CC-Lizenz von https://www.pexels.com/photo/red-withering-rose-at-daytime-136347/
Vor einer Weile erhielt ich einen wütenden Text, welcher sich gegen mich richtete und mit welchem ich vermeintlich polemisch angegriffen wurde. Da diese Diffamierung gegen mich vermutlich ohnehin irgendwo in Textform zirkulieren wird, habe ich mich entschieden, ihr zumindest an dieser Stelle entgegenzutreten.
Weil meine Antwort leider wieder mal sehr lang ausgefallen ist, werde ich diese ungefähr wöchentlich nach und nach in sieben Teilen veröffentlichen. [#1], [#2] Meine Kritik geht dabei über den UrsprungstextEin Psychogramm des post-bürgerlichen Individuums und seiner alter egosweit hinaus, um auf dahinter liegende Themen zu sprechen zu kommen.
Ansonsten ist mir schon klar, dass derartige Auseinandersetzungen letztendlich nur eine handvoll Personen interessieren. Die Zeit und Nerven wären bei vielen Tätigkeiten weit sinnvoller eingesetzt. Insofern sind meine Entgegnungen als unabgeschlossene Selbstreflexionen zu verstehen, nach denen ich mich wieder Wichtigerem zuwende. Auf Vorschlag meines Kontrahenten nenne ich diesen „Frankensteins Monster“, kurz „Framo“.
Die Argumentation von Framo ist nicht zielführend, weil sie die Absurdität einer Position offenbart, welche zombiehaft ist. Der Nihilismus mag eine philosophisch interessante Denkweise sein, offenbart sich in der Lebensrealität jedoch als Absurdität, die es zu hinterfragen gilt. Insofern ist er einer unter verschiedenen Ausgangspunkten für den Anarchismus – stellt zugleich aber auch sein Verfallsstadium dar.
Bakunin hatte Recht damit, wenn er in seiner hegelianischen Frühphase argumentierte, dass sich das oppositionelle („demokratische“) Lager nur in der Negation des „positiven“ („konservativen“) Lagers definieren könnte. Die Negation des Bestehenden schließt damit den Verweis auf die libertär-sozialistische Gesellschaftsform – welche es fortwährend zu anarchisieren gilt – in sich ein. Gleiches zeigt sich beim Wort „Protest“. Im Protest gegen eine etwas (der Abbau von sozialen Rechten, Faschismus, Atomkraftwerken, 5G-Funkmasten usw.) wird zugleich ausgedrückt, wofür ein spezifisches Projekt steht; was es realisieren will.
Anarchist*innen gehen dabei über Demokrat*innen hinaus, weil sie sich nicht als Opposition verstehen und formieren, welche danach trachtet, an anderer Stelle und bei Gelegenheit, ihre Vorstellung um- und durchzusetzen. Vielmehr verstehen sie sich als Antagonist*innen, welche sich für grundlegend andere Verhältnisse, Formen und Inhalte engagieren.
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Vor einer Weile erhielt ich einen wütenden Text, welcher sich gegen mich richtete und mit welchem ich vermeintlich polemisch angegriffen wurde. Da diese Diffamierung gegen mich vermutlich ohnehin irgendwo in Textform zirkulieren wird, habe ich mich entschieden, ihr zumindest an dieser Stelle entgegenzutreten. Da meine Antwort leider wieder mal sehr lang ausgefallen ist, werde ich diese ungefähr wöchentlich nach und nach in sieben Teilen veröffentlichen [#1]. Meine Kritik geht dabei über den UrsprungstextEin Psychogramm des post-bürgerlichen Individuums und seiner alter egosweit hinaus, um auf dahinter liegende Themen zu sprechen zu kommen.
Ansonsten ist mir schon klar, dass derartige Auseinandersetzungen letztendlich nur eine handvoll Personen interessieren. Die Zeit und Nerven wären bei vielen Tätigkeiten weit sinnvoller eingesetzt. Insofern sind meine Entgegnungen als unabgeschlossene Selbstreflexionen zu verstehen, nach denen ich mich wieder Wichtigerem zuwende. Auf Vorschlag meines Kontrahenten nenne ich diesen „Frankensteins Monster“, kurz „Framo“.
Ein wutschäumendes Mimimi erhebt sich, als der „Doktor der Anarchie“ offenlegt, wofür er sich einsetzt, wofür er steht. Ein Mensch spricht über seine Sichtweise, seinen Weg, seine Einstellungen – und macht sich damit bewusst angreifbar. Frankensteins Monster weint. Es wollte selbst das Opfer sein, um seine Täterschaft zu legitimieren. Framo ist gekränkt. Es mag nicht, wenn andere, zum Beispiel Akademacker, sich zum Anarchismus äußern. Denn es hat selbst was zu sagen. Und was es selbst sagt ist wichtig. Es hat seine Berechtigung. Und Framo kann sich nichts anderes darunter vorstellen, als das es Recht und die Wahrheit gepachtet hat.
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Vor einer Weile erhielt ich einen wütenden Text, welcher sich gegen mich richtete und mit welchem ich vermeintlich polemisch angegriffen wurde. Da diese Diffamierung gegen mich vermutlich ohnehin irgendwo in Textform zirkulieren wird, habe ich mich entschieden, ihr zumindest an dieser Stelle entgegenzutreten. Da meine Antwort leider wieder mal sehr lang ausgefallen ist, werde ich diese ungefähr wöchentlich nach und nach in sieben Teilen veröffentlichen. Meine Kritik geht dabei über den UrsprungstextEin Psychogramm des post-bürgerlichen Individuums und seiner alter egosweit hinaus, um auf dahinter liegende Themen zu sprechen zu kommen.
Ansonsten ist mir schon klar, dass derartige Auseinandersetzungen letztendlich nur eine handvoll Personen interessieren. Die Zeit und Nerven wären bei vielen Tätigkeiten weit sinnvoller eingesetzt. Insofern sind meine Entgegnungen als unabgeschlossene Selbstreflexionen zu verstehen, nach denen ich mich wieder Wichtigerem zuwende. Auf Vorschlag meines Kontrahenten nenne ich diesen „Frankensteins Monster“, kurz „Framo“.
Die Vorwürfe von Framo wiegen schwer. Ich würde mich dem Staat anbiedern, ihm Wissen von und über Anarchist*innen zur Verfügung stellen und Geld von ihm beziehen. Entweder täte ich das wissentlich – und würde damit „den“ Anarchismus verraten – oder mir wäre das nicht bewusst – dann wäre ich ein dummer Lakai.
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Vor einer Weile erhielt ich einen wütenden Text, welcher sich gegen mich richtete und mit welchem ich vermeintlich polemisch angegriffen wurde. Da diese Diffamierung gegen mich vermutlich ohnehin irgendwo in Textform zirkulieren wird, habe ich mich entschieden, ihr zumindest an dieser Stelle entgegenzutreten. Da meine Antwort leider wieder mal sehr lang ausgefallen ist, werde ich diese ungefähr wöchentlich nach und nach in sieben Teilen veröffentlichen. Meine Kritik geht dabei über den Ursprungstext Ein Psychogramm des post-bürgerlichen Individuums und seiner alter egosweit hinaus, um auf dahinter liegende Themen zu sprechen zu kommen.
Ansonsten ist mir schon klar, dass derartige Auseinandersetzungen letztendlich nur eine handvoll Personen interessieren. Die Zeit und Nerven wären bei vielen Tätigkeiten weit sinnvoller eingesetzt. Insofern sind meine Entgegnungen als unabgeschlossene Selbstreflexionen zu verstehen, nach denen ich mich wieder Wichtigerem zuwende. Auf Vorschlag meines Kontrahenten nenne ich diesen „Frankensteins Monster“, kurz „Framo“.
Doch an dieser Stelle erst einmal der Beitrag von Framo Ein Psychogramm des post-bürgerlichen Individuums und seiner alter egos. Viel Vergnügen.
Jens Kastner wies mich darauf hin, dass ich in meiner Arbeit über den anarchistischen Politikbegriff, eine meist unverstandene Leerstelle behandle, die auch Wolfgang Harich gesehen, aber nicht wirklich begriffen hätte. Aus diesem Grund schaute ich mir das Büchlein Zur Kritik der revolutionären Ungeduld (1969/1971) genauer an.
Leider wirkt diese Kritik am alten und neuen Anarchismus mit ihren Unterstellungen und Vorurteilen auch nach mehr als 50 Jahren weiter nach. Aufgrund der Schwäche der anarchistischen Szene, ihrer Diffamierung sowie der Unerkenntnis ihrer eigenen theoretischen Grundlagen prägten diese das (Miss-)Verständnis des Anarchismus in deutschsprachigen Kontext bis heute.
Ein paradigmatisches Opfer mit Stockholm-Syndrom
Um mit der Falschdarstellung des Anarchismus etwas aufräumen zu können, gilt es zunächst einen Blick auf den Autoren zu werfen. Harich wurde 1923 geboren, war Mitglied der KPD und als marxistischer Intellektueller in der DDR tätig. Als solcher positionierte er sich gegen die Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes durch die Sowjetunion (17.06.1953) und trat für einen reformierten „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ ein. Vier Jahre später wurde er deswegen zu 10 Jahren Haft verurteilt, von denen er auch acht in Bautzen absaß. Als Kompromiss, um nicht mit dem Tod bestraft zu werden, schwörte er, sich fortan staatskonform zu verhalten. Was er auch tat.
1964 wurde er entlassen und dem Akademie-Verlag zugeteilt. Später beschäftigte er sich mit ökologischen Fragen, ohne jedoch von seinem Autoritarismus abzuweichen. Fragwürdig ist deswegen, wenn er heute von Denker*innen der Postwachstums-Bewegung unkritisch wiederentdeckt wird. Als 1990 das Urteil gegen ihn nachträglich revidiert wurde, wehrte er sich dagegen und sah die Bestrafung aufgrund seiner früheren oppositionellen Äußerungen als gerechtfertigt an. Vor diesem Hintergrund verstehe ich Harich als einen ultra-orthodoxen Denker. Um sich dem System anzubiedern, dass ihn als „linken Oppositionellen“ grausam unterdrückte, verteidigte er stalinistische Praktiken noch, als sie bereits aus der Zeit gefallen waren.
Harich kann als paradigmatisch für oppositionelle Kommunist*innen im DDR-Regime und anderen Staaten des Ostblocks angesehen werden. Diese erkannten die Widersprüche des „realsozialistischen“ Systems, wiesen auf sie ganz im Sinne ihrer kommunistischen Überzeugungen hin und fielen dann dem Autoritarismus zum Opfer, den sie teilweise selbst entfesselt hatten. Anders als z.B. früher Alexandra Kollontai, die zu diesen Entwicklungen schwieg, ging Harich noch einen Schritt weiter und gelangte mit einer Art Stockholm-Syndrom zur Überspitzung des orthodoxen Marxismus-Leninismus. Damit wird verständlich, warum er im Zuge des 68er-Aufbegehrens seine Anarchismus-Kritik formuliert, weswegen es wie erwähnt bis heute gegen die Unkenntnisse und Missverständnisse des Anarchismus anzugehen gilt.
Zum Charakter der Schrift fällt Harichs Diffamierung des Anarchismus als „kleinbürgerlich“ (S. 25, 73) ins Auge, wie er seit Marx‘ Kritik an Proudhon auf langweilige Weise von autoritären Kommunist*innen fortlaufend reproduziert wird. Wie Harich selbst feststellt ist der Klassenhintergrund der Anarchist*innen äußerst divers. Dies macht anarchistische Perspektiven meines Erachtens nach auf positive Weise vielfältig. Es kann außerdem als eine unter mehreren Erklärungen dafür angesehen werden, dass anarchistische Ideologien eher durch ein Set an undogmatischen ethischen und organisatorischen Prinzipien integriert werden, als durch eine in einem bestimmten Schriftenkanon festgelegte – innerhalb desselben – kohärente Lehre. Harichs Vorwurf besteht allerdings nicht wirklich in einer sozial-strukturell erklärten Bedingung anarchistischer Theorie. Vielmehr offenbart er durch diesen seine eigenen Identitätskonflikte, welche er als Bürgerkind in einer Umgebung von Kaderpolitikern mit mehrheitlich wirklich proletarischen Hintergründen, bearbeiten muss.
Projektionen sind eben einfacher als das Eingeständnis eigener Unsicherheiten. Leider geben damals wie heute auch fundamentalistische, selbstreferenzielle Denksysteme leichter Orientierung, als ein gereiftes, reflektierendes und sich aktiv in Widersprüchen bewegendes Bewusstsein. Harichs Unentschiedenheit einerseits eine „objektiv“ fundierte Kritik formulieren zu wollen, sich aber andererseits in Pöbeleien zu verstricken, macht es zwar etwas lustiger sein Buch zu lesen. Damit zeigt sich aber auch, dass hier jemand zu Unrecht etwas zu sehr von seiner Meinung überzeugt ist.
Ein ganzes Strohpuppen-Theater
Zur Kritik der revolutionären Ungeduld ist sicherlich auch deswegen bekannt geworden, weil sie einige richtige Punkte in der 68er-Bewegung trifft. Dies tut sie allerdings in einer falschen Konstruktion anarchistischer Annahmen, die er allesamt seinem Hauptargument zuordnet, der Anarchismus sei ein diffuses und zielloses Rebellieren ohne Bezug zur Arbeiter*innenklasse und irrelevant. Er sei sogar konterrevolutionär, weil er von den eigentlichen Aufgaben ablenke. Diese bestünden in der Konzentration auf die Übernahme der politischen Macht im Staat, um mittels der Diktatur des Proletariats den Sozialismus als Vorbedingung des Kommunismus einzuführen.
Sicherlich wollten die Achtundsechziger zunächst alles sofort und duldeten keinen Aufschub, ihres angestauten revolutionären Begehrens. Falsch ist aber, dass anarchistische Theorie von einem „Umsturz“ ausgeht, wie Harich behauptet (S. 2). Wie auch im Folgenden misst der Autor den Anarchismus in seinen marxistisch-leninistischen Kategorien, was ihn eben zu einem grundlegenden Missverständnis führt, welches er nur durch Strohpuppen auf seine Argumentation hin zurechtbiegen kann. Im Anarchismus gibt es verschiedene Transformationskonzepte, welche als mutualistische Selbstorganisation und praktischer Experimentalismus,Aufstand und Subversion, autonome Bewegung und soziale Revolution benannt werden können. Da die Übernahme der Staatsmacht zum Ärger Harichs konsequent abgelehnt wird, besteht – zumindest nach der Wende zum 20. Jh. – nicht mehr die Vorstellung eines politischen „Umsturzes“ (s. Berkman 1928).
Zweitens behauptet Harich, im Anarchismus ginge es um die sofortige Verwirklichung der „schrankenlosen Freiheit des Individuums“ (S. 4), welche im Kommunismus ebenfalls ermöglicht werde, aber eben erst am Sankt-Nimmerleins-Tag. Die Aktiven der 68-Bewegung hatten begriffen, dass Emanzipation auch jene ihrer selbst sein muss. Und dies ist ein entscheidender Unterschied zu einem Apparatschik wie Harich, der sein Leben dem System unterordnet, welches in bedroht. Hinsichtlich der Befreiung der Individuen kann zurecht gefragt werden, ob es sich hierbei nicht vorrangig um das Ausleben eines bürgerlichen Freiheitsverständnisses handelt. Dies ist aber eben keine Frage, die primär den Anarchismus betrifft, in welchem der Begriff der sozialen Freiheit und von Autonomie als Organisationsprinzip ja gerade eine Brücke zwischen individuellem Engagement, kollektiver Selbstorganisation, zwischen freiwilliger Partizipation und Verantwortungsübernahme für die Gemeinschaft und Gesellschaft, geschlagen wird. Einzelne Anarchist*innen mögen als Kinder ihrer Zeit dieses Konzept und diesen Anspruch verschieden leben und umsetzen (können). Im Kontext von Harichs Schrift, handelt es sich bei seinem Argument aber um eine Unterstellung.
Harich misst den Anarchismus, drittens, in den nationalstaatlichen Kategorien, welche er aus dem ML kennt. Diese stellt für ihn einen Hauptgrund für die Erfordernis einer „Diktatur des Proletariats“ dar, welches sich eben nach innen gegen politische Reaktionäre und nach außen gegen die imperialistische Aggression kapitalistischer Staaten verteidigen müsse (S. 11). Diese Fragen haben zwar ihre Berechtigung, wenn man in der Logik eines „realsozialistischen“ Staates denkt – den Anarchismus verfehlen sie jedoch. Aus diesem Grund formuliert Harich zudem die Lüge, dass Anarchist*innen den Ersten Weltkrieg unterstützt hätten (S. 44). Dabei bezieht er sich auf das Manifest der Sechszehn, welches unter anderem von Peter Kropotkin und Jean Grave unterzeichnet wurde. Sie fordern darin, dass der Krieg gegen das Deutsche Reich nicht sabotiert werden soll, da dieser Staat die Ausgeburt staatlicher Unterdrückung sei. Der Aufruf hat verständlicherweise zu großen Verwerfungen in der anarchistischen Bewegung geführt. Denn diese verstand sich größtenteils als dezidiert anti-militaristisch, weil sie konsequent anti-national eingestellt war. Da Harich dem Anarchismus einen nationalstaatlichen Bezugsrahmen unterschiebt, welchen dieser gar nicht hat, missversteht er auch anarchistische Theorie.
Viertens bedient sich Harich der „klassischen“ Marx’schen Unterstellung, der Anarchismus sei utopistisch. In seinen Worten handelt es sich um „Wunschdenken“ (S. 12ff., 81), woraus die Strategie folge, die schlechte Wirklichkeit am guten Ideal (S. 32) zu messen und auf diese Weise zu radikalem Handeln zu motivieren, welches aber pseudo-revolutionär, diffus und diskontinuierlich bleiben müsste. Der Vorwurf trifft den Anarchismus deswegen nicht, weil die kritisierten utopistischen Aspekte in allen Strömungen des Sozialismus in unterschiedlicher Gestalt auftreten und dies umso stärker, je revolutionärer sie orientiert sind. Mit dem Stalinismus Harichs, wird die Utopie als gesellschaftliche Totalität verstanden und ihre Durchsetzung Irgendwann-Irgendwo soll die Unterwerfung und Ausbeutung gegenwärtig lebender Menschen durch eine pseudo-kommunistische und paranoide Bürokraten-Kaste rechtfertigen. Die Kritische Theorie mit ihrem Bilderverbot, als auch die Antideutschen, welche sich auf diese beziehen, stellen dazu das Spiegelbild dar: Sie verwerfen die Utopie aufgrund ihrer Brauchbarkeit für totalitäre Regime und fundamentalistische Polit-Sekten und verfallen in den Umkehrschluss, dass eine rein negative Kritik auf das wiederum total gedachte Ganzandere verweisen könnte.
Für Anarchist*innen sind dies abstruse Denkweisen. Sie distanzieren sich vom Utopismus der Frühsozialist*innen und suchen in der bestehenden Gesellschaftsform Ansatzpunkte für deren sozial-revolutionäre Überwindung. Wie Harich feststellt, aber aufgrund seines eigenen Utopismus nicht begreifen kann, denken sie hier ganz immanent (S. 81). Gleichzeitig braucht es konkrete Utopien zur Orientierung sozial-revolutionären Handelns, wozu Mittel und Wege miteinander zu vermitteln sind. „Utopie“ ist im Sinne Landauers und Rockers aber keineswegs als „Unmögliches“ oder „Irreales“ zu verstehen, sondern als verdrängte Möglichkeiten, unerfüllte Sehnsüchte und Hoffnungen, die sich gleichwohl auf Erfahrungen von real lebenden Menschen gründen. Harichs Vorwurf greift schlichtweg nicht. Und in Hinblick auf das Utopie-Verständnis, wie auch die Immanenz, gehen marxistische und anarchistische Vorstellungen tatsächlich auseinander.
An den Utopismus-Vorwurf anschließend, behauptet der Marxist-Leninist ferner, der Anarchismus funktioniere als Religionsersatz (S. 14-19). Er stelle ein quasi-religiöses Heilsversprechen in Aussicht, dass jedoch nicht auf ein Jenseits verschoben werde, sondern im Hier und Jetzt verwirklicht werden solle. Seine ausgiebige Auseinandersetzung mit der Religionskritik Ludwig Feuerbachs bestärkt ihn in dieser Annahme (S. 14). Und mit kaum einem besseren Argument hätte Harich bezeugen können, dass sein eigenes Denksystem auf unhinterfragten Setzungen beruht, die einer rationalen Begründung entzogen werden und daher quasi-religiösen Charakter annimmt. So ist es der ML, welcher auf einer apokalyptischen Erlösungsvorstellung gründet, mit welcher die Würde einzelner Menschen negiert wird. Dagegen besteht im Anarchismus in der Bezeichnung von Martin Buber (1950) ein Verständnis von prophetischer Eschatologie. Dies bedeutet, anzunehmen, dass der potenziell umfangreich zu verwirklichende libertäre Sozialismus bereits im Hier und Jetzt angelegt und konkret vorhanden ist.
Die Vorstellungswelten der Revolutionäre früherer Generationen sind häufig von religiösen Denkfiguren geprägt, weil aus religiösen Denksystemen Kategorien entlehnt wurden, mit welchen abstrakte Begriffe wie Mensch, Gesellschaft, Zeit, Wandel gedacht werden konnten. Dies lässt sich z.B. bei einem der ersten Kommunisten, Wilhelm Weitling gut sehen oder beim Frühsozialisten Henri de Saint-Simon, dessen Sozialismus-Vorstellung einen pseudo-religiösen Charakter annahm. Im Anarchismus waren einige Führungsfiguren wie Ferdinand Domela Nieuwenhuis Pfarrer, bevor sie den Sozialismus predigten. Die anarchistische Szene in den USA hat sich z.B. von den Praktiken der egalitären Gemeinschaft der Quäker beeinflussen lassen und sucht heute Inspiration in der Spiritualität der Indigenen. Dem widerspricht nicht, dass es im Anarchismus eine grundlegende Religionskritik gibt, weil diese in ihrer Funktion als Herrschaftsideologie als reaktionär angesehen wird. Sich von religiös geprägten Menschen inspirieren zu lassen oder sich darüber bewusst zu werden, dass philosophische und theoretische Traditionen mit religiösen Denkweisen verknüpft sind, bedeutet nicht im Anarchismus einen Religionsersatz zu suchen. Hingegen verharrt selbst der vermeintliche Materialismus des ML in religiösen Denkfiguren, wenn er die Reflexion über sich selbst verhindert und seine Grundannahmen mit Sankt Marx begründet, auch wenn er sich bspw. über die Rolle des Proletariats, die Überbetonung der ökonomischen Dimension und deterministische Geschichtsverläufe geirrt hat. Gut, auch Marx war laut Harich etwas übertrieben optimistisch, was die Revolution anging, doch „der“ Marxismus hätte „Gegengifte“ gegen seine eignen Übertreibungen (S. 17-19).
Das Verkennen und Erkennen des Staates als politisches Herrschaftsverhältnis
Was Harich wurmt ist der „Apolitizismus“, den er im Anarchismus zu erkennen meint (S. 31). Es wäre eben das Unverständnis von Geschichte, ökonomischen Bedingungen und der Funktionsweise von Herrschaftsinstitutionen, welche verbunden mit der „revolutionären Ungeduld“ dazu führten, Politik grundlegend abzulehnen. Im Anarchismus werde Politik als „schmutziges Geschäft“ angesehen und ihr bestimmter Charakter in einer spezifisch-historischen Gesellschaftsformation verkannt. Hierbei trifft der Autor einen Punkt, der allerdings nicht auf den Anarchismus speziell, sondern auf die Reflexe in antiautoritären Bewegungen insgesamt zutrifft. Mit ihrer Abwehrhaltung gelangen sie keineswegs zu echter Selbstbestimmung und häufig wird in ihnen das Problem der Politik umgangen, indem das Rebellionsbedürfnis auf alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche gelenkt wird, um ja keine Kämpfe auf dem politischen Feld im engeren Sinne führen zu müssen, wie Harich konstatiert.
Wenn für diesen der Anarchismus gewissermaßen die logische Verfallsform diffuser antiautoritärer Bewegungen darstellt, könnte man diese Ansicht auch positiv wenden: Ja, der Anarchismus ist die logische Konsequenz des antiautoritären sozialistischen Aufbegehrens. Weil Anarchist*innen jedoch über eigenständige Theorien und Erfahrungen verfügen, führt ihn die Verkennung der Politik tatsächlich zur Erkenntnis der Politik – und damit zu sozial-revolutionärem Handeln und dem Streben nach Autonomie. Die Bezugnahme auf Politik führe im Anarchismus zu einer Entpolitisierung. Harichs Gedanken dazu lohnt es sich ausführlicher darzustellen. Die Entpolitisierung als Konsequenz wäre
„keineswegs paradox. In der Anarchie wird politisches Verhalten per definitionem gegenstandslos sein; denn Politik, der das Merkmal der Staatsbezogenheit fehlte, wäre ein Widerspruch in sich, ein hölzernes Eisen. Wer also die Anarchie übergangslos, unter Auslassung des revolutionären Staates zu verwirklichen gedenkt, dem muß es fernliegen, einer herrschenden reaktionären, konservativen oder reformistischen Politik radikale Alternativen entgegenzusetzen, die mit ihr in dem Punkt übereinstimmen, selbst noch politischer Natur zu sein. Die Liquidation jeder Art von Politik ist für ihn die einzig akzeptable Alternative, und solange diese sich nicht realisieren läßt, wird das abstrakt-pauschale Nein zum Politischen überhaupt ihm als vorläufiger Ersatz dienen. Es ist dies der Grund, aus dem der Anarchismus einerseits den wichtigsten politischen Problemen mit einer immer wieder verblüffenden Konzeptions- und Ratlosigkeit begegnet und andererseits eine merkwürdige Vorliebe dafür hat, sich fanatisch der Revolutionierung von Lebensbereichen zu widmen, die politisch dermaßen belanglos sind, daß die regulären Parteien, welcher Richtung auch immer, sie achtlos zu übergehen pflegen oder allenfalls ein neu geheucheltes Interesse für sie übrig haben“ (S. 31).
Meiner Ansicht nach begreift Harich hier wiederum den Charakter des Anarchismus nicht. Er verfehlt ihn wie auch schon zuvor, weil er nicht in der Lage ist seine Perspektive zu wechseln und anarchistisches Denken zu begreifen. Man mag dieses teilen, sympathisch finden, durch es irritiert sein oder es grundsätzlich ablehnen. Da der Anarchismus aber eine Realität hat, die immer wieder aktualisiert wird, wäre es angemessen, ihn verstehen zu wollen. Und das tut Harich eben nur als ablehnender Beobachter, nicht aber als sympathisierender Teilnehmer der 68er-Bewegung. So ist das Politikverständnis im Anarchismus tatsächlich als paradox zu charakterisieren. Politik stellt sich in vergangenen und gegenwärtigen Gesellschaftsformen als Herrschaftsverhältnis dar, mit welchem Staatlichkeit – mit seinen autoritären, zentralisierenden, monopolisierenden und hierarchisierenden Prinzipien – in alle gesellschaftliche Bereiche übertragen wird. In der Ablehnung, Politik unter bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen zu betreiben, kommt eine zutreffende Kritik an Herrschaftsordnungen und den in ihnen als anerkannt, effektiv und legitim geltenden Praktiken, Verfahren und Logiken überhaupt zum Ausdruck. Was wiederum daraus folgt, kann sehr unterschiedlich sein, ist nicht festgelegt und darüber gibt es innerhalb des Anarchismus auch verschiedene Ansichten. Jedenfalls wird Politik zu großen Teilen als dem Staat zugeordnet und von diesem vereinnahmt angesehen. Staatlichkeit als solche wird von Anarchist*innen kritisiert und das sehr konkret und nicht pauschal, wie Harich unterstellt. Beispielsweise in Texten von Bakunin, Kropotkin, Malatesta, Most und Goldman ist immer wieder von der Differenzierung zwischen Staatsformen zu leben, weswegen ihre Kritik zurecht auch „sozialistische Staaten“ trifft.
Auch ein autoritäres Huhn findet einige Körnchen Wahrheit
Harich macht seine Position klar: In pseudo-revolutionärer Manier fordert er die Diktatur des Proletariats, als auch die mit Gewalt verbundene politische Machtübernahme des Staates, um „den“ Sozialismus als Vorbedingung des Kommunismus einzuführen. Eine Teilnahme an der Politik gebietet sich aus kommunistischer Sicht nicht, um konkrete Reformen umzusetzen, sondern, um sich auf dem politischen Feld als entscheidendem Kampfplatz als geschlossene und überzeugte Gegenhegemonie zu platzieren, welche die Herrschaft übernimmt, sobald die „objektiven Bedingungen“ reif dafür sind. Praktisch führt diese Einstellung zum politischen Klassenkompromiss zwischen kommunistischen und konservativen Parteien, wie er insbesondere in Italien und Frankreich der 60er bis 80er Jahre ausgeprägt war und wie er noch heute bei Rudimenten wie der griechischen KKE vorhanden ist. Proletarische Kämpfe degenerieren zur kauzigen Folklore und systemstabilisierenden Familienunternehmen. Sie wenden sich taktisch gegen autonome und selbstorganisierte Kämpfe von Arbeiter*innen und gegen als „opportunistisch“, „reformistisch“, „trotzkistisch“ oder eben „anarchistisch“ geschmähte konkurrierende Sozialismen. Das ist also die politische Alternative für welche Harich eintritt. Und darin erweist er sich als ultra-orthodox, weil er an den ML-Prinzipien auch dort festhält, wo sie in der praktischen Politik notwendigerweise zu Widersprüchen führen müssen. In der 68er-Bewegung sollte dieser kommunistische Parteizirkus aufgebrochen werden. (Ebenso wie übrigens auch sozial-liberale Einhegungsversuche, wie sie etwa Wilhelm Wolfgang Schütz formulierte, der die Gefahr ud Illegitimität des Anarchismus ebenfalls in dessen Apolitizismus sieht.) Doch da der Antiautoritarismus tatsächlich in vielerlei Hinsicht unbegriffener Reflex blieb, mündeten größere Teile der Bewegung wiederum im autoritären maoistischen Sektenwesen oder der skurrilen und Che-Anhängerschaft, welche Harich zurecht belächelt.
Weil auch ein autoritäres Huhn manchmal ein paar Körner Wahrheit findet, macht der Autor die zutreffende Beobachtung, dass Anarchist*innen in einer selbstgenügsamen, „verblüffenden Konzeptions- und Ratlosigkeit“ verharren und ihre Energie auf die verschiedensten gesellschaftlichen Teilkämpfe verstreuen, nur, um sich nicht um Politik kümmern zu müssen. Dies stellt ein Problem dar. Allerdings meine ich, dass jenes darin begründet liegt, dass Anarchist*innen ihre eigene Theorie zu wenig verstehen und deswegen mit ihrer Erkenntnis über den herrschaftlichen Charakter von Politik nur selten zu einer Politik der Autonomie gelangen. Diese hätte eine andere Qualität und würde es ermöglichen, auch auf dem politischen Feld hier und heute sozial-revolutionäre Kämpfe zu führen, ohne von den dominierenden Logiken, Verfahren und Praktiken darauf aufgesogen zu werden.
Erheiternd ist auch der Abschnitt über die pauschale Institutionenkritik der frühen 68-Bewegung (S. 45-64). Eine kleine Zeitreise treten die Lesenden an, wenn sie Harich in eine Radiosendung folgen. In dieser führen der tief-konservative Soziologe Arnold Gehlen und der Kritische-Theorie-Übervater Theodor W. Adorno ein Streitgespräch über die „Verunsicherung von Institutionen“. Konservative finden sie problematisch bis gefährlich, Progressive – bzw. „Liberale“, wie Harich nicht ganz ohne süffisanten Unterton meint – finden es im Gegensatz dazu gut, wenn wir dieser Verunsicherung Raum geben. Beide Lager beziehen sich auf Institutionen als solche und Verunsicherung per se, wobei sie sich auf anthropologische Grundannahmen zurückziehen, wenn ihnen die Argumente versiegen. Menschen und die Institutionen, welche sie schaffen, in ihrem spezifisch-historischen Kontext zu begreifen, mit welchem eine pauschale Ablehnung oder Befürwortung ihrer „Verunsicherung“ lächerlich erscheinen muss, gelingt weder Gehlen noch Adorno. Auch hierin hat Harich einen Punkt. Was das mit dem Anarchismus zu tun hat, bleibt aber unklar.
Auch weitere Kritikpunkt Harichs treffen zu. Die antiautoritäre Bewegung war und ist diffus und kurzlebig. Sie funktioniert häufig Affekt-gesteuert und dementsprechend auf kurzlebige und gern auch spektakuläre Events fixiert. Sie kriegt es auch in endlosen Plena nicht hin, verbindliche Entscheidungen zu fällen oder gemeinsame Grundlagen herauszuarbeiten. Darüber hinaus stimmt es nicht, dass es keine Hierarchien gibt, nur weil Menschen sich für rebellische Antiautoritäre halten und erklären. So sagt man zumindest. Und es stimmt, je nach Ort, Zeit, Gruppe, Menschen und Umstände.
Wer emanzipatorische sozialen Bewegungen aufbauen möchte, die sich ernsthaft an der sozialen Revolutionierung der Gesamtgesellschaft ausrichten, darf diese Erscheinungen nicht ignorieren. Vielmehr müssen ihre Ursachen begriffen werden, damit ihre negativen Folgen abgemildert und die ihnen innewohnenden Potenziale genutzt werden. Darüber sollten wir reden. Die Frage ist allerdings, wie das geschieht und wer aus welcher Position heraus spricht. Sollen Harich und seine ML-Genoss*innen doch ihre Meinungen haben. Den Anarchismus derart verzerrt darzustellen ist aber nicht fair, sondern ein manipulativer Zug, der mit einem instrumentellen Umgang mit Menschen korrespondiert. Dies ist das Grundproblem bei Harich von Co., nicht die abweichenden Ansichten über Geschichte, revolutionäre Subjekte, Utopie, Strategien und so weiter.
Ausformulierung des eigenen Doppeldenk
Wie schon angedeutet, betreibt Harich in seiner apologetischen Schrift eine Art Orwell’sches Doppeldenk. Während es „schizophren“ sei, wenn sich Anarchist*innen zugleich auf Politik beziehen und sie ablehnen (S. 43) (was ich bejahe, aber das zutreffendere Adjektiv paradox verwende), vermittelt der Autor kontinuierlich zwischen zwei Welten. Dies sind jene der als materialistische Realität angesehenen ökonomischen und sozialen Struktur und historischen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft einerseits und ihrem konstruiertem ideologischen Überbau, dem Marxismus-Leninismus, andererseits. In ihrem anmaßenden Irrglauben, objektive Wahrheiten erkannt zu haben und sie zu verkörpern, verselbständigt sich die marxistisch-leninistische Ideologie und baut sich selbst soweit in den Himmel, dass sie zum Wolkenkuckucksheim degeneriert. Schon alt geborene, verkrustete und vollständig Humor-befreite Funktionär*innen bevölkern diesen entlegenen Ort – fern ab von den Bedürfnissen, Sorgen, Vorstellungen und Lebenswelten real existierender Menschen. Was Harich den Antiautoritären und insbesondere den Anarchist*innen vorwirft, nämlich wirklichkeitsfern und abseits der Bevölkerung zu denken und zu agieren, trifft gelegentlich zu. Es trifft aber nicht allgemein und immer zu, sondern es gab und gibt ebenso Phasen und Orte, in denen anarchistische Gruppen ganz am Puls der Zeit waren und ein Gespür für die Stunde hatten.
Die antiautoritäre Revolte war nicht vorrangig eine von privilegierten Bürgerkindern, sondern von jugendlichen und prekär lebenden Menschen, welche verstanden hatten, dass sie in eine kapitalistische, restriktive und post-faschistische Fake-Welt gezwungen werden sollten. Von dieser Lebensrealität, die mindestens ein paar Millionen Menschen in der 60er und 70er Jahren teilten, waren kommunistische Parteikader soweit entfernt, wie irgendwie vorstellbar. Dagegen begriffen Konservative weit besser, dass die antiautoritäre Revolte in ihrer Vielschichtigkeit und dreisten Absage tatsächlich Grundfesten der bestehenden Gesellschaftsform erodierte. Wie alle Bewegungen am Puls der Zeit, reflektieren jene auch die Bedingungen der Zeit. Themen wie Sexualität, Kindererziehung, Musik- und Kleidungsstile gewinnen in Umbruchszeiten an Relevanz, weil die Gesellschaft sich weiterentwickelt und an Punkte gelangt, wo diese sich als Generationskonflikte bemerkbar machen. Anarchist*innen engagieren sich dafür, diese Bereiche alternativ zu gestalten und treten für die sexuelle Befreiung, selbstorganisierte Kinderbetreuung oder gegenkulturelle Stile ein. Dass diese bekanntermaßen ebenso kapitalistisch oder staatstragend vereinnahmt werden können, spricht eben nicht gegen ein Engagement in diesen Bereichen, sondern gerade dafür. Es ist auch nicht erst seit Ève Chaipello und Luc Boltanski (2003) bekannt.
Kein versöhnliches Ende in Sicht
Aus diesem Grund kommt schließlich selbst Harich nicht umhin, den Balanceakt zu vollziehen, es sich mit den Antiautoritären trotz seines Theorie-Gemackers und Gepöbels, nicht ganz verscherzen zu wollen. Beziehungsweise richtet er sich an seine ML-Genoss*innen und empfiehlt ihnen, sich nicht vollständig von der ihnen fremden sozialistischen Bewegung abzuwenden. So sei die „Herrschaftslosigkeit auch Endziel Marxismus“ (S. 5), wie er gleich zu Beginn deutlich macht. Man müsse mit den Aktiven der 68er-Bewegung im Gespräch bleiben, wie er im Nachwort nochmals einschärft. Immerhin seien sie im Unterschied zu den Alt-Anarchist*innen für den Marxismus empfänglich und würden von selbst darauf kommen, dass ihr zielloses Rebellieren nichts brächte. Auch hier stellt sich die Darstellung des Anarchismus als falsch heraus. Zu großen Teilen waren auch die frühen Anarchist*innen marxistischer Theorie keineswegs abgeneigt. Von Johann Most, über Carlo Cafiero, Émile Pouget zu Lucy Parsons und vielen anderen, nahmen sie diese ernst und – im Unterschied zu weltfremden Nur-Theoretiker*innen – häufig auch wörtlich.
Womit sie ein deutliches Problem hatten, war der Marxismus in Gestalt einer Ideologie zur Integration und Führung autoritärer sozialistischer Parteien. Deswegen macht sich Harich wieder einmal selbst etwas vor, wenn er behauptet, seine Kirche würde das gleiche Heilsversprechen verkaufen, wie andere sozialistische Strömungen. Dass Ziel ist nicht das gleiche, weil die Wege und Mittel im Anarchismus grundsätzlich anders konzipiert und ins Verhältnis zu den Zielen gesetzt werden. Das aber kann ein Wolfgang Harich eben nicht begreifen, weil er nicht in der Lage ist, die Prämissen seines eigenen Denksystems zu hinterfragen.
Gleiches gilt für die von Harich herauf und herunter gebetete Litanei des „Heranreifens objektiver Bedingungen“ (S. 13, 19) für die Revolution. Auch dahingehend geht der Anarchismus von einer völlig anderen Grundannahme aus. Er betreibt eine „revolution in reverse“, wie David Graeber formuliert, eine Ver-Jetzt-Zeitlichung, Ver-Inner-Weltlichung und Subjektivierung der Revolution. Wer jemals eine gesamtgesellschaftliche Revolution sehen will, muss hier und jetzt revolutionär-werden, wie es Gilles Deleuze im Einklang mit dem anarchistischen Denken formulierte. Damit werden das eigene Handeln und die eigene Orientierung revolutionär. Gustav Landauer schreibt, der Sozialismus bricht an, wenn wir ihn verwirklichen wollen. Wer daraufhin aber jeden Sex, jeden Kneipenabend, jeden Steinwurf oder jedes Herausbrüllen der eigenen Aggression als „revolutionär“ bezeichnet, hat trotzdem nicht begriffen, worum mit diesem Gedankengang geht.
Er führt nicht automatisch zu einem plumpen Voluntarismus, wie Anarchist*innen fortlaufend unterstellt wird (S. 31, 81) und welcher z.B. in der Auseinandersetzung von Bakunin mit Blanqui anarchistischerseits kritisiert wird. Diese Herangehensweise richtet sich auch nicht gegen die schlichte Tatsache, dass sozial-strukturelle und ökonomische Faktoren selbstverständlich gesellschaftliche Entwicklungen ganz wesentlich bedingen und prägen. Mit ihr wird betont, dass dies niemals ein Automatismus war oder sein wird, der auf „historischen Gesetzmäßigkeiten“ (S. 66f.) beruht. Stattdessen sind es immer konkrete Menschen, die handeln. Aufgrund bestimmter Bedürfnisse, kultureller und subjektiver Prägung können sie den Willen und Antrieb entwickeln, Gesellschaft auf bestimmte Weisen zu gestalten und zu verändern. In sozialen Bewegungen machen sie bestimmte Erfahrungen, die sie wiederum als Erzählungen weitergeben. Geschichte ist etwas, dass Menschen unter vorgefundenen Bedingungen, selbst machen, wie Marx wusste.
Statt sich im Kampf gegen Kapitalismus, Faschismus, Krieg, Klimawandel, Patriarchat oder was auch immer den Einladungen zur ML-geführten Einheitsfront anzuschließen – wie sie bis heute von den Karikaturen ihrer selbst der MLPD immer ausgesprochen werden – gilt es die Differenzen und Traditionen verschiedener emanzipatorischer Strömungen zu verstehen. Erst ihre Anerkennung ist die Grundlage für eine produktive Zusammenarbeit, wo sie sinnvoll ist und in welcher sich verschiedene Gruppierungen ergänzen können. Als gemeinsame Grundlage sieht Harich die Rätedemokratie und die Gemeinsamkeiten in den Erfahrungen historischer Kämpfe an (S. 95ff.). Wo so viel patriarchale „Gnade“ ausgesprochen wird, gilt es misstrauisch zu sein, auch wenn sie im Doppeldenk des Autoren kohärent erscheint. Ein gemeinsames libertär-sozialistisches Projekt zu formieren, verlangt, Perspektiven wechseln zu können, anstatt diffamierende Zerrbilder seiner Gegner*innen und Konkurrent*innen zu zeichnen.
Der Anarchismus hatte und hat insbesondere in Deutschland insofern einen schweren Stand, als dass seine Geschichte brutal unterbrochen wurde, seine eigene Theorie bisher zu unbekannt und unbewusst ist, seine Organisationen zu konturlos und diskontinuierlich und seine Aktionen zu diffus und kurzlebig geblieben sind. Dies ist wahr und darauf hat Harich in seiner Kritik teilweise zurecht hingewiesen. Umso mehr bedeutet dies, dass der Anarchismus zu sich selbst kommen müsste, um radikalisierender, emanzipierender, motivierender und inspirierender Faktor in sozialen Bewegungen werden zu können.
Eine Soligruppe für Gefangene hat HIER kürzlich mehrere Texte von Malatesta wieder veröffentlicht. Vermutlich, um sich vor allem zu versichern, dass sie sich gegen ach so jegliche Herrschaft positionieren. Tatsächlich kann ich der Argumentation Malatestas weitgehend zustimmen. Umso bedauerlicher, dass die Soligruppe sie ahistorisch handhabt und sich nicht bereit zeigt, ihren Gehalt zu kontextualisieren und auf die heutige Situation zu übertragen. Objektiv lässt sich durchaus sagen, dass der Krieg in der Ukraine – oder der in Syrien oder wo auch immer – nicht im Interesse des Großteils der Bevölkerung ist, sondern durch rivalisierende kapitalistische Staaten und andere autoritäre Akteure geführt wird. Anarchistisches Ziel muss es sein, dass der gegenwärtige Krieg beendet wird. Anarchistisches Ziel muss es aber eben auch sein, zu verhindern, dass Russland die Herrschaft über die Ukraine oder größere Teile von ihr erlangt, denn dies vermindert die Spielräume für soziale Kämpfe und den Grad sozialer Freiheiten und Rechte, welche die Ausgangsbedingung für etwaige zukünftige Verbesserungen – aufs Ganze gesehen, für die soziale Revolution – sind.
Die Einleitung, also das knappe Statement der Soligruppe strotzt vor romantischen Phrasen wie etwa: „Gegen die Kriege des Kapitalismus hilft nur Klassenkrieg, sozialer Krieg, Insurrektion/Aufstand und soziale Revolution. Wir haben kein Vaterland, wir sind Parias, wir werden keine eigene noch fremde herrschende Klasse verteidigen, es gilt sie alle anzugreifen und zu zerstören“. Liebe Genoss*innen ich glaube euch ja, das ihr das glaubt. Ich meine nur, dass fair wäre, dieses hochtönende Bekenntnis mit Inhalt zu unterfüttern und sich – statt sich vorrangig selbst zu versichern und in seinem Sektendasein wohlzufühlen – mit den Realitäten der russischen Invasion und des Regimes in Russland auseinander zu setzen. Dies schließt selbstverständlich dessen Stützung durch Exportabhängigkeiten, Handelsbeziehungen, geostrategische Bedrohung, die raubtierkapitalistische Ausbeutung in den 90er Jahren, die Duldung von groben Menschenrechtsverletzungen durch westeuropäische Regierungen ein.
Besonders ärgerlich ist, dass im Statement mit groben Verdrehungen und Unterstellungen gearbeitet wird. Dies verwundert nicht, denn wo grundsätzlich nicht die Bereitschaft besteht, die eigenen Dogmen zu überdenken, verfallen ihre Verfechter in Stresssituationen eben in die Ultra-Orthodoxie. Genoss*innen, die auf die eine oder andere Weise in der Ukraine gegen die russische Invasion kämpfen zu unterstützen, ist nicht das gleiche, wie den ukrainischen Staat zu unterstützen. Zumindest dem Anspruch nach auf die Selbstorganisation und die Einmischung von Anarchist*innen im Krieg zu setzen, ist nicht das gleiche, wie eine Beteiligung am Krieg zu rechtfertigen. Mit dem Herzen bei ihnen zu sein bedeutet nicht, einem höchst problematischen Militarismus und Waffenfetischismus zu verfallen. Diese Position schließt auch nicht aus, Rheinmetall zu entwaffnen und die Aufstockung des Rüstungsbudget um 100 Mrd. zu kritisieren.
Was übrig bleibt sind moralisierende Todschlagargumente, die den pseudo-religiösen Charakter der Autor*innen offenbaren. Von „Verräter*innen“, „Konterrevolution“, „Reaktion“, „Reformismus“ und „Schande“ wird da herum posaunt. Mit diesem Bauchgefühls-Geblubber werden dann jene Genoss*innen diffamiert, welche sich differenzierter mit der Situation in Russland und der Ukraine auseinandersetzen. Dabei mutet es albern an, dass die Autor*innen über kaum eine Vorstellung von „Revolution“ zu verfügen scheinen. Dies nämlich würde bedeuten, sich einmischen und aktuelle Entwicklungen mitgestalten zu wollen – in Solidarität mit jenen, die sich für die Potenziale und Spielräume freiheitlicher gesellschaftlicher Transformation engagieren.
Wer dies nicht begreift und anerkennen möchte, verachtet Menschenleben für die eigene Prinzipientreue. Wenn das „anarchistisch“ sein soll, dann gute Nacht! Eure Denkweise (inklusive den Versatzstücken leninistischer Imperialismustheorie) kommt dem Bolschewismus näher als dem Anarchismus!
Es folgen zur Dokumentation die historischen Texte zum Thema…
Vorweg erwähnt werden muss, dass das Gemecker, Gepöbel und klugscheißen in diesem Beitrag für sich genommen einige patriarchale Aspekte aufweist. Ein mehr oder weniger intelligenter, kleiner Mann beißt und kratzt einen anderen ebensolchen an. Darüber gilt es zu reflektieren, auch wenn die inhaltlichen Standpunkte und Erfahrungen verschieden sind. Insofern kann mit der Unabgeschlossenheit dieses Textes, nur ein Denkanstoß geliefert werden.
Mit dem Libertären Manifest erschien vor mittlerweile 20 Jahren ein schlechtes Buch, um die Theorie des sogenannten „Anarcho-Kapitalismus“, welche Murray Rothbard in den USA der 1970er entwickelte, in den deutschsprachigen Raum zu exportieren. Der Autor Stefan Blankertz offenbart sich darin nicht nur als Protagonist dieser skurrilen Szene, sondern ist auch Mitbegründer der neu-rechten Zeitschrift eigentümlich.frei, welche nach eigenen Angaben eine Auflage von über 8000 Stück hat.
Formuliert und legitimiert wird darin der Klassenkampf von oben, der mangels fehlender überzeugender Argumente, fortwährend in einen Hass gegen jeglichen „Egalitarismus“ verfällt, sowie rassistische und sexistische Abwertungen am laufenden Band vornimmt.
Die Verknüpfung von Marktradikalismus, Rassismus und Antifeminismus geschieht durch den ausgeprägten Anti-Egalitarismus – welcher wiederum viele Anknüpfungspunkte für das Denken der Neuen Rechten, wie es etwa Alain de Benoists formuliert, bietet. Die anti-egalitaristische Ideologie ist konsequenterweise anti-demokratisch. Und in diesem Zusammenhang sind alle überzeugten Liberalen (und seien sie bei der FDP) aufzufordern, sich von den hässlichen Auswüchsen, die an ihre Weltanschauung anknüpfen und sie radikalisieren wollen, zu distanzieren.
Diese Notwendigkeit zeigte sich bei den Konferenzen der ultra-liberalen „Students for Liberty“, die 2017 und 2018, die in den Räumen der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattgefunden hatten. Dort wurde sich nicht gescheut, gegen den angeblichen Konformitätszwang der vermeintlichen „political correctness“ zu wettern und neurechte Netzwerker wie Rainer Zitelmann einzuladen – dies selbstverständlich alles unter dem Label der „Meinungsfreiheit“, dessen sich auch Faschisten, Antisemiten und Antifeministen in den USA ausgiebig bedienen.
Derartige „alternative“ Meinungen verbreitet beispielsweise auch das Klimaleugnungs-Institut EIKE, dass nur dafür gegründet wurde, Desinformationen zu produzieren und mächtigen Unternehmen für eine Weile des Rücken vor unweigerlich anstehenden staatlichen Strukturreformen freizuhalten. Der Keim für diese unsäglichen Auswüchse ist allerdings bereits vorher, etwa bei den „Hayek-Clubs“ zu verorten.
Zweifellos wurde der „Anarcho-Kapitalismus“ in der BRD mit dem Agieren Blankertz‘ verbreitet, stößt in ihr jedoch auf einen weit verbreiteten Glauben an den Staat, der fälschlicherweise als Gegenmodell zu einem idealisierten, vermeintlich „freien“ Markt kritisiert wird. Deswegen von „Sozialismus“ zu sprechen, ist allerdings ein ungeheurer Fehlgriff in die Kiste der ideologischen Kampfbegriffe. Dennoch zieht die Erzählung, dass „die Grünen alles verbieten“ wollen würden: Das schnelle Autofahren und das billige Öl, die Zigaretten, die Witze über Ausländer und Frauen, die billigen Putzfrauen, Kindermädchen und Krankenschwestern aus dem Ausland, das subventionierte schlechte Essen der Lebensmittelindustrie, das Koksen, die Zwangsprostitution, das Anheben der Mietpreise – eben alles, was Spaß macht.
Die Welt der „Anarcho-Kapitalisten“ ist eine, in welcher privilegierte weisse Männer, sich unverblümt nehmen können, was ihnen gefällt: Arbeitskraft und von anderen produzierter Reichtum, Ruhm und Statussymbole, sexuelle Dienstleistungen und die Erfüllung ihrer größenwahnsinnigen Wünsche. Auf unvermeidlichen gesellschaftlichen Transformationsbedarf reagieren sie damit, Utopien von Privat-Städten, künstlichen schwimmenden Inseln, Krypto-Währungen und sonstigen Kram für Bonzen, zu konzipieren…. Warum also einen Beitrag über ein 20 Jahre altes, theoretisch schwaches Buch schreiben, mit welchem zwar das Niveau seiner Anhänger erreicht wird, aber sonst nicht groß etwas erreicht wird?
Nun, traurig im Fall von Blankertz ist, dass er ursprünglich vom Anarchismus kam, bevor er einen kaum bedienten Marktplatz fand. Auf diesem haben aggressive Kapitalist*innen, die sich als Opfer darstellen, eine Nachfrage an primitiven und billigen Ideologien, die Blankertz mit seiner Erfindungsgabe bedienen konnte. Man kann es nicht anders sagen: Blankertz hat sich einen eigenen Absatzmarkt für seine wirren Gedankengänge erschlossen unter Leuten, die behaupten, in der Lohnhöhe spiegele sich wirklich die Leistung eines Menschen und dementsprechend auch seinen Wert, wider – Wenn da nicht die bösen Steuern wären.
Bedauerlicherweise bedient sich der Autor des Manifests des gekränkten Mannes am Denken von Anarchisten, wie Kropotkin, Landauer, Rocker und Paul Goodman, deren Grundannahmen er sämtlich missversteht und gezielt falsch interpretiert. Auch Anthropologen wie Christian Sigrist oder Pierre Clastres werden für die Erarbeitung seiner Weltanschauung mit Neoliberalen wie Milton Friedman oder Friedrich August von Hayek in einen Topf geworfen. Und das ist ärgerlich, weil es eine eindeutige ideologische Konstruktion darstellt. Sie ist billig, schlecht und in vielerlei Hinsicht falsch, weil mit ihr die Ideologie der bürgerlichen, staatlich-kapitalistischen Gesellschaft nicht begriffen und offengelegt, sondern diese gezielt verwirrt und verschleiert wird.
Blankertz ist nicht dumm, sondern ein manipulativer Falschspieler. So geht er etwa davon aus, wirtschaftliche Beziehungen seien eigentlich „frei“ und bildeten auch die Grundlage von Gesellschaftlichkeit. Staatliche Vorgaben, Steuern, Konkurrenz-bremsende Gleichheitsforderungen, die Forderung verschiedener sozialer Gruppen nach einem gerechten Anteil am von ihnen produzierten Reichtum, sowie Moralismus, würden diese „Freiheit“ der Märkte angeblich einschränken.
Das ist eigentümlich idiotisch. Worauf die damit verbundenen Vorstellungen hinaus laufen, ist Folgendes: Proletarisierte Klassen sollen ungezügelt, ohne jeden Ausgleich, ausgebeutet werden, öffentliche Güter und Dienstleistungen sollen sämtlich privatisiert werden. Der Eigentumsschutz wird durch private Milizen vorgenommen, die Rechtsprechung durch Privatanwälte geregelt, die sich gegenseitig bekriegen. So etwas wie ein freies Mittagsessen gibt es in dieser Welt, in der alles zur Ware gemacht wird, schon gar nicht.
Soziologische, historische, ideengeschichtliche, ja selbst ökonomische, falsche Grundannahmen werden in der Szene der „Anarcho-Kapitalisten“ fortlaufend reproduziert. So wird etwa behauptet, ursprünglich „freie“ (und dadurch auch implizit vermeintlich moralisch „gute“) Märkte wären erst durch Staaten korrumpiert worden, anstatt zu begreifen, dass Märkte, Geldform und Finanzwesen von Staat oktroyiert wurden, um effektivere Kriegsführung zu ermöglichen, größere Reiche beherrschen und Metalle ausbeuten zu können.
Durch die Vermarktlichung und die Geldform wurden Menschen über Jahrhunderte vom Handel abhängig und verloren ihre Subsistenzgrundlagen. „Den“ Markt umgekehrt als „böse“ oder „schlecht“ darzustellen, wäre genau so ahistorisch und verkürzt wie die Argumentation der „Anarcho-Kapitalisten“. Anzunehmen, er wäre „neutral“ und von Staat (und auch Patriarchat) unabhängig, ist es aber ebenso.
Da dies keine Rezension ist, gehe ich nicht auf den inhaltlichen Argumentationsgang im Manifest des gekränkten Mannes ein. Diese könnte an anderer Stelle geschehen, erspare ich mir hier aber. Entweder die Lesenden werfen selbst einen Blick in das online digital verfügbare Buch – oder sie lassen es sein, weil sie daraus keinen großen Gewinn ziehen werden. Was aber mag bei Stefan Blankertz los gewesen sein und immer noch los sein, dass er sich als denkender Mensch nicht scheut, solch offensichtlichen Schund zu produzieren?
Da mag erstens der erwähnte Aspekt seines Absatzmarktes eine Rolle gespielt haben. Jede Theoretiker:in, die sich aus Interesse marginalen Themen widmet, kennt das Problem, das es schwierig ist, diese zu verallgemeinern und ihnen langfristig nachgehen zu können. So hat sich Blankertz die Fraktion einer sozialen Klasse gesucht, welche einen Ideologiebedarf hatte und dabei über Vermögen verfügte. Keine schlechte Strategie.
Zweitens scheint der Autor von einer beißenden „Staatskritik“ getrieben zu sein, die sich so auch in seinen späteren Beiträgen wiederfindet – und also ein Grundthema ist, welches ihn beschäftigt. Der Mensch wird nicht gern bevormundet und gegängelt, das ist klar. Statt „unter sich keine Sklaven [zu] haben und über sich keine Herrn“, wie es im Einheitsfrontlied mit dem Text von Bertold Brecht heißt, beschloss Blankertz offenbar den umgekehrten Weg einzuschlagen. Statt sich weiter die linken Jammerchor anzuhören, biederte er sich als Hofnarr der ökonomisch Siegreichen mit Minderwertigkeitskomplexen an.
Dies führt zum dritten Punkt, der meiner Wahrnehmung nach für Blankertz, wie für für seine Kunden, ausschlaggebend gewesen sein muss, diesen völligen Quark von „Anarcho-Kapitalismus“ zu erfinden und zu kaufen. Hinter der reflexhaften Abwehr des angeblich alles durchdringenden „Egalitarismus“ verbirgt sich letztendlich eine unbearbeitete männliche Kränkung, welche sich gegen Schwächere und Andere richtet. Als Autor dieser Zeilen kenne ich dieses Problem leider selbst.
So lässt sich beispielsweise auch fragen, warum ich diesen Text auf diese Weise formuliere und überhaupt meine, veröffentlichen zu müssen. Da will ich „meinen“ Anarchismus vor seiner ideologischen Verfälschung bewahren und deutlich machen, dass der sogenannte „Anarcho-Kapitalismus“ nichts mit dem Anarchismus zu tun hat. Doch es geht um mehr: Nicht mal bei Benjamin Tucker liessen sich direkte Anknüpfungspunkte für die AnKaps finden. Jener ist zwar für regionale freie Märkte, ganz im Gegenteil zum Marktradikalismus aber ebenfalls für Genossenschaften und Kollektivbetriebe, eingetreten.
Mit meiner Ansicht, Blankertz ganze Schrift in theoretischer Hinsicht nicht das Papier wert ist, auf das sie gedruckt wurde, habe ich recht und könnte mir die Mühe machen, sie detailliert zu begründen – was eine Frage von verfügbaren Kapazitäten und Zeit ist.
Doch letztendlich ändert dies nichts an seiner hintergründigen Motivation daran, so ein „Manifest“ zu verfassen und das Wort „libertär“ zu reklamieren, um verwirrte Geister in den eigenen ideologisch-politischen, neoliberal-aggressiven Sumpf hinein zu ziehen. Da ich Blankertz nicht kenne und also nur indirekt – auf der Ebene der ideologischen Auseinandersetzung – blöderweise mit ihm verstrickt bin, spare ich mir die Spekulation über persönliche Beweggründe, die hier auch nichts zur Sache beitragen.
Diese braucht es auch nicht, denn eine große Zahl von Männern in der patriarchalen Gegenwartsgesellschaft kennt sie und hatte an verschiedenen Punkten in seinem Leben Gelegenheit, sich damit lösungsorientiert zu beschäftigen – was allerdings zweifellos zunächst nervig und anstrengend ist.
Tatsächlich sind die Möglichkeiten und Chancen zur Reflexion über die eigene Geschlechtsidentität, die damit verbundenen Rollenerwartungen und Enttäuschungserfahrungen, in verschiedenen Milieus sehr unterschiedlich ausgeprägt.
Umso mehr könnte eigentlich angenommen werden, dass ökonomisch privilegierte Gruppen dafür eine weit bessere Grundlage haben, als etwa jene Menschen, denen sie ihre Leistungsideologie, Überstunden und Entlassungsdrohungen aufdrücken. Dass dies nicht der Fall zu sein scheint, verdeutlicht einmal mehr, dass die allermeisten Menschen an Kapitalismus, Staat und Patriarchat leiden. Tragisch ist nicht dies, sondern das jene, die es besser wüssten und könnten, diese Herrschaftsverhältnisse noch affirmieren. Sie sind der ausgesprochene, miss-gestaltete, Klassenfeind.
Wer hat das nicht schon mal gedacht oder gesagt: Dass die Linke versagt hat? Gibt man bei einer Suchmaschine die Begriffe „Linke“ und „versagen“ ein, erscheinen auf den ersten Seiten schon äußerst interessante Beiträge. Der marxistische Staatstheoretiker Bob Jessop sprach über das Versagen „der“ Linken in „der“ Krise 20121, ebenso wie der Ökosozialist Christian Zeller aktuell ein Versagen von Gewerkschaften und sozialistischen Parteien in der Corona-Krise feststellt2. In Hinblick auf die Krise in Griechenland hätte die europäische Linke versagt3 – wobei sich die Frage stellt, ob nicht die Partei SYRIZA selbst zu den optimistischen Versagern gehört. Auch der sich selbst als „Anarchist“ verstehende Liedermacher Konstantin Wecker sieht einen langen Versager-Zyklus „der“ Linken aufgrund der Durchsetzung neoliberaler Reformen4. Ein linker Populismus sei nur das Kaschieren des eigenen Versagens, meint jemand5 und auch in Österreich habe die Linke versagt und das Land „verloren“6. In Dieschwarze Republik und das Versagen der Linken (2015) meint Albrecht von Lucke, das Versagen der Linken ließe sich perspektivisch vielleicht damit gut machen, wenn es wieder die Möglichkeit einer Regierungskoalition von der LINKEN und der SPD gäbe7. Auch Roberto J. De Lapuente meint Rechts gewinnt, weil Links versagt und rechnet mit den ewigen Grundsatzdebatten, der Abgehobenheit, dem Moralismus und den inneren Widersprüchen „der“ Linken ab8. (Das wird wohl ein richtiger Insider sein.) Und selbstverständlich habe die Linke, keine Verankerung mehr in „der“ Arbeiter*innenklasse – das wissen wir ja ohnehin bereits.
Vor kurzem kritisierte Meinhard Creydt in seinem Beitrag meiner Ansicht nach zwei Tendenzen in Hinblick auf den Umgang mit der gegenwärtigen Corona-Pandemie und dem auf sie folgenden (politischen) pandemischem Ausnahmezustand: Zum einen die konformistische Revolte eines irritierenden, zugleich aber auch alt hergebrachten Bündnisses. Und zwar jenes zwischen gekränkten mittelständigen Eigentumsbewahrern und ausgeschlossenen Proletariern; zwischen gutbürgerlichen – meist christlich-fundamentalistisch geprägten – „besorgten Eltern“, die Kinder instrumentalisieren, und esoterischen Hippies; zwischen Reichsbürgern und vermeintlich „Friedens“-Bewegten; zwischen organisierten Nazis und von diffusen Ängsten geplagten Wutbürger*innen. Diese Melange findet sie in den Protesten der „Querdenker“ zusammen und zwar weniger zufällig, denn strategisch angebahnt. Ich weiss, wovon ich schreibe, denn ich konnte mir am 7.11. selbst ein Bild der Versammlung dieses kranken „Volkskörpers“ in Leipzig verschaffen.
trigger-Warnung: Der folgende Beitrag entstand in einem Moment des Auskotzens, würde ein anderes Mal vermutlich anders geschrieben werden und wurde nicht noch mal überarbeitet.
Bedauerlicherweise kam es im Bekanntenkreis erneut zu einem ernsten Fall antideutscher Regression. Also zu einem Rückfall in Annahmen und Vorstellungen, die zwar früher schon teilweise falsch waren, teilweise aber auch ihren Grund und ihre Berechtigung hatten. Zunächst einmal gilt, das mich die antideutsche Kritik sehr geprägt hat und ich das nicht missen will. „Antideutscher“ selbst wurde ich dann jedoch nie. Dazu war es mir einfach zu deutsch, die bestehende Herrschaftsordnung zu affirmieren, anderen aus einer Position theoretischer Arroganz und Überheblichkeit zu erklären, was sie richtig oder falsch machen und von Selbsthass getrieben Abwertung anderer zu betreiben. Doch neulich war ich doch sehr überrascht, dass da einige Genoss*innen offenbar spürbar hängen geblieben sind, ich regelrecht einen Rückfall wahrnehmen musste. So etwas kann passieren. Deswegen schreibe ich ein paar Zeilen dazu.