Material: Im Spannungsfeld von Politik und Anti-Politik (Saul Newman)

Lesedauer: 4 Minuten

Politik ist wie viele solcher großen Wörter ein schwammiger Begriff. Ihn mit Inhalt zu füllen, ist selbst ein Prozess der politischen Auseinandersetzung. Saul Newman entwickelte in seinem Buch The Politics of Postanarchism 2010 ein geeignetes Modell, um die Spannungen insbesondere auch innerhalb anarchistischer Verständnisse deutlich zu machen. Mit einem tiefer gehenderen Verständnis der eigenen Positionen lassen sich reflektierte Handlungsmöglichkeiten ableiten. Eine Grundfrage scheint mir tatsächlich zu sein, ob Anarchist*innen politisch handeln – oder, ob sie nicht – zumindest meistens – eigentlich andere Handlungsmodi bevorzugen.

In diesem Zusammenhang gehe ich selbst von einem „harten“ „realistischen“ Politikverständnis aus. Sie bedeutet die Auseinandersetzung um verschiedene Interessen unter Bedingungen struktureller Ungleichheit (also ungleicher politischer und auch anderer Macht) in einer Gesellschaft, die antagonistisch (Kapital/Lohnarbeit, Regierende/Regierte, Hetero-Männer/andere Geschlechter usw.) gespalten ist. Zwar wird in Politik fortwährend verhandelt und werden auch Kompromisse geschlossen. Dies geschieht jedoch, um die bestehende Herrschaftsordnung grundlegend aufrecht zu erhalten. Wenn wir diese Definition annehmen, ist eine Problematisiernug von Politik aus anarchistischer Perspektive sehr verständlich. Dabei ist dass Problem selbstverständlich nicht das Wort „Politik“, sondern die politische Herrschaft, die sich in der realen Politik (ihren Institutionen, Diskursen, Personal, Ideologien) manifestiert. Newman meint, dass Politik vom Staat an sich gezogen wird – dies gilt auch für außerpalamentarische Bewegungen, die Weise, wie wir politisch denken etc.

Mit der poststruktruralistischen Denkfigur der Differenz theoretisiert Newman: Wenn wir Politik definieren, entsteht zugleich, dass Andere, das Verdrängte oder Unbewusste von ihr. Das, was von Politik ausgeschlossen wird, bezeichnet er als Anti-Politik. Diese ist aber nicht einfach „unpolitisch“, sondern definiert sich in Abgrenzung zu Politik…

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Ein postanarchistischer Ansatz zur Untersuchung sozialer Bewegungen

Lesedauer: 2 Minuten

Originaltitel: Whose streets, whose power? – Which streets, what power? – Ein postanarchistischer Ansatz zur Untersuchung sozialerBewegungen

Jonathan Eibisch // Oktober 2019

zuerst veröffentlicht in: Judith Vey, Johanna Leinius, Ingmar Hagemann (Hrsg.), Handbuch Poststrukturalistische Perspektiven auf soziale Bewegungen. Ansätze, Methoden und Forschungspraxis, Bielefeld:. transcript 2019, S. 184-197.

verfügbar open source beim Transcript-Verlag

Abstract:

Konzeption eines postanarchistischen Ansatzes

Kernidee und Perspektive des Ansatzes

Mit dem hier vorgestellten postanarchistischen Ansatz wird eine solidarisch-kritische Befragung sozialer Bewegungen auf ihren Umgang mit Macht möglich, wozu ein Denken in Paradoxien genutzt wird. Ausgangspunkt der postanarchistischen Perspektive ist, dass Akteur*innen in (emanzipatorischen) sozialen Bewegungen ein ambivalentes Verhältnis zu Macht und Herrschaft haben, welches jeweils spezifiziert und problematisiert werden kann. Postanarchistische Ansätze gehen vom Konzept einer nach Autonomie strebenden Politik aus, die damit sichtbar und theoretisierbar wird. Damit betrachten sie, wie die ethischen, organisatorischen und theoretischen Ebenen von Akteur*innen-Handeln vermittelt werden.

Zentrale theoretische Grundlagen/Arbeiten

Im postanarchistischen Ansatz werden verschiedene theoretische Denkfiguren aus poststrukturalistischen Theorien mit anarchistischen Vorstellungen und Annahmen verbunden. Einen Hauptbezugspunkt dafür stellt Saul Newman (2010) dar, weil in seinem Werk diese Verbindung nach-vollziehbar gezogen wird und damit Grundlagen für eine erneuerte politische Theorie entwickelt werden. Die Annahme eines grundlegenden Spannungsfeldes zwischen Politik und Ethik/Utopie erweist sich als plausibel, um anarchistisches Denken zu erfassen.

Anwendung: Methoden

Der Postanarchismus stellt einen theoretischen Ansatz zur Verfügung, aus welchem kein bestimmtes Methodenset folgt. Im Rahmen der entwickelten Betrachtungsweise wird die Annahme einer Kluft einerseits zwischen den Ansprüchen von bestimmten Akteur*innen und ihrem tatsächlichen Handeln, sowie andererseits zu anarchistischen Zielvorstellungen und Handlungsstrategien zugrunde gelegt.

Anwendung: Fallbeispiel

Illustriert wird der konzeptionelle Beitrag durch Erfahrungen in den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg 2017.

Anwendung: Beispiele

Richard Day mit Gramsci is dead (2005) theoretisiert die globalisierungskritische Bewegung mit einer postanarchistischen Perspektive Saul Newman verbindet in The Politics of Postanarchism (2010) verschiedene Elemente poststrukturalistischer Theorien synkretistisch mit anarchistischem Denken um einen postanarchistischen theoretischen Ansatz zu entfalten Markus Lundström arbeitet in An Anarchist Critique of Radical Democracy (2018) mit postanarchistischer Theorie, um unter anderem die »Husby Riots« von 2013 unter einem spezifischen Blickwinkel zu betrachten

Das rebellische Subjekt

Lesedauer: 10 Minuten

Originaltitel: Praktiken des Austretens und gemeinsamer autonomer Lebensgestaltung statt anarchistischer Gesellschaftsentwürfe und Programme

– wichtige Aspekte von Postanarchism (Saul Newman, 2016)

zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #92, August 2018

von Jonathan Eibisch

Der seit 2006 an einer Londoner Uni angestellte Professor der Politischen Theorie dürfte manchen Leser*innen ein Begriff sein. Immerhin prägte Newman stark den Begriff des „Postanarchismus“ mit seiner Arbeit From Bakunin to Lacan. Anti-Authoritarianism and the Dislocation of Power (2001), über Max Stirner (2011), wie auch mit dem äußerst inspirierenden anarchistischen politischen Theorie in The Politics of Postanarchism (2010). In Letzterem stellt er die interessante These auf, dass sich der klassische Anarchismus mit seiner Betonung von Ethik und Utopie bewusst nicht politisch organisiert und orientiert hätte, während der Postanarchismus darauf abziele, in das unauflösliche Spannungsfeld zwischen dieser Anti-Politik und dennoch notwendiger Politik hineinzugehen um neue Politiken der Autonomie zu entwickeln. Newman hatte 2010 geschrieben, Postanarchismus sei keine spezifische Form oder Strömung des Anarchismus mit neuen Programmen oder Richtlinien. Noch nicht einmal sei er eine bestimmte politische Theorie, sondern ein Projekt um die anarchistische Politik zu erneuern und zu radikalisieren. Dies sollte vor allem durch die Dekonstruktion verschiedener problematischer Annahmen im klassischen (= modernen) Anarchismus geschehen.1 Beispielsweise sei „Gesellschaft“ keine natürliche oder gar organische Form des Zusammenlebens, welche dem künstlichen Staat entgegen gesetzt werden könne. Zu problematisieren sind so auch weitere Annahmen der Aufklärung wie das teleologische Geschichtsbild, die (bürgerliche) Vorstellung des „autonomen“ Subjektes oder auch die Universalität von Moral und Vernunft. Schließlich kommt er zu dem Ergebnis: „Weil Anarchismus in einem unerwarteten neuen Licht erscheint, nämlich als Horizont von heutiger Politik, müssen wir seine klassischen Grundlagen auf Weisen überdenken, die zugleich seinem wesentlichen Ethos von Freiheit, Gleichheit, Anti-Autoritarismus und Solidarität treu bleiben. Mein Argument war, dass Anarchismus sich selbst etwas Neues zu lehren hat. Anarchismus ist beseelt durch einen lebendigen, atmenden ‚Geist‘ der Anarchie, welcher seine eigenen statischen Formen und fixierten Identitäten stört. Postanarchismus enthüllt diese freudvollen Moment von Anarchie innerhalb des Anarchismus und nutzt sie darüber hinaus, um das Politische und das Ethische in neuen Wegen zwischen den Zwillingspolen Politik und Anti-Politik zu denken“.2

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Emanzipatorische Subjektivierung?

Lesedauer: 18 Minuten

Originaltitel: Aber wie können und sollen sie denn nun sonst sein, eure Menschen?

– Über paradoxe Möglichkeiten emanzipatorischer Subjektivierung

Jonathan Eibisch // Dezember 2018

zuerst veröffentlicht in: Tsveyfl. Dissensorientierte Zeitschrift #2 „Anarchismus und Neomoralismus“

I Eine materialistische und subjekt-kritische Subjekttheorie als Ausgangspunkt

„Weil es kaum Jemand entgehen kann, daß die Gegenwart für keine Frage einen so lebendigen Anteil zeigt, als für die >soziale<, so hat man auf die Gesellschaft besonders sein Augenmerk zu richten. Ja, wäre das daran gefaßte Interesse weniger leidenschaftlich und verblendet, so würde man über die Gesellschaft nicht so sehr die Einzelnen darin aus den Augen verlieren, und erkennen, daß eine Gesellschaft nicht neu werden kann, solange diejenigen, welche sie ausmachen und konstituieren, die alten bleiben.“1

Faszinierend an diesem Zitat Max Stirners, des fundamentalen Kritikers der modernen bürgerlichen Subjektform, ist, dass es der landläufigen von Marx übernommenen Behauptung, er würde die ideologische Reinform des bürgerlichen Individualismus predigen und keinen Begriff von >Gesellschaft< und dementsprechend ihren sozialen Problemen haben, direkt entgegensteht. Vielmehr sieht Stirner die >soziale Frage< – heruntergebrochen die massenhafte Verelendung durch Proletarisierung in einer kapitalistischen Klassengesellschaft – als das entscheidende politische Problem seiner Zeit an. Seinen Beitrag dazu sieht er jedoch nicht etwa in der ökonomischen Analyse des Kapitalismus‘ oder Überlegungen zur politischen Organisierung der verschiedenen Gruppen von Subalternen, sondern in einer grundsätzlichen Kritik der bürgerlichen Moral und von ideologischen Moralregimen insgesamt. Denn Moral ist nun einmal immer die Moral von (allen möglichen) politischen (Herrschafts-)Projekten – und sei es von jenen, die sich auf einen aufklärerischen Humanismus („der Sache des Menschen“) oder sozialistischen Vorstellungen eines >neuen Menschen< („der Gerechtigkeit“) beziehen. Dementsprechend vollzieht sich Emanzipation – als gesamtgesellschaftlicher Vorgang – immer durch und an konkreten Einzelnen, die ihre Individualität unter äußerst ungleichen materiellen Voraussetzungen zu entfalten versuchen können. Sie gelingt nicht in Abgrenzung, nicht in hierarchischer Konkurrenz und dem Vergleich, der Ausgrenzung, Abwertung und somit nicht durch die Konstruktion von Anderen (sowie dem Ausschließen der Widerspiegelung ihrer Aspekte aus dem eigenen Selbst)2, sondern durch Betrachtung und bewusste Gestaltung der Einzigartigkeit – anstatt einer als essentiell behaupteten konstruierten individualistischen >Besonderheit<.

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Eine anarchistische Politik der Autonomie zwischen Politik und Anti-Politik

Lesedauer: 11 Minuten

Darstellung einiger Kernaspekte von Saul Newmans „The Politics of Postanarchism“ (2010)

zuerst veröffentlicht in: Paradox-A / Dez. 2017

von Jonathan Eibisch

Das Werk zur anarchistischen politischen Theorie Saul Newmans ist nun schon wieder einige Jahre alt. Obwohl ich davon ausgehe, dass diejenigen, welche an anarchistischer Theoriebildung interessiert sind und ihre Erneuerungsbewegungen verfolgen durchaus auch auf das Buch von Newman gestoßen sind und sich davon ausgehend ihre Gedanken gemacht haben, ist mir keine Besprechung des Buches auf deutsch bekannt. Ich vermute also weder der einzige noch der erste zu sein, der sich mit den Fragen beschäftigt, welche Annahmen über Politik im anarchistischen Denken bestehen, ob es überhaupt anarchistische politische Theorie gibt und welche Politikformen der Anarchismus anzubieten hat. Gleichzeitig wünsche ich mir, die Debatte darüber, vor allem in Hinblick auf eine strategische Entwicklung des Anarchismus in der BRD (anstatt nur aus reinem „Interesse“ oder als Hobby) auszuweiten und mitzugestalten. Dazu halte ich die Theorie von Newman für sehr wertvoll und durchaus geeignet, um sich darüber bewusst zu werden, was Anarchist*innen eigentlich meinen, wenn sie von „Politik“ sprechen und welche Konsequenzen für ihr Handeln sie daraus ableiten. Würde ich verschiedene Personen fragen die sich selbst als Anarchist*innen bezeichnen, so bin ich mir sicher, äußerst verschiedene und schwammige Antworten darauf zu erhalten. Ist Politik das was in staatlichen Institutionen, dem Parlament oder den Ministerien oder auch in hierarchisch strukturierten Parteien und großen Unternehmen stattfindet und ist sie deswegen aus anarchistischer Perspektive grundsätzlich abzulehnen? Oder handelt es sich um das, was wir in unseren politischen Gruppen und ganz von uns ausgehend tun wenn wir uns in Basiskämpfen engagieren, gelegentlich in der Öffentlichkeit wirken und anarchistische Ideen verbreiten und nicht zu Letzt uns zunächst erst einmal selbst gleichberechtigt und freiwillig organisieren? Ist für uns entscheidend, eine selbstbestimmte und reflektierte „Politik der ersten Person“ zu betreiben und mit Direkten Aktionen unmittelbar auf unsere Umgebung einzuwirken? Oder sollte es bei Politik vor allem darum gehen, „den Massen“ von Menschen (das heißt all jenen, die im demokratischen politischen Prozess unterrepräsentiert sind oder überhaupt nicht vorkommen) Hinweise und Fähigkeiten in die Hände zu geben, damit diese ihre Interessen selbst organisieren und artikulieren können? Unter welchen Umständen sind beispielsweise die Organisierung einer Soliparty, des kollektiven Zusammenlebens oder der Care-Arbeit als äußerst politische Angelegenheiten anzusehen und wann gibt es eher Sinn, sie explizit als weniger politisch zu bezeichnen – aber deswegen keineswegs als weniger wichtig als einen Infostand oder eine Demonstration? „Das Private ist politisch“ ist ein Slogan der „zweiten Frauenbewegung“ der 1970er Jahre der – so vermute ich – dem Politikverständnis der meisten Leser*innen dieses Textes sehr nahe liegen dürfe. Auch wenn ich diesem Ansatz grundsätzlich zustimme frage ich mich jedoch, welche Bedeutung der Begriff „Politik“ noch hat, wenn im Grunde genommen alles als politisch angesehen wird. Und ob dann der Poker und das Geklüngel um die Macht von verschiedenen kapitalistischen Fraktionen innerhalb staatlicher Institutionen noch als Politik zu bezeichnen ist oder nicht im Grunde genommen als etwas ganz anderes – zum Beispiel als „Verwaltung“ – beschrieben werden müsste… Vorstelllungen von Politik gibt es alleine im anarchistischem Denken sehr verschiedene. An dieser Stelle geht es nicht darum, festzulegen, was Politik an sich denn „eigentlich“ und noch weniger, was denn die richtige Politik ist. Vielmehr finde ich es wichtig Diskussionen darüber anzustoßen, was wir jeweils in unseren konkreten Situationen und Zusammenhängen unter Politik verstehen, wo wir sie betreiben wollen oder vielleicht gerade auch nicht.

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