geht es indessen nicht so schnell. Die Proteste eröffnen bestenfalls einen Ausblick auf ein Ende jener Wirtschaft, in der Grosskonzerne mit der Verwandlung von Kohle in Treibhausgas Gewinne einfahren“ (S. 240). „Vergesellschaftung kann auch heissen, dass wir endlich entscheiden können, bestimmte Sachen in Ruhe zu lassen. Vergesellschaftung verleiht demokratische Entscheidungsfreiheit über Güter. Man kann es aber auch andersherum denken, von der Vergesellschaftung als bewusster Wiederannahme des Abgespaltenen her: Da wir ohnehin schon mehr CO2 in der Atmosphäre haben, als uns lieb ist, wollen wir auf keinen Fall mehr davon“ (S. 249).

Als Bild von widerständigen Gemeinschaften, bedient sich von Redecker jener Gruppen entlaufener Sklaven, den sogenannten „Maroons“. Damit geht es ihr jedoch nicht um eine romantisierte Projektion. Vielmehr wäre die „Wildheit der Maroons […] gerade keine Wildheit, wie sie die koloniale Phantasie auf aussereuropäische Gesellschaften projiziert, sie ist kein Ursprungs- oder Naturzustand. Sie ist das Ergebnis einer Selbstbefreiung aus der Sachherrschaft und markiert die anhaltende Weigerung, unter verbesserten Bedingungen wieder in ihre überholten Institutionen einzusteigen. Das Gegenprogramm zur Sachherrschaft ist ein Leben in wilder Verbundenheit. Es unterläuft nicht nur Grenzbefestigungen, sondern fügt sich auch anders in seine lebendige Umwelt“ (S. 182). „Wildheit“ wird von Redecker zur Chiffre für eine grundlegend andere Lebensweise, in welche wir aufbrechen können. Denn unsere „Natur legt unser Leben nicht fest. Unsere Wildheit muss nicht Terror, sie kann nährende, hochsprudelnde Freiheit sein. Das wiederum bedeutet auch, dass die Angst um das Leben uns nicht geradewegs unters Schwert laufen lässt. Wir können uns auch daran machen, untergründige Zusammenhänge auszubilden und sie köstlich zu füllen. So würden wir nicht nur einander das Leben retten, sondern auch das Leben selbst: Es wäre pulverisierende Verbundenheit und kein passiver Besitzstand“ (S. 183).

Arbeit am Revolutionsbegriff

Ein zeitgenössischer Begriff von Revolution wird nicht am Schreibtisch geschaffen, sondern geht aus den Kämpfen von widerständigen Gemeinschaften selbst hervor, insbesondere dort, wo sie sich verbünden und die Systemfrage stellen. Insofern kann von Redeckers Denken per se nur Versuch und Suchbewegung sein, um zu beschreiben, was sich teilweise bereits längst vollzieht. Gleichzeitig scheint die Handlungsfähigkeit einer emanzipatorischen Linken aus verschiedenen Gründen sehr begrenzt zu sein: „9/11. Finanzkrise, erstarkender Autoritarismus, Klimawandel, Migration, Covid-19 – wir starren gebannt und ungläubig auf die Ereignisse wie auf ein hypnotisches Glücksrad. Wir erkennen darin weder Sinn noch unser eigenes Wirken“ (S. 128). Um die Dinge umgestalten zu können, gilt es ein Verständnis dafür zu gewinnen, dass Revolution nicht irgendwie geschehen, sondern von Menschen gemacht werden.

Damit ist kein einmaliger Kraftakt in einem revolutionären Ereignis gemeint, sondern tausende Tätigkeiten vor, während und nach grösseren Eruptionen: „Die Revolution war keine immer wieder passierte Durchgangsstation, sondern der Ausgangspunkt für eine neue Ordnung und weitere Fortschritte in ihr. Und die Revolution verdankte sich weder kosmischen noch astronomischen Gesetzen. Sie geschah nicht automatisch und nicht von selbst; sie wurde von den Menschen gemacht, die erkannten, dass ihre Lage kein blosses Schicksal war, sondern das Ergebnis vergangener und gegenwärtiger Herrschaft. Die Erkenntnis, die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten zu können, ist keine einmalige Einsicht, es ist eher eine Erfahrung, die sich im Zuge des Aufbegehrens und der Selbstregierung einstellt und rückblickend verfestigt“ (S. 131). In diesem Zusammenhang fokussiert von Redecker nicht auf die politische Revolution, sondern den Generalstreik als historisches Vorbild, von dem sie ausgeht. „Der Stillstand dient der proletarischen Revolution als Druckmittel, um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu erzwingen. Per Generalstreik soll die kapitalistische Maschinerie zum Halten gebracht und die Regierung der Besitzenden in die Knie gezwungen werden. […] Dieser konzertierte Stillstand setzt einen ungeheuren Grad an Organisation voraus“ (S. 142).

Aus verschiedenen Gründen, lässt sich das Konzept der Revolution nicht einfach auf die heutige Situation übertragen. Vor allem aber deswegen: „Wenn die Revolutionen des 19. Jahrhunderts die Lokomotiven der Geschichte waren, dann müssten Revolutionen inzwischen auch der CO2-Ausstoss der Weltgeschichte sein. Wir haben die Erde mit nahezu unvergänglichen Stoffen wie Atommüll und Mikroplastik überzogen, wir haben die Sonneneinstrahlung erhöht und den Meeresspiegel angehoben. Wir haben nicht nur produziert, sondern auch emittiert und zerstört. Das sind unsere Kräfte. Soll man sich die aneignen? Muss man sie nicht vor allem unschädlich machen? […] Derzeit kontrollierten wir solche Effekte, die sich verselbständigt haben, nicht, sondern sie uns: sachliche Herrschaft. Aber die Effekte beruhen auf etwas, das wir kontrollieren sollten: auf menschlicher Schaffenskraft. Eine umfassende soziale Revolution muss sich zu den im menschlichen Handeln freigesetzten Kräften verhalten. Mit dem Bremsen allein ist es nicht getan, denn es geht nicht nur darum, das Kapital und die Viren und die Nachfolger des Kapp-Putsches zu stoppen, sondern darum, all das, was wir blind angerichtet haben, in selbstbestimmte Gestaltung zu überführen“ (S. 145f.).

Gegen die Aneignung, welche in früheren Revolutionen erklärtes Ziel der Revolutionärer*innen war, setzt von Redecker die Vorstellung einer „Weltwiedernahme“, mit welcher gewissermassen die früher stets wenig beleuchtete Dimension der Entfremdung an Bedeutung gewinnt. Damit können wir „den Lauf der Geschichte nicht aus ihrer eigenen Bewegung heraus bändigen. Genauso wenig können wir uns aus der Geschichte herauskatapultieren und von aussen alles wie eine Modelleisenbahnanlage mit gigantischen Kräften und Ressourcen umbauen. Wir sind Teil der Welt. Wir müssen aufhören, ihrer Herr werden zu wollen“ (S. 146). Offensichtlich ist eine schlagartige Umkehr und abrupte Umwälzung des gesamten Herrschaftszusammenhangs weder vorstellbar noch erwartbar. Doch die „Unmöglichkeit einer plötzlichen Kehrtwende muss nicht zur Verzweiflung an der Revolution führen. Denn diese muss nicht notwendig als grosse Kaperung vorgestellt werden. Kein grandioser Kipppunkt, an dem jäh die Köpfe rollen […] sondern ein langsamer, aber allgegenwärtiger Umbau des Alltags. Eine ‚Revolution für das Leben‘, die sich der Zerstörungswut der kapitalistischen Gesellschaft in den Weg stellt, basiert auf einem ‚Leben für die Revolution‘. Damit ist gerade keine heroische Opferleistung gemeint, sondern eine stetige, tagtägliche Übung“ (S. 147).

Wie bereits in ihrem Buch Praxis und Revolution (2018) bezieht sich von Redecker dabei auf den Begriff der „Zwischenräume“ (nennt diese allerdings nicht mehr „interstitielle Räume“). „Wenn wir eine Revolution und nicht nur einen spektakulären Zusammenbruch sehen wollen, müssen wir aus den Zwischenräumen des Alten heraus bereits das Neue schaffen. Es geht nicht darum, das brüchige Gestell in seiner jetzigen Form zu reparieren, schon gar nicht aus dem Bausatz der Sachherrschaft heraus. Wir müssen es mit Verbindungen neuer Art überziehen. Wilde, bewegliche, freie Verbindungen“ (S. 153). Für von Redecker können „solche Zwischenräume […] in das Zentrum revolutionärer Politik gestellt werden. Anstatt zur Fortsetzung eines falschen Fortschritts wird die Wiederholung dann zu etwas ganz anderem: Sie wird zur Wiederannahme von Welt. Wiederannahme des Unterdrückten als Befreiung, Wiederannahme des Abgespaltenen als Verbundenheit, Wiederannahme gebrochener Gezeiten als Zukunft“ (S. 148). Mit „Gezeiten“ führt sie zuvor einen Begriff ein, welcher auf Rhythmen der natürlichen Welt verweist um sich vernünftigerweise an diesen zu orientieren. Das Synchronisieren und Zusammenführen ist im Übrigen ein wesentlicher Bestandteil eines erneuerten Revolutionsverständnisses: „Was aus den diversen, oft auch gegenläufigen Rebellionen für das Leben eine Revolution macht, ist die Verweigerung der Abstufung und die Verknüpfung des Kampfs für das Leben mit dem für die geteilten Lebensgrundlagen, die allen gleichermassen zustehen“ (S. 151).

Eine der grossen Vorbehalte gegen revolutionäre Veränderungen besteht freilich in der Angst vorm Verlust von Individualität, welche heutzutage auf schlechte Weise durch das Eigentum gestützt ist, für diejenigen, welche über welches verfügen. Die Angst vor der kommunistischen Gleichmacherei steckt weiterhin in den Köpfen der Leute. Doch wir „müssen in dieser Revolution nicht untergehen, denn unsere Individualität, unsere Fähigkeit zu Vereinzelung, zu Besonderheit und Abstandnahme, hängt nicht am Willkürwillen über Eigentum, sondern daran […], die Geschichte unserer speziellen Weltverwobenheit erzählen zu können“ (S. 156). Eindeutig geht es im hier entwickelten Verständnis nicht um die Verstaatlichung von Produktionsmitteln, mit welcher die Dinge zentralistisch gerichtet werden sollen. Schon gar nicht auf einen Schlag. „Die Revolution für das Leben ist keine Weltrettung aus einen Schlaf. Sie stellt sich den von Menschen unversehens freigesetzten Kräften, aber ohne sie sich allesamt anzueignen. Sie verwahrt sich vielmehr dagegen, dass diese Kräfte weiter auf die bisherige Weise aufgebracht und Gewaltakte als Kraft verherrlicht werden. […] Überall greift sie gekappte lebendige Beziehungen auf, um sie in eine andere Wirtschaft zu überführen. Die Revolution für das Leben streikt gegen die Erschöpfung und Abtötung und kämpft um eine Arbeit, die nährt: alle, aber allen voran die Arbeitenden selbst“ (S. 194).

Mit der Ablehnung des sogenannten „freien Marktes“ befürwortet von Redecker keineswegs eine graue Planwirtschaft altbackenen Typs. Denn an „der Planwirtschaft war nicht das Planen falsch, sondern die Wirtschaft: Auch als sozialistische brach sie nicht umfangreich genug mit den Mustern der Sachherrschaft. […] Die Revolution für das Leben setzt dagegen auf eine Planung, die die Freiheit und Spontaneität ihrer Elemente erhöht. Sie muss sich aus einer Demokratie der Teilenden heraus ergeben und das Geteilte lebendig halten – frei von Sachherrschaft und Verwertung“ (S. 251). Durch heutige technische Koordinationsmöglichkeiten sei eine differenziert abgestimmte Planung durchaus vorstellbar und möglich, wobei eine „sozialistische Wirtschaft, die den Markt als primären Verteilungsmechanismus überwinden will, […] eine Infrastruktur bereitstellen [muss], die dem individuellen Distanzbedürfnis gerecht wird. Auch dem Mark gelingt das bei weitem nicht immer“ (S. 256).

Wichtig ist, dass in Revolution für das Leben nicht einfach einem blumigen Voluntarismus das Wort geredet wird. Die Rebellion gegen das Privateigentum und seine Vergesellschaftung sind wesentliche Voraussetzungen für den sozial-revolutionären Prozess. Und sie stossen zweifellos auf enormen Widerstand. Aus philosophischer Sicht bedeutet dies vor allem, dass die zwanghafte Identifikation des eigenen Personenstatus mit dem knechtenden Privateigentum durchbrochen werden muss. Ein anderes Selbstverständnis der Menschen muss her, in welchem sie sich nicht als Privateigentümer an sich selbst verstehen, was ihnen – je nach Stufen in der gesellschaftlichen Hierarchie – auch die Rechte und Möglichkeiten gibt, andere zu degradieren und auszubeuten. Von Redecker findet für diesen staatsbürgerlichen Subjektstatus die Bezeichnung des „Phantombesitzes“, welcher sie die schon in den Bauernkriegen verwendete Bezeichnung der „Gemeinen“ entgegensetzt (S. 264).

Ein Weltverhältnis wiedergewinnen

Ausbeutung und Unterdrückung abzuschaffen und durch selbstbestimmte, sinnvolle Arbeit und – im Sinne Hannah Arendts – politische Teilhabe und Handlungsvermögen zu ermöglichen, sind wesentliche Bestrebungen der Revolution für das Leben. Darüber hinaus bezieht von Redecker jedoch auch die Dimension der Entfremdung in ihre Überlegungen ein, wobei überrascht, dass sie diese nicht als solche benennt. Worum sollte es aber sonst gehen, wenn sie beispielsweise schreibt: „Es mag abwegig scheinen, dass wir uns in einer Welt, in der 7,7 Milliarden Menschen leben, verlassen fühlen sollten. Aber die Verlassenheit ist keine Frage der Existenz anderer, sondern der Beziehung zu ihnen. Genauso, wie man auch von wenigen Menschen beengt sein kann, kann man unter vielen verlassen sein“ (S. 40). Oder auch, wenn sie meint, wir „verlieren nicht die Erde. Aber unsere vertraute Welt. Und wir können uns die kommenden Verluste nicht vorstellen, weil wir ohnehin schon weltlos leben“ (S. 108).

Im Unterschied zu manchen Schüler*innen, die bei Fridays for Future glaubten, erkannt zu haben, dass „jetzt“ unbedingt etwas getan werden müsse, verweist von Redecker auf die dahinter wirkende Logik: „Wir zerstören die geteilte Welt, deren drohenden Untergang wir jetzt nicht wahrhaben wollen, in Wahrheit seit Jahrhunderten. Jede Eroberung, jede profitable Verschiebung der Frontlinie, jedes Vordringen in angeblich unbekannte Gefilde: alles immer nur Weltverlust, immer nur Kopie desselben Herrschaftsmusters. Usurpation, Rendite, Erschöpfung. Dann das Staunen, dass dieser Ort irgendwie nicht mehr taugt. Aufbruch zu neuen Ufern, um weiter die Welt verlieren zu können. Es liegt nicht am zukünftigen Ausmass der Katastrophe, dass wir sie so schwer zu fassen vermögen, sondern an unseren hergebrachten Beziehungen zu ihrem Objekt“ (S. 109f.).

Vor allem am oben bereits angedeuteten Begriff der ‚Gezeiten‘ wird deutlich, dass von Redecker die Wiedergewinnung eines anderen Weltverhältnisses als Voraussetzungen, Erfahrung und Ergebnis sozial-revolutionärer Transformationen ansieht. So formuliert sie: „Das stabile Klima, an dem man das wechselhafte Wetter mass, gibt es nicht mehr. Was wir verlieren, sind nicht nur Dinge in der Natur. Was den Wandel so bedrohlich und unabsehbar macht, ist, dass wir in gewisser Weise den Rahmen der Natur gesprengt haben. Wir haben die Zeit der Natur ausgehebelt, ihre Selbstorganisation in wiederkehrenden Kreisläufen oder ‚Gezeiten’“ (S. 116f.). Und: „Das Wesen des Weltverlusts ist ein Verlust der Zeit. Nicht nur in dem Sinne, dass uns die Zeit ausgeht, in der wir die Veränderungen noch aufhalten könnten. Sondern in dem Sinne, dass die Veränderungen die Zeitlichkeit selbst betreffen. […] Die kapitalistische Wirtschaftsweise […] haben wir auf dem Rücken der natürlichen Zyklen errichtet. Unsere sogenannte Zivilisation beruht darauf, mit der Abzirkelung von Eigentum natürliche Kreisläufe zu kappen und sie in der spiralförmigen, die Zukunft anpumpenden Verwertung vollzumüllen. Es wäre nicht weiter bedauerlich, würde nur dieser Zivilisation die Basis wegbrechen. Aber die von Eigentumsfixierung und Profitorientierung zerstörten Grundlagen sind die Grundlagen jeglicher Zivilisation und sämtlichen Lebens au der Erde: natürliche Kreisläufe“ (S. 120).

Damit verweist sie wie angeklungen erneut auf die ökologische Dimension eines erneuerten Revolutionsverständnisses, wobei in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist, dass vor allem auch Murray Bookchin seit den 1970ern eben zu dieser Perspektive gearbeitet hat. Insofern wäre es plausibel gewesen, diesen zu nennen. So stellt sie fest, die „westliche revolutionäre Tradition mit ihren Kategorien von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit hat eine Leerstelle von der Grösse eines Globus. Freie, gleiche und sogar solidarische Beziehungen verlaufen zwischen Menschen, aber sie berühren nicht hinreichend die Lebensgrundlagen. […] Menschen können sich nur gemein machen, wenn ihr Geteiltes seinerseits frei von Sachherrschaft ist“ (S. 264). Statt Sachherrschaft also Weltwahrung – möglicherweise bewusst nicht ‚Bewahrung‘, weil es nicht lediglich um den konservativen Erhalt einer als äusserlich gedachten Natur geht, sondern um ein anderes Welt- und Selbstverhältnis. „Diese sorgende Einstellung ist keine Aufopferung, sie braucht auch keinen Altruismus. Sobald man sich unsere Abhängigkeit von den planetaren Lebensgrundlagen vor Augen führt, wird klar, dass die Weltwahrung eine Form der Selbsterhaltung ist; eine Selbsterhaltung, die die Abhängigkeit von anderem Leben offen zugeben kann und deshalb keiner Herrschaft bedarf“ (S. 274).

Bleibende Leerstellen auf der Suche

Nachdem ich mit dieser Zusammenstellung Interesse an einem gelungenen und tiefgründigen philosophischen Werk wecken wollte, was sowohl Aktiven in emanzipatorischen sozialen Bewegungen eine Reflexion über ihr Handeln ermöglichen, als dieses auch in einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln kann, abschliessend noch zwei Kritikpunkte. Eva von Redeckers Revolutionsverständnis kommt anarchistischen Vorstellungen deutlich näher als anderen sozialistischen Strömungen. Wer einen Blick vorheriges Buch Praxis und Revolution wirf, welches aus ihrer Dissertation hervorgegangen ist, kann mit etwas Kenntnis gut nachvollziehen, dass ihr Denken wesentlich von Gustav Landauer beeinflusst ist, den sie plausibel mit Marx, Hannah Arendt, der Kritischen Theorie, feministischen und postkolonialen Denker*innen verbindet.

Da ich hierbei keinen neutralen Standpunkt einnehme, hätte ich mir gewünscht, dass die Bezüge zum anarchistischen Denken insgesamt noch stärker herausgestellt wurde. Diese ergeben sich freilich nicht einfach aus den Texten, auf welche von Redecker sich bezieht, sondern aus den Praktiken, Erzählungen, Organisationsformen und Stilen der beobachteten Akteure in emanzipatorischen sozialen Bewegungen selbst. Als explizite Bewegung ist der Anarchismus schwach und dies auch in den USA. Zugleich sind aktivistische Szenen offensichtlich von anarchistischen Praktiken und Denkweisen so tief durchdrungen, wie es auch bei der globalisierungskritischen Bewegung der Fall war. Meiner Ansicht nach wäre die deutlichere Benennung anarchistischer Elemente in derartigen Bewegungen ein Schritt dorthin, damit diese sich noch stärker systemkritisch ausrichten, radikalisieren, aber auch auf Dauer organisieren könnten.

Insofern zielt mein Kritikpunkt nur zur Hälfte auf von Redecker selbst, da sie gewissermassen Aktiven in Bewegungen das Wort gibt und diese für sich sprechen lässt und zugleich nicht verschweigt, woher diese ihre Inspirationen bezieht. Dennoch wäre es schön, ein klareres Verständnis davon wiederzugewinnen, was Anarchismus eigentlich ist. In von Redeckers Worten klingt dies unter anderem so: „Der Anarchismus, der eine Welt ohne Herrschaft anstrebt, setzt darauf, unser Zusammenleben auf eine bestimmte Vereinbarung neu zu gründen: dass wir uns gegenseitig helfen werden, ohne Schuldigkeit und Entschädigung – ‚aus Prinzip‘ sozusagen. […] Sollte eine_n ein Unglück treffen, kommen alle für den Schaden auf. Der anarchistische Horizont nimmt konkrete Beziehungen in den Blick, aber er vermengt Solidarität nicht mit Vertrautheit. Man braucht sich nicht einander zu ähneln und nicht mal näher zu kennen, um eine mutualistische Reisegesellschaft zu bilden. Gegenseitige Hilfe schafft Beziehungen, sie setzt sie nicht voraus“ (S. 213). Die Formulierung ist zwar treffend und schön, verwischt jedoch praktischere Aspekte wie die Notwendigkeit von Propaganda, Bildung, Organisation oder auch Konfrontation, welche im Anarchismus grösstenteils herausgestellt wird.

Dies führt zum zweiten Punkt. Von Redecker geht ganz mit Landauer, wenn sie den Staat nicht zum Hauptgegner erklärt, welcher zerschlagen werden könnte, sondern vielmehr eine Haltung der Indifferenz und des Ignorierens ihm gegenüber einnimmt. Darin liegen durchaus einige Potenziale, zumal mit pseudo-radikalen Dogmen gebrochen wird, während ein kreativ-sozialrevolutionäres Schaffen im Vordergrund steht. Es ist nicht so, dass von Redecker sich gar nicht der Staatsmacht bewusst ist. Im Gegenteil schreibt sie, der „Hobbes’sche Leviathan auf den Agamben anspielt, der souveräne Staat, wurde wahrhaftig nicht errichtet, um die Angst der Mägde, Knechte, Tagelöhner_innen, Wandergesellen, Vagabund_innen, Kolonisierten, Sklav_innen und Ehefrauen zu bannen. Er schützt das Leben der Herren, mitsamt ihrem Hab und Gut“ (178f.). Und: „Damit einem sein Besitzstand […] unter normalen Bedingungen sicher gehört, muss man sich als Eigentümer also darein fügen, im Ausnahmezustand selbst unter der absoluten Sachherrschaft des Staates zu stehen“ (S. 179).

Ihrer Ansicht nach erhält der Staat also vorrangig den Kapitalismus aufrecht. Der letzte ist es jedoch, welcher als eigentliche Herrschaftsverhältnis angesehen wird. Dahingehend erachte ich von Redeckers Herrschaftsverständnis als verkürzt. Staat und Patriarchat scheinen mir genauso gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu sein. Von Redecker leitet jene zwar keineswegs sekundär aus dem Kapitalismus ab, sondern betont vielmehr ihre Verquickung. Zugleich merke ich, dass ich Probleme damit habe, ihrem Fokus auf kapitalistische Herrschaft einfach zu folgen. Ich gehe darin mit, dass das Kapitalismus Leben zerstört und abzuschaffen ist, dass kapitalistische Verhältnisse auch in Subjekte und soziale Beziehungen eingreifen und vor allem, dass sie als entpersonalisierte, strukturelle Herrschaft zu begreifen sind.

Möglicherweise sind es gerade diese Aspekte, die mich in von Redeckers Ausführungen etwas unzufrieden lassen: Dass sie für meinen Geschmack die Frage nach der Verantwortung in dem ganzen Schlamassel doch zu stark kollektiviert. Mit dieser Herangehensweise gelingt es ihr zwar, zum eigenständigen Handeln zu motivieren und durch die Verortung in grösseren Zusammenhängen auch die Hoffnung zu erzeugen, dass bereits viele bedeutende Auseinandersetzungen geführt werden und in die richtige Richtung gehen. Konfrontationen bleiben dabei jedoch nicht aus. Sie können nicht ausbleiben, wenn die Forderung nach Vergesellschaftung ernst gemeint ist.

Soziale Revolution als radikale und umfassende Gesellschaftstransformation

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Zuerst veröffentlicht am 01.12.2020 auf theorieblog.de als Beitrag für den Call for Blogposts unter dem Motto „Neuanfang“.

Neuanfänge gleich welcher Art zu initiieren, bedeutet einen Dreischritt im Umgang mit den vorhandenen Ordnungen zu gehen. Zunächst setzten sie eine Ent-Identifizierung von Subjekten mit einer verfestigten, bestehenden Ordnungsstruktur voraus, in welcher sie keinen Anteil finden können. Zweitens ist zu verstehen, dass Ausbeutung, Ausgrenzung, Unterdrückung und Entfremdung in unterschiedlichen Ausprägungen Folgen jeder historisch-spezifischen Herrschaftsformation sind. Ein gesellschaftlicher Neuanfang, welcher diese Bezeichnung verdient, kann nur glaubwürdig von jenen sozialen Gruppen ausgehend gedacht werden, welche aus der dominanten Gesellschaftsordnung aus verschiedenen Gründen herausfallen, die sich jedoch organisieren und nicht mehr mit dem Alten identifizieren wollen. Als dritter Schritt folgt die Neu-Identifizierung mit einer Alternative, welche aus der Erfahrung von Kontingenz möglich wird. Das anarchistische Konzept der sozialen Revolution ist motiviert von der Sehnsucht nach einem radikalen gesellschaftlichen Neuanfang als solidarische, egalitäre und libertäre alternative Moderne. Zu jener Motivation tritt die Überzeugung hinzu, dies sei nicht nur aus ethischen Gründen erstrebenswert, sondern auch vernünftig und machbar. Wie gesamtgesellschaftliche Neuanfänge im anarchistischen Denken durch die soziale Revolution gedacht werden, soll im folgenden Beitrag umrissen werden.

Genese des anarchistischen Konzepts der sozialen Revolution

In Anschluss an die Revolutionswelle von 1848 kam in sozialistischen Debatten die Forderung nach einer sozialen Revolution auf. Im Unterschied zur politischen Revolution, welche im Wesentlichen auf die Übernahme der Staatsmacht abzielt, um mit ihr den Sozialismus einzuführen und durchzusetzen, sollte mit der sozialen Revolution der Klassenantagonismus, welcher als wesentliches Moment der Gesellschaftsstruktur begriffen wurde, abgebaut und letztendlich überwunden werden. Der Anarchismus wurde im 19. Jahrhundert anhand von Auseinandersetzungen innerhalb der sozialistischen Bewegungen entwickelt, wobei einer der entscheidenden Punkte dabei die Ablehnung der Übernahme oder Beeinflussung der Staatsmacht war. Der Kapitalismus könne aus strukturellen Gründen nicht ohne die Abschaffung des Staates überwunden werden. Daher müsse eine wirkliche Revolution einerseits mit den Strukturen der Herrschaftsordnung grundlegend brechen und andererseits selbstorganisierte Gegenorganisationen aufbauen. Für letztere bestanden relativ konkrete Vorstellungen in der Konzeption von freiwilligen und dezentralen Kommunen, die miteinander auf verschiedenen Ebenen föderieren und kooperieren, dabei jedoch ihre Autonomie behalten. Diese Vorstellungen wurden von William Godwin, Pierre-Joseph Proudhon, Michael Bakunin, Peter Kropotkin, Gustav Landauer, Rudolf Rocker und vielen anderen festgehalten, gingen jedoch im Wesentlichen aus den Praktiken und Organisationsformen von libertären sozialistischen Bewegungen hervor.

Das explizit anarchistische Konzept der sozialen Revolution wurde im Wesentlichen durch die Erfahrungen und Überlegungen von Aktiven im antiautoritären Flügel der sozialistischen und Arbeiter*innenbewegung entwickelt. Es ist beeinflusst von der Vorstellung einer sozialen Evolution, das heißt einer eigendynamischen Entwicklung der Gesellschaft, welche zu sozialem Fortschritt führe. Anarchist*innen verstanden sich demgemäß als „Hebammen“ der sozialen Revolution, indem sie der heranreifenden sozialen Evolution – entgegen den überkommenen Strukturen der Herrschaft, die nur den Privilegierten dienen – zum Durchbruch verhalfen. Der Modus der sozialen Revolution funktioniert kaum durch spektakuläre, sondern alltägliche Veränderungen und kleinteilige Handlungen. Dennoch stellt er einen qualitativen Unterschied zur politischen Reform dar, eben weil mit ihr keine Integration in die bestehende Ordnung, sondern der Aufbau von Alternativen zu ihr angestrebt wird. Und verständlicherweise ist die anarchistische Konzeption von der politischen Revolution abzugrenzen. Emanzipation sei nicht möglich, wenn Herrschaftsstrukturen und -verhältnisse intakt gelassen und genutzt werden.

Soziale Revolution kann somit als ein Streben nach Autonomie begriffen werden, mit welchem sich von Unterdrückung und Ausbeutung betroffene Gruppen selbst organisieren und emanzipieren, anstatt etwa durch Parteien angeführt oder in parlamentarischen Vermittlungsprozessen eingehegt zu werden. Dies lässt sich im heterogenen Anarchismus an verschiedenen Tendenzen festmachen. Ob anarchistischer Individualismus, Mutualismus und Kollektivismus, Kommunismus, Syndikalismus oder Kommunitarismus – so unterschiedlich ihre Strategien teilweise sind, überschneiden sie sich jedoch und bilden somit einen Rahmen für kontinuierliche Experimente des Neu-Beginnens.

Aspekte des anarchistischen Begriffs von sozialer Revolution

In der Beschäftigung mit verschiedenen Revolutionsbegriffen fallen einige Aspekte ins Auge, die im anarchistischen Konzept der sozialen Revolution eine spezifische Ausprägung erfahren. Diese sollen im Folgenden angerissen werden, um aufzuzeigen, dass das anarchistische Revolutionsverständnis bestimmbare Merkmale aufweist. Zugleich zeigen sich ihn ihm starke Ambivalenzen, die den modernen Revolutionsbegriff generell durchziehen und in unterschiedlichen zeitlich-räumlichen-sozialen Kontexten verschieden Gestalt annehmen.

Revolution wird zugleich als Ereignis und Prozess wahrgenommen. Mit dem anarchistischen Verständnis wird das Gewicht eindeutig auf die Seite der Prozesshaftigkeit der sozialen Revolution gelegt, während ‚revolutionäre Situationen‘ als Oberflächenerscheinungen angesehen werden. Daraus leitet sich die Herangehensweise ab, dass es hier und heute möglich wäre, sich sozial-revolutionär zu orientieren, anstatt etwa auf einen großen Bruch zu warten, der quasi durch eine historische Gesetzmäßigkeit messianisch hereinbrechen würde. In Hinblick auf das Verhältnis von Negation und Konstruktion lassen sich ausgedehnte sozialistische Debatten nachzeichnen. Das Bilderverbot von Marx, auf das er in Abgrenzung zu den von ihm so genannten ‚utopischen Sozialist*innen‘ bestand, wurde durch die Denker*innen der Kritischen Theorie aufgrund des Scheiterns der Zivilisation in Auschwitz erneuert, wobei der Stalinismus sein Übriges zur Diskreditierung einer positiven sozialistischen Vision tat. So nachvollziehbar die dahinter stehenden Argumentationen und historischen Erfahrungen sind, tendiert das anarchistische Konzept stark zur Betonung der Konstruktivität der sozialen Revolution. Dabei sei die Ablösung von den alten Strukturen, ja, ihre Zerstörung unvermeidlich. Dennoch diene Negation zur Neuschöpfung der Gesellschaft als eigentliche Aufgabe.

Weiterhin gibt es einen Aspekt von Revolutionsverständnissen, der sich als das Denken eines ‚Außerhalb‘ und eines ‚Innerhalb‘ von der jeweils bestehenden gesellschaftlichen Ordnung, also ihren Institutionen, Beziehungen, Normen und Praktiken bezeichnen lässt. Die Frage dahinter lautet, inwiefern es einen transzendenten Bezugspunkt eines (unvorstellbaren) radikal Anderen braucht, um grundlegende Transformationen zu motivieren, oder ob sozial-revolutionäre Bestrebungen aus vorhandenen, aber unterdrückten gesellschaftlichen Verhältnissen immanent abgeleitet werden können, die als erstrebenswert gelten und damit auch als Fluchtlinien hin zu einer anderen Gesellschaft dienen können. Mit der eingangs erwähnten Annahme, dass es die verschiedenen aus den bestehenden Ordnungsgefügen herausfallenden Subjekte sind, welche sich für einen sozial-revolutionären Neuanfang begeistern lassen, werden im Anarchismus Veränderungen ganz überwiegend von bereits vorhandenen gesellschaftlichen Strukturen und Beziehungen ausgehend gedacht. Anarchist*innen lehnen die Herangehensweise ab, dass der Zweck die Mittel heiligen würde. Vielmehr sollen die gewählten Mittel den angestrebten Zielen entsprechen und die erstrebten Handlungsweisen vorwegnehmen, wofür sich der Begriff ‚präfigurative Politik‘ etabliert hat. Diese ist allerdings konfrontiert mit der Widersprüchlichkeit der Realität, die erstens aus den multiplen Herrschaftsverhältnissen (Staat, Kapitalismus, Patriarchat, weiße Vorherrschaft, Naturbeherrschung) resultiert, welche soziale Gruppen in ein antagonistisches Verhältnis setzt. Zweitens ergibt sich auch dadurch, dass der libertäre Sozialismus als eine vielfältige Gesellschaftsform gedacht wird, weswegen emanzipatorische soziale Bewegungen zugleich als pluralistisch anzusehen sind. Drittens gründet sich dies auf ein Subjektverständnis, welches statt von einem vermeintlichen kohärenten, ‚autonomen‘, sich selbst setzenden, fixierten ‚Selbst‘ der bürgerlichen Subjektform, vielmehr von fluiden und offen gehaltenen ‚sozialen Singularitäten‘ ausgeht, welche durch und durch gesellschaftlich geprägt sind. Daraus ergibt sich der Anspruch nach einem Ineinandergreifen von Mitteln und Zielen, weil diese nicht einfach selbst einander entsprechen, sondern permanenter Vermittlung bedürfen. Denn jede Gruppe, Struktur, Praktik oder Aktionsform kann entweder zum Selbstzweck verkommen oder rein instrumentell benutzt werden. In beiden Fällen geht dabei ihr sozial-revolutionäres Potenzial verloren.

Zur Frage der revolutionären Subjektivität kann festgestellt werden, dass Anarchist*innen wie beispielsweise Errico Malatesta, Johann Most, Emma Goldman, Alexander Berkman oder Erich Mühsam von einer Pluralität unterdrückter sozialer Gruppen ausgehen, die sozial-revolutionär werden, indem sie sich verbünden und auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichten. Daraus folgt, dass sich von Unterdrückung und Ausbeutung betroffene Gruppen selbst ermächtigen und für ihre Emanzipation kämpfen müssen, anstatt etwa von einer revolutionären Avantgardepartei angeführt zu werden. Gleichwohl ist immer wieder eine Kluft zwischen politisch-ideologisch Überzeugten und den von Herrschaft Betroffenen festzustellen. Insofern müssen sich auch Anarchist*innen die Frage stellen, welche Verantwortung ihnen im sozial-revolutionären Prozess zukommt, worauf es auch verschiedene Antwortversuche gibt.

Demokratie, Libertärer Sozialismus und Anarchie

In anarchistischen Debatten lassen sich seit 150 Jahren zwei Stränge nachzeichnen. In einem wird davon ausgegangen, dass eine Radikalisierung der Demokratie aufgrund ihrer eigenen, unverwirklichten Ansprüche zu Anarchie führen kann (z.B. David Graeber, Cindy Milstein). Im anderen wird Demokratie konsequent als Herrschaftsform begriffen, welcher Anarchie als grundlegend anderer Modus entgegengesetzt wird (z.B. Uri Gordon, CrimethInc). Da in beiden Strängen überzeugende Argumente angeführt werden, ist diese Diskussion nicht abschließbar, wie Markus Lundström zeigt. Dagegen schlage ich eine andere Betrachtung vor. Meiner Ansicht nach ist ein grundlegender Neuanfang im Sinne einer prinzipiell realisierbaren Gesellschaftsordnung als libertärer Sozialismus zu bezeichnen. Dieses egalitäre, solidarische Projekt von machbaren, funktionierenden realen Utopien, wie sie mit Erik Olin Wright bezeichnet werden können, geht aus deren Verknüpfung und Ausdehnung hervor und wird von unterschiedlichen Gruppen vorangetrieben, welche sich sozial-revolutionär orientieren und organisieren. Anarchie hingegen kann zwar auf Ebene von Gemeinschaften praktiziert werden, stellt zugleich jedoch die permanente Infragestellung jeder gesellschaftlichen Ordnung und somit einen nie abschließbaren Prozess der Instituierung erstrebenswerter Beziehungen und Institutionen dar. Beides schließt sich nicht aus, sondern verdeutlicht eine im anarchistischen Denken grundlegende Problemstellung: Wie ist es möglich, sich Macht anzueignen, ohne Herrschaft zu reproduzieren? Wie ist es möglich, gesellschaftliche Ordnungen zu stiften, die auf Freiwilligkeit beruhen und keine neuen Privilegierungen hervorbringen? Die Beantwortung dieser Fragen kann nicht pauschal erfolgen, sondern geschieht und gelingt bei der Umsetzung anarchistischer Ansprüche und Vorstellungen in emanzipatorischen sozialen Bewegungen.

Insgesamt kann jedoch angenommen werden, dass die Zuspitzung der multiplen gesellschaftlichen Krisen zu einem gesteigerten Problembewusstsein und zu einer höheren bzw. weiter verbreiteten Bereitschaft zu radikaler und umfassender Gesellschaftstransformation führt. Die Sehnsucht nach derartigen Umwälzungen geht aus den Erfahrungen von Subjekten in der dominierenden Herrschaftsordnung und den zu ihr gleichzeitig bestehenden Alternativen hervor. Aus diesen Gründen ist es sinnvoll, sich dem anarchistischen Konzept der sozialen Revolution und der konkreten Utopie eines libertären Sozialismus als erstrebenswerter Gesellschaftsordnung zu widmen. Eine weitere Betrachtung würde ergeben, dass sich die Debatten insbesondere in der feministischen und der Klimagerechtigkeitsbewegung stark in diese Richtung bewegen. Anarchie wirkt als Modus der Infragestellung der staatlich-kapitalistischen-patriarchalen Herrschaftsordnung und soll einen grundsätzlichen Neuanfang denkbar und erfahrbar machen. Die Motivation für einen gesamtgesellschaftlichen Aufbruch, eine radikale und umfassende Gesellschaftstransformation speist sich daran anschließend aus der Positionierung zum libertären Sozialismus. Theoretische Überlegungen können zur Orientierung auf einen derartigen Neuanfang hin dienen und hilfreich sein, insofern damit wie in diesem Beitrag libertär-sozialistische Tendenzen und Ansatzpunkte erfasst und beschrieben werden, die tatsächlich vorhanden sind (vgl. Day 2005). Seine Realisierung ist jedoch eine Frage der Organisierung, Bewusstseinsbildung und politischen und sozialen Auseinandersetzungen der von Ausbeutung, Unterdrückung, Entfremdung und Ausgrenzung betroffenen Menschen.