Anarcho-Chefs und soziale Rollen

Lesedauer: 8 Minuten

Im Folgenden formuliere ich einige unfertige Gedankengänge, um über meine Erfahrungen mit bestimmten Personen und manchen Gruppendynamiken zu reflektieren.

Menschen werden aufgrund ihrer Fähigkeiten, Prägungen, ihres Auftretens und Zuschreibungen von anderen bestimmte Rollen zugewiesen. In Gruppenkontexten übernehmen Personen unterschiedliche Aufgaben, gleichermaßen in organisatorischer, funktionaler, sozialer und emotionaler Hinsicht. Dies ist ein sozialer Effekt, auf dessen Grundlage soziale Gruppen stärker, klüger und kontinuierlicher wirken können, als es die Einzelnen jeweils könnten. Unsere jeweiligen Fähigkeiten und Seinsweisen zu kennen und zu verbinden, bedingt uns als soziale Tiere – selbst, wenn wir uns davon abgrenzen.

Darüber begeben sich Einzelne aber auch selbst in bestimmte Rollen, oftmals, weil sie es gewohnt sind, in diesen zu bleiben. Schüchterne Personen, drängen sich nicht im Gruppenkontext nicht in den Vordergrund, beeinflussen das Gruppengeschehen aber beispielsweise in vertraulichen Zweiergesprächen. Es gibt Leute, die fühlen sich mit bürokratischen Aufgaben wohl und übernehmen sie als wäre es selbstverständlich. Andere üben eine moralische Autorität aus, indem sie Verhaltensweisen beurteilen. All dies stellt kein Problem an sich dar – solange darüber reflektiert und gesprochen wird. Die sozialen Rollen, die wir oftmals unbewusst einnehmen und die uns zuschoben werden, sollten bewusst gemacht, zur Verhandlung gestellt und mit dem Anspruch der jeweiligen Gruppe abgeglichen werden.

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Mit dem Syndikalismus gegen den Syndikalismus?

Lesedauer: 6 Minuten

Inzwischen kam ich dazu die ersten drei veröffentlichten Teile des Textes Skizze eines konstruktiven Sozialismus von Holger Marcks ganz zu lesen. Da er auf der Homepage der Föderation der FAU erschienen ist und es aktuell kaum andere ausführliche Beiträge aus anarcho-syndikalistischer Richtung gibt wirkt er wie ein Grundlagentext, welcher von FAU-Mitgliedern möglichst gelesen werden sollte. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang jedoch noch mindestens die Schrift von Torsten Bewernitz Syndikalismus und neue Klassenpolitik. Eine Streitschrift.

übernommen von: https://www.fau.org/materialien

Leider habe ich gerade nicht die Zeit und die Muße eine ausführlichere Besprechung von Holger Marcks Text zu leisten, möchte aber dennoch ein paar Eindrücke und Kritikpunkte benennen. Doch zunächst zur Form: Der Text besteht aus den Teilen (1) Syndikalistische Transformationspolitik: Die Vermittlung zwischen Realität und Utopie, (2) Multiple Gewerkschaften als Unterbau: Erste Bausteine der Gegenmacht und (3) Grundlagen der Konstruktion: Das Gefüge transformatorischer Organisation. Im bisher noch nicht veröffentlichten vierten Teil soll es dann um programmatische Konsequenzen aus den mikropolitischen Erfahrungen und die utopische Vision gehen.

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Alles nur geklaut?

Lesedauer: 8 Minuten

Ein Brief an die Genoss*innen von Die Plattform. Anarchakommunistische Föderation

Liebe Genoss*innen,

ich schreibe euch als querulierende Einzelperson und nicht im Namen einer Organisation. Ich mache meinen Kram, beziehe mich auch auf andere und finde Organisation wichtig. Eine immer währende Frage, die ihr ja auch stellt ist dabei: Welche Organisation, unter welchen Umständen? Hierzu gibt es erfreulicherweise unterschiedliche Ansichten.

Ich schreibe diesen offenen Brief an euch, weil ich mich sehr geärgert habe. Aus historisch-ideologischen Gründen. Das ist eine Ebene, die erst mal nichts direkt mit den Kämpfen zu tun hat, in denen emanzipatorische soziale Bewegungen stecken. Mensch kann sich wunderbar über irgendwelche Standpunkte streiten und ideologische Debatten führen – solange sie nicht an den realen Lebensbedingungen, dem Bewusstsein von Menschen und ihrem sozialen Beziehungsgeflecht anknüpfen, ist das erst mal egal. Es handelt sich dann nur um eine Debatte zwischen Nerds, Möchtegern-Kader*innen oder Anhänger*innen anarchistischer Folklore. Dennoch gibt es eine Verbindung zwischen ideologischen Aspekten, historischem Verständnis, inhaltlichen Positionen, Organisationsformen und den Praktiken, die Anarchist*innen hervorbringen. Und meistens waren sie bisher nicht so gut darin, diese Ebenen miteinander zu vermitteln, was übrigens auf alle ihre Strömungen zutrifft. Hier wäre es gut, wenn wir besser werden!

Weil ihr euch Anarchist*innen nennt, adressiere ich euch als solche und meine, ihr solltet euch weiter mit dem auseinandersetzen, wofür ihr eintretet, was ihr vertretet und propagiert. Nicht, damit wir bloß noch mehr Papier oder Bits produzieren. Sondern, damit sich eure Praxis ändert. Wie ihr mich kennt, richtet sich meine Kritik an euch genauso an andere, und ich bin nicht müde, sie auch gegenüber anderen vorzubringen. Ja, ich bin ein elender, besserwisserischer Nervsack. Aber tröstet euch, das kriegen alle mal ab. Beruhigt euch, mir geht‘s doch auch um die Sache!

Ich fange jetzt gar nicht mit eurem Klassenverständnis an, das ich für verkürzt und seit Alexander Berkmans ABC des Anarchismus (1928) für völlig überholt halte. Er geht darin wie auch andere moderne Anarchist*innen von einer Pluralität proletarisierter Subjekte aus, die in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen arbeiten können. Bei einer Vorstellungs-Veranstaltung von „Der Plattform“ hatte ich dagegen eher den Eindruck, ihr geht von einem simplen Dualismus aus, nach welchem hier das Volk und dort die bösen Herrschenden seien. Ebenfalls kritisiere ich bei euch, was ich oben Folklore genannt habe und meiner Ansicht nach zu einer problematischen Identitätskonstruktion führt, die lediglich Spiegelbild der postmodernen Bedingungen ist, unter denen wir leben. Ich möchte an dieser Stelle auch nicht begründen, warum eure Vorstellung von Organisation, wie ich sie wahrnehme, in einem schlechten Sinne letztendlich voluntaristisch ist.

Jetzt aber mal Tacheles reden, klare Worte bitte! Warum um alles in der Welt fotografiert ihr euch bei eurem 3. Kongress Anfang September vor dem Grab von Erich und Zenzl Mühsam? Und wieso bitteschön wählt ihr auf eurem Propaganda-Sticker ein Bild und Zitat von Errico Malatesta?

Ganz ehrlich, ich begreife das nicht. Erich Mühsam hätte über euren verkopften Organisationsversuch geschmunzelt, ihn aber auch kritisiert, weil er sich eben nicht aus real vorfindlichen Kämpfen ableitet. Oder auch, weil der total lust-feindlich rüberkommt. Ja, es muss nicht alles sexy sein und Mühsams Anti-Repressionsarbeit war sicherlich – aus der Notwendigkeit heraus – auch alles andere als dies. In Wort, Tat und der Weise seiner persönlichen politischen Aktivität kann er als Protagonist einer anarchistischen Synthese gelten, zumal er Sebatiens Faures wichtigen Beitrag dazu in seiner Zeitung Fanal veröffentlicht hatte. Mehr dazu findet ihr in meiner Beschäftigung zu seinem Traktat Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus? (in: Gai Dao #109, Juli 2020).

Nun gut, damit nun zu Malatesta. Ernsthaft: Was hat der gute Mann denn auf eurem Sticker verloren? Habt ihr tatsächlich so wenig Geschichtsbewusstsein oder captured ihr hier einfach eine prominente Figuren des Anarchismus, weil ihr bei ihnen prägnante Zitate klauen könnt? Zugegeben: Die Wahrheit ist, hätten andere Anarchist*innen ein ausgeprägteres Verständnis ihrer eigenen Geschichte, ein Bewusstsein über sich selbst in der Gesellschaft und würden mal ihre Romantik zurückstellen, wäre die Plattform gar nicht entstanden. Das macht es aber trotzdem nicht richtiger, dass ihr Malatesta für euch vereinnahmen wollt. Ich schreibe diesen Brief an euch, damit der Schwindel mal auffliegt. Malatesta veröffentlichte im Jahr 1927 den Text Ein Projekt anarchistischer Organisation (Un progretto die organizzazione anarchia) in der in Genf erschienen Zeitung Le Réveil Anarchiste. Warum ich das weiß? Es steht in der Textauswahl von ihm, die Philippe Kellermann unter dem passenden Titel Anarchistische Interventionen herausgegeben hat (Unrast-Verlag 2014, S. 200-214).

Da steht Folgendes drin: Malatesta begrüßt die Aufforderung zur Organisierung und teilt auch einige der vorgetragenen Kritikpunkte des plattformistischen Manifests. Die Frage sei nicht, ob Organisation sinnvoll sei, sondern auf welche Art und Weise sie zu gestalten ist. Dafür brauche es vor allem eine Verständigung von Anarchist*innen untereinander (S. 202). (Weil es diese heute nur bedingt und selten undogmatisch gibt, schreibe ich unter anderem diesen Text.) Die Gewerkschaftsbewegung seiner Zeit wäre äußerst wichtig, aber „es wäre eine große und tödliche Illusion zu glauben, wie es viele tun, dass die Arbeiterbewegung aus sich selbst heraus, als Folge ihres eigenen Wesen, zu einer solchen Revolution führen könne oder müsse“ (S. 203) Deswegen brauche es eigenständige anarchistische Organisationen. Diese jedoch müssen ihren eigenen Ansprüchen genügen. Sie müssen antiautoritär sein. (Dass Malatesta „müssen“ schreibt und überhaupt sagt, wie der Hase läuft, ruft bei vielen heutigen Anarch@s vielleicht schon Abwehrreflexe hervor…).

Das Hauptproblem beim Manifest der Plattform bestünde darin, dass es eine „einzige revolutionäre Kollektivität“ propagiere. Die Vereinigung in einem solchen Bündnis wäre aber gar nicht möglich und auch überhaupt nicht wünschenswert, denn zu

„zahlreich sind die Unterschiede im Umfeld und so in den Kampfbedingungen, zu vielfältig die möglichen Aktionsformen, die der eine oder andere bevorzugt, zu viele auch die Unterschiede im Temperament und die persönlichen Unvereinbarkeiten, als dass eine Generalunion, wenn man sie ernst nimmt, nicht ein Hindernis für die individuelle Aktivität und vielleicht auch der Grund für recht schroffe interne Konflikte würde – anstatt ein Mittel, die Kräfte aller zu koordinieren und zu addieren“ (S. 205).

Wie soll mensch beispielsweise mit Leuten zusammenarbeiten, die glauben, allein die Erziehung der Menschen werde Anarchie ermöglichen oder solchen, die der Meinung sind, allein eine gewaltsame Revolution würde sie realisieren (S. 205)? (Ziemlich gute Fragen eigentlich, denn beide Ansichten gibt es heute komischerweise immer noch…). Und wie könnten denn „Personen zusammenhalten, die sich aus speziellen Gründen nicht mögen und nicht wertschätzen und die dennoch gleichermaßen gute und nützliche Kämpfer des Anarchismus sein können“ (S. 205)? Wenn die (historischen) Plattformist*innen gar nicht die Vorstellung hätten, verschiedene Strömungen zu vereinen, warum ließen sie dann die anderen nicht einfach ihre eigenen Organisationsformen finden? Stattdessen meinen sie einen richtigen Weg vorgeben zu müssen und darüber urteilen zu können, wer ein*e „gesundes Element“ libertärer Bewegung ist. (Diese Formulierung aus dem Text der Organisationsplattform ist für einen Dialog auf Augenhöhe eine ziemlich ungesunde Einstellung). Dabei geht es aber nicht um irgendwelche Belanglosigkeiten. Denn die „anarchistische Wahrheit kann und darf nicht das Monopol eines Individuums oder eines Komitees werden, noch darf sie von Entscheidungen tatsächlicher oder erdachter Mehrheiten abhängen“ (S. 206).

Die Prinzipien und Methoden der Generalunion scheinen nicht mit anarchistischen Vorstellungen überein zu stimmen, meint Malatesta. Er geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet das plattformistische Konzept als „autoritär“, weil in ihm Mehrheitsentscheidungen gefällt werden, Exekutivkomitees eingesetzt werden und die individuelle Unabhängigkeit von Einzelnen negiert wird, was letztendlich auch ihre Initiative hemmt. Wenn mensch schon Repräsentativität auf Kongressen anstrebt, ist festzustellen, dass dies der anarchistischen Realität widerspricht, wo die Teilnahme aufgrund von fehlendem Geld, Zeit und Repression faktisch begrenzt ist, sodass Repräsentation verschiedener Gruppen schlichtweg nicht zu gewährleisten ist (S. 208-210). Heruntergebrochen würden das propagierte Ziel der Anarchie daher der vorgeschlagenen Organisationsform widersprechen. (Es ist dabei klar, dass wir uns dabei immer im Widerspruch befinden. Gerade daraus ergibt sich jedoch eine wirkliche Bewegung, die an den realen Verhältnissen andockt und radikal wird, weil sie sie zu überwinden anstrebt.) Entscheidend sind die Versuche, die angestrebten Zielvorstellungen bereits vorwegzunehmen und zwar nicht allein in Hinblick auf ein ethisches Verhalten, sondern insbesondere auch hinsichtlich der Organisationsform:

„Man versteht, dass die Nichtanarchisten meinen, dass die Anarchie, das heißt die freie Organisation ohne Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit oder andersherum, eine nicht zu verwirklichende oder nur in ferner Zukunft realisierbare Utopie ist. Doch es ist unbegreiflich, dass derjenige, der sich zu anarchistischen Ideen bekennt und die Anarchie leben oder sich zumindest ihrer Verwirklichung eher heute als morgen nähern möchte, die grundlegenden Prinzipien des Anarchismus verleugnet – im selben Zuge, in dem er sich vornimmt, für seinen Triumph zu kämpfen“ (S. 211).

Dagegen gilt es an den vorhandenen anarchistischen Organisationsprinzipien festzuhalten, welche in ihrer Ausgestaltung nachvollziehbarer Weise nicht perfekt, sondern immer als Suchbewegung gelingen. Aber: Es sind nun einmal die Basics des Anarchismus:

„Volle Autonomie, volle Unabhängigkeit und folglich volle Verantwortung der Individuen wie der Gruppen; freie Übereinkunft zwischen jenen, die es für nützlich halten, sich für ein Ziel zur Zusammenarbeit zu vereinen; moralische Verpflichtung, die übernommenen Aufgaben zu wahren und nichts zu tun, was dem akzeptierten Programm widerspricht. Auf diesen Grundlagen fügen sich dann die Formen der Praxis, die angemessenen Instrumente, um der Organisation ein reales Leben zu verschaffen“ (S. 212).

Dahingehend ist es nicht möglich, einzelnen Leuten oder Gruppen, Beschlüsse aufzuzwingen.

„In einer anarchistischen Organisation können die einzelnen Mitglieder alle Meinungen vertreten und alle Taktiken benutzen, die nicht im Gegensatz zu den anerkannten Prinzipien stehen und die nicht der Aktivität der anderen schaden. In jedem Fall währt eine Organisation solange wie die Gründe für ein Bündnis stärker sind als die Gründe für einen Dissens: andernfalls löst sie sich auf und lässt den Platz anderen einheitlicheren Gruppierungen“ (S. 213).

Selbstverständlich ist die Kontinuität von Organisationen ein wichtiger Faktor für ihren Erfolg, aber sie lässt sich eben nicht erzwingen – sondern nur aus gemeinsamen Erfahrungen und Auseinandersetzungen weiter entwickeln. (Dagegen hilft auch keine romantische oder ideologische Übertünchung der Konflikte oder „ideologische“ Identitätskonstruktionen.)

„Aber die Dauer einer libertären Organisation muss die Konsequenz aus der geistigen Affinität ihrer Komponenten und aus der Anpassungsfähigkeit ihrer Verfassung an die fortwährende Veränderung der Umstände sein: wenn sie nicht mehr in der Lage ist, eine nützliche Mission zu erfüllen, ist es besser, sie stirbt“ (S. 213).

Und das ist letztendlich auch besser, als die implizite Orientierung an einer bolschewistischen Avantgardepolitik, welche in dieselben Sackgassen führt, wie eben jene.

Okay, liebe Genoss*innen. Es stimmt, jetzt habe ich euch eins reingedrückt und das nervt. Sicherlich ist es auch problematisch, dass ich hier so eine antiautoritäre populäre Person wie Malatesta als Argument anbringe. Das hat dann für manche schon wieder einen autoritären Touch. Zumindest wird es als Klugscheißerei abgestempelt, da bin ich mir sicher. Aber ich habe mich eben auch aufgeregt. Ich finde es nicht fair von euch, dass ihr Mühsam oder Malatesta für eure Propaganda vereinnahmen wollt. Sie haben den Plattformismus nicht vertreten und würden ihn definitiv ablehnen. Da bin ich mir sicher. Und hierbei beziehe ich mich nicht nur auf die hier bzw. in der Juli-Ausgabe zitierten Texte von den beiden, sondern auf die Weise, wie sie als Personen aufgetreten sind und in gekämpft haben. Nämlich nicht anhand einer straighten Linie. Die kann es in komplexen, widersprüchlichen Verhältnissen, einerseits, und wenn mensch eine pluralistische, vielfältige Gesellschaft anstrebt, andererseits, auch bis auf in Ausnahmefällen gar nicht geben. Gerade Mühsams und Malatestas kluger Umgang mit Widersprüchen, verschiedenen Leuten, Gruppen, Traditionen, Gefühlen und Gedanken war es, der sie stark und weise gemacht hat. Sie hatte ihre Grundsätze und Überzeugungen, doch damit agierten sie ausdrücklich undogmatisch. So gelang es ihnen auch, dass sie jeweils bis zum Ende ihres Lebens tatsächlich unermüdlich für die anarchistische Sache gekämpft haben.

Daher habt ihr, werte Genoss*innen, alles Recht der Welt Mühsams oder Malatestas Argumentationen und Positionen zu kritisieren oder abzulehnen. Vielleicht sagt ihr auch, dass ihr gar keine „einzige revolutionäre Kollektivität“ annehmt oder anstrebt. Dann wiederum gibt es aber keinen Sinn, dass ihr euch Plattformist*innen nennt, was ihr aber tut. Also bitte tut nicht so, als könntet ihr euch mit eurer Organisation gerade auf die Überlegungen und Gedankengänge von M&M stützen. Das könnt ihr nämlich nicht. So viel Aufrichtigkeit muss sein. Und über anderes reden wir später noch.

Solidarische Grüße

Jens Störfried

Anarchistisches Interview zur Black Lives Matter-Rebellion

Lesedauer: 12 Minuten

Ein wie ich finde sehr spannendes Interview, welches ich von barrikade.info spiegele.

Deutsche Übersetzung eines Interviews, welches im August 2020 von anarchistischen Gefährt*innen aus Italien mit Flower Bomb aus den USA geführt wurde.

Um den Leser*innen in Italien den Einstieg zu erleichtern, bitten wir euch, uns eine kurze historische Kontextualisierung der antirassistischen, von Rassismus Betroffenen geführten Protestbewegungen der letzten Jahre in den USA zu geben. Wie kam es zur Black Lives Matter-Bewegung (BLM) und wie brach die Situation in die aktuellen Protesten nach den Aufständen in Ferguson, Baltimore usw. aus?

Der historische Kontext der BLM-Bewegung ist sehr lang und komplex. Ich kann nur aus meiner eigenen Erfahrung als anarchist of color sprechen, aber meine racial identity sollte nicht repräsentativ für andere anarchists of color sein. Wir (anarchists of color) teilen unterschiedliche, einzigartige Erfahrungen, die uns zu unterschiedlichen Vorstellungen davon führen können und geführt haben, wie Freiheit aussieht.

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Schatzkiste: Die Macht der Minderheiten (Emma Goldman)

Lesedauer: 14 Minuten

In ihre Beitrag von 1910, der unter den Titeln Minderheiten weisen den Weg und auch Die Masse publiziert worden ist, setzt sich Emma Goldman mit dem Verhältnisse von Mehrheiten und Minderheiten auseinander. Dies betrifft Politik im engeren Sinne, aber auch die Meinung in der Gesellschaft und kulturelle Fragen. Einleitend schreibt sie:

Wenn ich die Richtung, in der unsre Zeiten sich bewegen, mit einem Wort zusammenfassen soll, so sage ich: Quantität. Die Menge, der Geist der Masse herrscht allenthalben vor und zerstört die Qualität. All unser Leben – Produktion, Politik und Erziehung – beruht auf der Quantität, auf der großen Zahl. […] In der Politik zählt nichts als Quantität: Prinzipien, Ideale, Gerechtigkeit und Festigkeit sind völlig von der Menge hinweggespült worden.

Quelle: wikipedia, respektive: https://www.loc.gov/pictures/item/2014680747/
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Zur Verwendung des Begriffs „Libertärer Sozialismus“

Lesedauer: 5 Minuten

Vermutlich ist es vielen der Lesenden dieses Blogs klar, warum ich von libertärem Sozialismus als Leitmotiv für eine „andere“ Gesellschaftsform spreche und schreibe. Um Unklarheiten zu vermeiden, möchte ich dies an dieser Stelle mein Verständnis noch einmal knapp skizzieren.

Ideengeschichtliche und politisch-theoretische Verortung

In überwiegender Hinsicht sind anarchistische Bewegungen ideengeschichtlich und politisch-theoretisch als Teil des Sozialismus zu begreifen. Neben Sozialdemokratie und Parteikommunismus ist Anarchismus eine der drei sozialistischen Hauptströmungen. Dies lässt ich in Hinblick auf die geteilten ethischen Werte von Solidarität, Gleichheit und Freiheit beschreiben. Es geht jedoch ebenso aus der ideengeschichtlichen Entwicklung hervor, nach welcher Anarchist*innen sich stets zu den „freiheitlicheren“ und selbstorganisierten Konzepten hingezogen fühlten. In den politischen Auseinandersetzungen innerhalb des Sozialismus‘ entwickelten sich „antiautoritäre“ und „libertäre“ Flügel, welche schließlich zur Formierung des expliziten Anarchismus ca. zwischen 1860 und 1880 führten.

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Material: Zusammenhang Ethik, Organisierung, Theorie

Lesedauer: 3 Minuten

Vielleicht werde ich immer wieder mal Materialien zur Veranschaulichung bestimmter Aspekte und Denkfiguren anarchistischer Theorie hochladen. Dabei gilt für alle derartigen Schaubilder, dass sie keine Wahrheiten selbst verkörpern, sondern vor allem dazu dienen, das Erfassen komplizierter Themen zu unterstützen.

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Verfallsformen des Politischen

Lesedauer: 16 Minuten

Originaltitel: Die Verfallsformen des Politischen und die Wiedergewinnung einer holistischen sozial-revolutionären Praxis

zuerst veröffentlicht auf: de.indymedia.org, barrikade.info, untergrund-blättle.ch

Mona Alona

Dieser Beitrag ist subjektiv. Damit schöpfe ich aus der Reflexion über eigene Erfahrungen und Wahrnehmungen, über die ich gleichwohl schreibe, weil ich aus dem Speziellen auch einige Aspekte des Generellen ableite – die ihre Gültigkeit nur haben, wenn – bzw. zu welchem Grad – sich Andere darin wiederfinden. Ursprünglich entwickelte ich diese Gedanken an er Schwelle zum 30. Lebensjahr, an welchem bekanntliche sich die Großzahl der verbleibenden Genoss*innen, aus der linksradikalen Szene herauszieht.

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Für eine neue anarchistische Organisierung!

Lesedauer: 49 Minuten

Jonathan Eibisch // Oktober 2019

Zusammenfassung:

Es gibt unterschiedlichste Organisationen, die nach anarchistischen Prinzipien funktionieren. Mit verschiedenen Ansätzen streben sie danach, Autonomie zu verwirklichen, direkte Aktionen hervorzubringen, Menschen zu ermächtigen und genossenschaftliche und solidarische Beziehungen zu entwickeln. Um anarchistische Organisierungsprozesse neu anzustoßen, gilt es zunächst ihre Grundgedanken ins Bewusstsein zu rufen und über sie zu reflektieren.

Der Bruch auf dem Kongress von Nantes ging weit über die bloße Trennung von den politischen Elementen hinaus, er markierte den definitiven Bruch mit dem kapitalistischen Regime.

Die Arbeiterklasse war dabei, sich autonome Organe zu schaffen, die einstweilen Kampforgane sein, aber in Zukunft genügend revolutionäre Kraft entwickeln sollten, um den politischen und Verwaltungsinstitutionen der Bourgeoisie entgegentreten und sie je nach Bedarf zerstören oder übernehmen können.“

– Émile Pouget 1905

Politische Wechseljahre: Gedanken zur Einsamkeit der Radikalität

Lesedauer: 7 Minuten

zuerst veröffentlicht in: Lirabelle #19, Mai 2019

Mit einer Art ungewolltem Moral-Appell versucht Jens Störfried auf seine Situation aufmerksam zu machen. Beschrieben werden dabei Gedanken, Wahrnehmungen, vielleicht auch „nur“ Gefühle, die ihn offenbar in einer ausgedehnten Umbruchphase beschäftigen. Der Beitrag ist auch ein Weiterdenken von einigen Aspekten der Diskussion „Dem Morgenrot entgegen?“ in der letzten Lirabelle.

Ohnehin trieb es mich aus ganz persönlichen Gründen um, über die Thematik des Älterwerdens in linken politischen Zusammenhängen und dem Hadern mit der eigenen Weltanschauung zu schreiben. Dann las ich die Diskussion in der letzten Lirabelle1 und fühlte mich bestärkt, ebenfalls einige Gedanken in diese Richtung zu formulieren.
Denn seitdem ich vor einiger Zeit die magische 30 überschritten habe, spüre ich tatsächlich auch jenen Ticking-Point, an dem viele der verbliebenen Szene-Angehörigen die Entscheidung treffen, diese hinter sich zu lassen – oder ihr Verschwinden aus dieser einfach geschehen lassen. Dazu muss ich schreiben, dass ich (noch) keine Kinder habe, für die ich Verantwortung übernehme und keine alten oder gehandicapten Menschen pflege. Zudem habe ich (noch) die Möglichkeit, mich in einem Umfeld bewegen zu können, wo ich aufgrund meiner Einstellungen, Verhaltensweisen oder Äußerungen nicht direkt ausgegrenzt oder sogar angefeindet werde. Außerdem führten verschiedene Umstände dazu, dass ich bisher wenig lohnarbeiten musste und mich stattdessen ausgiebig und zu einem guten Teil wie es mir beliebte mit Politik, Theorie und Menschen beschäftigen konnte. Anforderungen hatte ich trotzdem auch zu bewältigen, klar… Allerdings weiß ich, dass sich meine Situation mittelfristig ändern wird. Mein bisheriges Leben unterhalb oder am Rande der Armutsgrenze gewährte mir als junger Mensch zweifellos viele Spielräume. Sicherheiten habe ich dagegen bisher keine aufbauen können.
Die Erzählung vom ewigen linken Jammertal und von der angeblich alles durchdringenden „Gesamtscheiße“ lehne ich ab, brandmarke Nihilismus und Zynismus vehement als „bürgerlich“ und bin stattdessen von einer stillen, aber tiefen Hoffnung erfüllt, deren Ursachen ich gar nicht zu ergründen anstrebe. Es gab Zeiten, in denen habe ich alles zerhackt. Das war notwendig, bringt mich jetzt aber nicht mehr weiter. Eine rein negative Kritik ist nichts für mich. Und dennoch erlaube ich mir hier mein Leiden formulieren, welches aus der Diskrepanz zwischen meiner Vorstellungswelt und den mich umgebenden Tatsachen entspringt. Errico Malatesta bringt das an einer Stelle wunderbar auf den Punkt, wenn er schreibt:
„Wir sind alle gezwungen, im Widerspruch zu unseren Ideen zu leben. Ausnahmslos. Wir sind jedoch Anarchisten und Sozialisten, weil wir darunter leiden und versuchen, diesen Widerspruch so weit wie möglich zu minimieren. Wenn wir uns einfach an die gesellschaftlichen Verhältnisse anpassen, geht diese Dimension verloren und wir werden zu ganz normalen Bürgern; zu Bürgern ohne Geld vielleicht, aber nichtsdestotrotz zu Bürgern in unserem Denken und Handeln.“2

Im Artikel „Dem Morgenrot entgegen?“ ist vom wichtigen Thema der Alltags-Solidarität die Rede. Und ich weiß, dass auch Personen in meinem Umfeld sich mit diesem beschäftigen. Aber gibt es auch Gründe, warum es mir schwer fällt, mich auf diese umfangreich einzulassen. Zum einen sind da ganz individuelle Eigenheiten, Eigenbröteleien gewissermaßen, auf die ich nicht tiefer eingehen will. Sie gehen etwa in die Richtung eines hohen Bedarfs an Absprachen, eines Konfliktes zwischen Ruhebedürfnis und Gemeinschaftsorientierung oder der Angst vor gefühlten Erwartungen. Weil die meisten Personen, auf die ich mich beziehe, sehr eigen sind, ist dies nicht unbedingt ein Hindernis, sich verbindlich zusammen zu schließen. Zweitens ist für viele Menschen in meiner Umgebung ihre Lebensperspektive gleich meiner nach wie vor ungeklärt, was es mir selbst erschwert, mich langfristig zu orientieren. Immerhin scheint mir diese, meine, Orientierung an anderen ein Beleg für die Sozialität zu sein, welche Ausgangsbasis für eine stabile Gemeinschaftlichkeit wäre.
Drittens haben sich da Enttäuschungen angehäuft, die ich ebenfalls nur knapp umreißen möchte, da ich davon ausgehe, die meisten Menschen mit weiter Sehnsucht und großen Ansprüchen haben sie erlebt – nicht nur im kapitalistischen Spektakel insgesamt, sondern auch in linken Szenen selber. Da sind gescheiterte Kommunegruppen, sich verlaufende Freundschaften, auf der Stelle tretende politische Gruppen, erkaltete WG-Umfelder oder auch politische Orte, deren Betreten Unwohlsein hervorruft, weil sie mit Assoziationen von Konflikten, Leistungsdruck oder bestimmten Verhaltenserwartungen überlagert sind. Da sind die ganz persönlichen Träume und Bedürfnisse, welche enttäuscht wurden. Manche von ihnen wären vielleicht als jugendliche Schwärmerei oder Tatendrang zu bezeichnen. Damit sind sie jedoch nicht weniger berechtigt und weiterhin unerfüllt, wenn es heißt, dass wir auch – aus Notwendigkeit und Lust – für unsere Leben kämpfen…
Der vierte Grund für meine mangelnde Bereitschaft oder Fähigkeit, mich ernsthaft der Organisierung von Alltags-Solidarität zu widmen, ist anders gelagert und wiegt schwerer. Ich nenne ihn: Die Einsamkeit in der Radikalität.

Diese poetische Phrase klingt zunächst sehr abgehoben. So, als würde ich mich damit brüsten und herausheben wollen, dass ich es mir (aus ganz bestimmten Gründen!) leisten kann, radikale Ansichten zu kultivieren und dann über alle anderen zu urteilen, die meinen Vorstellungen nicht entsprechen können oder wollen. Doch mir geht es damit nicht um eine Inszenierung meiner Selbst oder etwa der Erschaffung einer „linksradikalen“ Figur, mit welcher ich den Maßstab für das aktivistische Soll festlegen möchte, gleich der realsozialistischen Leistungsnorm, die es zu erfüllen gälte. Im Gegenteil behaupte ich sogar, ein ausgeprägtes Gespür dafür zu haben, wo verschiedene Personen jeweils stehen und was ihre jeweils eigenen Möglichkeiten sind.
Die Motivation, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“, ist nichts, was vermittelt oder verbreitet werden könnte. Sie ist ungewollte Berufung. Sie entspringt dem intimsten und unbewusstesten subjektiven Leidensdruck und Gerechtigkeitsempfinden und ist daher tatsächlich Segen und Fluch zugleich – Menschen, die sie haben, kommen nicht umhin, mit ihr einen Umgang zu finden, sie abzutöten oder daran zu zerbrechen. Damit möchte ich nicht darüber hinwegtäuschen, dass es gesellschaftliche Umstände sind, die solches Empfinden hervorrufen. Weil es sich also nicht um ein existenzielles Leiden handelt, weil seine Abschaffung im Bereich des Möglichen liegt, gehört dieses abgeschafft.

Dafür aber brauche ich keine „messianischen Bilder“ wie Ümit im Interview sagt. Was ich hier formuliere, ist die vermeintlich „egozentrische“ Perspektive der „ganz großen Befreiungshoffnung“, ohne, dass ich deswegen an eine „Weltrevolution“ glaube, wie Jesaja vermuten würde. Oder, dass ich – wie Anatol – denke, eine „Revolutionshoffnung“ würde lähmen und letztendlich den Rechten „in die Hände spielen“. Solche marxistischen Vorstellungen nannte Martin Buber „apokalyptische Eschatologie“, welcher er eine „prophetische Eschatologie“ entgegensetzte3. Letztere möchte ich hiermit ausdrücklich teilen: Die Soziale Revolution ist nichts Abgehobenes, kein großer Knall, sondern ein stetiger und voraussetzungsvoller Prozess, in welchem konkrete Auseinandersetzungen geführt, solidarische Beziehungen geknüpft und neue egalitäre Institutionen aufgebaut werden. Wenn ich sage, dass dieses Ziel nicht nach der Bekämpfung des Faschismus und der Kompensierung der schlimmsten Verwerfungen des kapitalistischen Staates verwirklicht werden kann, sondern genau jenes der Weg dazu ist, formuliere ich damit kein Programm, sondern eine Perspektive. Mit dieser Anschauung ist was mich motiviert doch nicht, dass heute „einfach vieles besser geworden ist“ als in den „1950er-Jahren“, wie Tovio meint – ohne, dass ich deswegen die Erfolge sozialer Bewegungen leugnen will. Eben jene konnten mit solcher Haltung jedoch nicht errungen werden, sondern mit der Hoffnung darauf, dass es für alle nicht nur weniger kalt, sondern warm sein könnte… Wir sollten tatsächlich auf die prozesshafte Überwindung der derzeitigen Gesellschaftsordnung abzielen und gemeinsam eine neue emanzipatorische Großerzählung weben, um die schlimmsten Auswüchse der laufenden Katastrophe zu bekämpfen.

Was hat dies nun aber mit meiner persönlichen Situation, meiner „Einsamkeit in der Radikalität“ zu tun, ist berechtigterweise zu fragen. Ist sie als eine fetischisierte Revolutionsromantik abzutun, wie bei manch einem komischen Kauz Hammer und Sichel, Che Guevara oder die Straßenbarrikade, deren Nachahmung sich manche Insurrektionalistinnen, öfters eher Wutbürgerinnen in Frankreich zu errichten erlauben, sicher jedoch niemand in der BRD? Nein, wenn ich von einer gewissen Einsamkeit in der Radikalität spreche, meine ich jene Erfahrung, die schon so manchen von uns nach Leipzig, Berlin oder Hamburg gezogen hat. Die viele in die post-politischen Feier-Szenen, in die zahnlose Rechthaberei vieler linker Akademikerinnen, in blinden Aktionismus oder das dogmatische Sektierertum getrieben haben, während andere ihren als „jugendlich“ gelabelten Radikalismus einfach ablegten, vergaßen und verwässerten. Und unter „Radikalismus“ verstehe ich hier keine aufrechenbaren Taten, sondern eine Haltung zur Welt, die auf die unbedingte Veränderung des Ganzen abzielt, tief wurzelt und darum einen langen Atmen hat.

Doch wo sind die einstigen Gefährtinnen und Genossinnen geblieben, mit denen ich solche Einstellung, nein Grundhaltungen, teilte? Oder bildeten und reden wir uns nur ein, dass wir sie geteilt hätten? Ist diese Beschreibung nicht allein schon eine Idealisierung der Vergangenheit, deren Unterschied zum Heute eigentlich nur darin besteht, dass wir mutiger, spontaner und energiegeladener, weil gedankenloser und weniger enttäuscht waren? Andererseits kann ich auch konkret benennen, welche Wege verschiedene Personen meiner Ansicht nach eingeschlagen haben, ohne, dass ich sie darauf festlegen möchte. Manche sind da, die hatten und haben viel mit sich selbst zu kämpfen und sich darin ziemlich verstrickt. Darum wünsche ich mir eine radikale Politik, die zu unserer eigenen Emanzipation beiträgt anstatt uns zu entfremden. Für andere greifen ihre Jobs in Form der Lebenszeit fressenden Lohnarbeit oder jene, in denen vermeintlich Selbstverwirklichung möglich ist. Doch ich finde keinen richtigen Umgang damit, wenn Freund*innen und Bekannte von der NGO-Arbeit, Bildungs- und Unijobs oder in der Politikberatung aufgesogen werden. Denn ich merke – schon ganz ohne selbst zu urteilen -, wie sie eigentlich an ihrer eigenen Zerrissenheit, der Diskrepanz zwischen ihren früheren Vorstellungen und der Realpolitik, für die sie sich verkaufen, leiden. Schließlich gibt es bei ihnen die Sehnsucht danach, raus zu sein, etwas ganz anderes zu tun, nach geteilter Autonomie, kollektiver Selbstbestimmung und echter Verantwortungsübernahme zu streben. Bei manchen aus dem linken politischen Umfeld um mich herum zeigte sich freilich im Zweifelsfall auch, dass sie im wesentlichen nur Fragmente und Rudimente linksradikaler Überzeugungen und Gedanken aufgesogen hatten, ohne sie jemals wirklich verinnerlicht zu haben. Der Wechsel zu einem angepassten, zynischen, pseudo-politischen Lifestyle war all zu schnell vollzogen.

Was ich mir dagegen vorstelle, ist viel und nicht viel zugleich: Ich wünsche mir, dass Leute Plakate, die in den Infoladen geschickt werden, selbstständig verkleben, dass wir uns weiterhin selbstbewusst raus wagen und anlassbezogen Banner an Autobahnen drapieren, dass ein Vortrag nicht danach beurteilt wird, ob die referierende Person die richtigen Szene-Codes beherrschte, sondern, ob ihre Aussagen für die Weiterentwickelung unserer Praxis etwas taugen, dass wir erkennen, dass Demos und Kundgebungen nur ein paar Mittel in einem weiten Spektrum an Handlungsmöglichkeiten sind, dass wir unsere begrenzte Zeit nicht auf zermürbenden Plena verschwenden, sondern uns in verbindlichen Bezugsgruppen organisieren, dass wir trotz aller Vorsicht uns nicht auf ein vermeintlich sicheres Szene-Geklüngel zurückziehen, sondern offen, anschlussfähig und bewegend werden. Und schließlich, dass wir und ich sehen, dass all dies ja auch geschieht.
Damit will ich ein Lob aussprechen – ein Lob des Basisaktivismus‘, welcher Parteipolitik und NGOs fernbleibt; der zugleich aber auch das Checkertum, die Exklusivität und Coolness vieler politischer Gruppen vermeidet, sondern ernsthaft nach Gemeinsamen in der Unterschiedlichkeit sucht. Nur solche Vergeschwisterung ist es, die meine Einsamkeit in der Radikalität zu überwinden ermöglicht und dann von sich aus dahin führt, unmittelbare solidarische Beziehungen im Alltag zu gestalten. So kann ich meinen persönlichen Schwur erneuern: Dass kein Stein auf dem anderen bleiben soll. Inzwischen beginne ich zu verstehen, dass damit gemeint war, mit diesen ein neues Haus zu bauen.