Keine Ruhe bis der letzte Diktator stirbt!

Lesedauer: 7 Minuten

Erklärung der Solidarity Collectives. Beitrag aus Sympathie und zur Dokumentation übernommen von: https://enough-is-enough14.org

Solidarity Collectives“ (früher „Operation Solidarity„) ist ein antiautoritäres Netzwerk von Freiwilligen, das vor der groß angelegten russischen Invasion in der Ukraine gegründet wurde, um Genoss*innen an der Front und der vom Krieg betroffenen Zivilbevölkerung zu helfen. „Collectives“ ist nicht nur ein Name, sondern die Essenz unserer Initiative, der sich verschiedene Organisationen und Gruppen aus der Ukraine, Deutschland, Polen, Frankreich, den USA, den Niederlanden, Kanada und vielen anderen Ländern angeschlossen haben.

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Machnowschina 2.0?

Lesedauer: 3 Minuten

Seit langem nahm ich wieder einmal die Gitarre in die Hand und spielte das Lied der Machnowschina. Die ukrainische Bauern- und Arbeiterarmee kontrollierte zwischen 1918 und 1922 ein Drittel der heutigen südöstlichen Ukraine. Vor 100 Jahren wurde sie besiegt, ihre Anhänger*innen verstreut, inhaftiert, gefoltert und getötet. Dies maßgeblich von der roten Armee unter Trotzki. Genau jenes Gebiet ist auch heute schwer umkämpft. Die Auseinandersetzung findet jedoch nicht mehr zwischen der „weißen“ Armee des Zarenreiches, den westlichen Kolonialarmeen, der roten Armee und den Anarchist*innen statt, sondern zwischen den alten kapitalistischen Staaten des Westens und dem neueren staatlichen Kapitalismus Russlands. Da ist kein Lager, welches die Besitzenden enteignet, Land und Produktionsmittel umverteilt und die autonome Selbstverwaltung der Kommunen umsetzt.

Man kann die Machnowschina dahingehend kritisieren, dass ihre Anführenden Säufer waren und ihre Kämpfer vermutlich ebenfalls vergewaltigten, wie Volin im dritten Buch von Die unbekannte Revolution beschreibt. Im Übrigen erscheint auch aus diesem Grund die angeblich straighte Linie des späteren „Plattformismus“ fragwürdig. Wer vehement strenge Prinzipien und Disziplin fordert hat nicht zuletzt Angst vor der eigenen Verrohung, Unzuverlässigkeit und Verwirrung. Solche Kritik ist zu üben – und dennoch zu beachten, worin die Unterschiede bestehen im Vergleich zu regulären Armeen oder auch Verwaltungsapparaten diktatorialer und imperialer Nationalstaaten. Dass zahlreiche Menschen sich aus eigenem Antrieb erhoben und gegen die Fremdherrschaft – und damit auch gegen den sowjetischen Herrschaftsanspruch – kämpften ist jedoch ein Phänomen, welches auf einem ganz anderen Blatt steht.

Nestor Machno hatte unrecht. Die Anarchist*innen waren nicht zu schlecht organisiert und uneinheitlich, zu unverbindlich und zu pluralistisch. Sie waren vielmehr „zu“ anarchistisch organisiert und orientiert. Und diese Strukturen sind eben nicht auf die Beherrschung von Territorien und die Unterwerfung der Bevölkerung ausgerichtet, wie jene imperialer Nationalstaaten. In der militärischen Auseinandersetzung, der bürokratischen Verwaltung und der ideologischen Kriegsführung können sie daher auf lange Sicht nicht gegen effektive Herrschaftsordnungen bestehen. Ihre Vorzüge liegen allerdings in anderen Bereichen, weswegen nicht prinzipiell ausgeschlossen ist, dass sich ein großer Teil der Menschen eines Tages doch davon überzeugen lässt – was freilich wiederum Siege in Auseinandersetzungen zur Voraussetzung hat.

Dennoch war die Machnowschina zunächst enorm erfolgreich und bediente sich unter anderem mit als erste Armee der Bahn als unschlagbar schnelles Fortbewegungsmittel für die Truppenbewegung. (Der erste Krieg, in welchem die Eisenbahn eine Rolle spielte war jener zwischen Preußen und Österreich 1866). Ironischerweise wirkt dies wie eine Parallele zur heutigen Situation, die tatsächlich aber eine ganz andere ist. Das russische Regime ist weder das Zarenreich, noch die Sowjetunion, ebenso wenig wie die westlichen Mächte im alten Sinne Kolonialmächte sind. Weitergedacht könnte man damit auch die Frage aufwerfen: Wenn es heute keine anarchistische Machnowschina gibt und aufgrund historischer Umstände auch nicht geben kann, welche Rolle spielen Anarchist*innen dann heute? Am Beispiel: in der Ukraine. Übertragen und erweitert gedacht aber genauso in anderen Gegenden. Begreifen sie sich als eigene Macht, als eigene Strömung mit dem Anspruch Territorien, Diskurse, zumindest Subkulturen und Stadtviertel zu dominieren? Oder bleiben sie dem Sektenwesen oder der Selbstbezüglichkeit von Szenen verhaftet? Wollen und können sie zu einem eigenständigen und initiativer Akteur werden? Oder bleiben sie vor allem Getriebene von Faschismus, repressivem Klassenstaat, rechtem Zeitgeist und neoliberaler Elite?

Einen Versuch war und ist es wert. Deswegen ohne jede Verklärung hier der französische Text des im Exil geschriebenen Liedes zur Machnowschina:

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Prinzipienreiter*innen mit Selbstbestätigungsfilm

Lesedauer: 23 Minuten

Eine Soligruppe für Gefangene hat HIER kürzlich mehrere Texte von Malatesta wieder veröffentlicht. Vermutlich, um sich vor allem zu versichern, dass sie sich gegen ach so jegliche Herrschaft positionieren. Tatsächlich kann ich der Argumentation Malatestas weitgehend zustimmen. Umso bedauerlicher, dass die Soligruppe sie ahistorisch handhabt und sich nicht bereit zeigt, ihren Gehalt zu kontextualisieren und auf die heutige Situation zu übertragen. Objektiv lässt sich durchaus sagen, dass der Krieg in der Ukraine – oder der in Syrien oder wo auch immer – nicht im Interesse des Großteils der Bevölkerung ist, sondern durch rivalisierende kapitalistische Staaten und andere autoritäre Akteure geführt wird. Anarchistisches Ziel muss es sein, dass der gegenwärtige Krieg beendet wird. Anarchistisches Ziel muss es aber eben auch sein, zu verhindern, dass Russland die Herrschaft über die Ukraine oder größere Teile von ihr erlangt, denn dies vermindert die Spielräume für soziale Kämpfe und den Grad sozialer Freiheiten und Rechte, welche die Ausgangsbedingung für etwaige zukünftige Verbesserungen – aufs Ganze gesehen, für die soziale Revolution – sind.

Die Einleitung, also das knappe Statement der Soligruppe strotzt vor romantischen Phrasen wie etwa: „Gegen die Kriege des Kapitalismus hilft nur Klassenkrieg, sozialer Krieg, Insurrektion/Aufstand und soziale Revolution. Wir haben kein Vaterland, wir sind Parias, wir werden keine eigene noch fremde herrschende Klasse verteidigen, es gilt sie alle anzugreifen und zu zerstören“. Liebe Genoss*innen ich glaube euch ja, das ihr das glaubt. Ich meine nur, dass fair wäre, dieses hochtönende Bekenntnis mit Inhalt zu unterfüttern und sich – statt sich vorrangig selbst zu versichern und in seinem Sektendasein wohlzufühlen – mit den Realitäten der russischen Invasion und des Regimes in Russland auseinander zu setzen. Dies schließt selbstverständlich dessen Stützung durch Exportabhängigkeiten, Handelsbeziehungen, geostrategische Bedrohung, die raubtierkapitalistische Ausbeutung in den 90er Jahren, die Duldung von groben Menschenrechtsverletzungen durch westeuropäische Regierungen ein.

Besonders ärgerlich ist, dass im Statement mit groben Verdrehungen und Unterstellungen gearbeitet wird. Dies verwundert nicht, denn wo grundsätzlich nicht die Bereitschaft besteht, die eigenen Dogmen zu überdenken, verfallen ihre Verfechter in Stresssituationen eben in die Ultra-Orthodoxie. Genoss*innen, die auf die eine oder andere Weise in der Ukraine gegen die russische Invasion kämpfen zu unterstützen, ist nicht das gleiche, wie den ukrainischen Staat zu unterstützen. Zumindest dem Anspruch nach auf die Selbstorganisation und die Einmischung von Anarchist*innen im Krieg zu setzen, ist nicht das gleiche, wie eine Beteiligung am Krieg zu rechtfertigen. Mit dem Herzen bei ihnen zu sein bedeutet nicht, einem höchst problematischen Militarismus und Waffenfetischismus zu verfallen. Diese Position schließt auch nicht aus, Rheinmetall zu entwaffnen und die Aufstockung des Rüstungsbudget um 100 Mrd. zu kritisieren.

Was übrig bleibt sind moralisierende Todschlagargumente, die den pseudo-religiösen Charakter der Autor*innen offenbaren. Von „Verräter*innen“, „Konterrevolution“, „Reaktion“, „Reformismus“ und „Schande“ wird da herum posaunt. Mit diesem Bauchgefühls-Geblubber werden dann jene Genoss*innen diffamiert, welche sich differenzierter mit der Situation in Russland und der Ukraine auseinandersetzen. Dabei mutet es albern an, dass die Autor*innen über kaum eine Vorstellung von „Revolution“ zu verfügen scheinen. Dies nämlich würde bedeuten, sich einmischen und aktuelle Entwicklungen mitgestalten zu wollen – in Solidarität mit jenen, die sich für die Potenziale und Spielräume freiheitlicher gesellschaftlicher Transformation engagieren.

Wer dies nicht begreift und anerkennen möchte, verachtet Menschenleben für die eigene Prinzipientreue. Wenn das „anarchistisch“ sein soll, dann gute Nacht! Eure Denkweise (inklusive den Versatzstücken leninistischer Imperialismustheorie) kommt dem Bolschewismus näher als dem Anarchismus!

Es folgen zur Dokumentation die historischen Texte zum Thema…

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Krieg in der Ukraine: Zehn Lehren aus Syrien

Lesedauer: 15 Minuten

Im Exil Lebende Syrer*innen über die Frage, wie ihre Erfahrungen den Widerstand gegen die Invasion beeinflussen können

Ein Kollektiv von Leuten aus Syrien entwickelt in diesem Text eine sehr wichtige Perspektive, die über die Seite von CrimethInc verbreitet wurde. Ich teile die darin entwickelten Positionen und habe wir auch die Wochen vorher aktuell nicht das Bedürfnis hierbei eigene Meinungen hinzuzufügen...

von: https://de.crimethinc.com/2022/03/07/krieg-in-der-ukraine-zehn-lehren-aus-syrien-im-exil-lebende-syrerinnen-uber-die-frage-wie-ihre-erfahrungen-den-widerstand-gegen-die-invasion-beeinflussen-konnen

Im März 2011 brachen in Syrien Proteste gegen den Diktator Bashar al-Assad aus. Assad ging mit der ganzen Macht des Militärs gegen die daraufhin entstandene revolutionäre Bewegung vor – doch eine Zeit lang schien es möglich, dass diese seine Regierung stürzen könnte. Dann griff Wladimir Putin ein und ermöglichte es Assad, zu einem enormen Preis an Menschenleben an der Macht zu bleiben, und sicherte der russischen Macht in der Region ein Standbein. Im folgenden Text reflektieren ein Kollektiv im Exil lebender Syrer*innen und ihre Gefährt*innen darüber, wie ihre Erfahrungen mit der syrischen Revolution in die Arbeit zur Unterstützung des Widerstands gegen die Invasion in der Ukraine und die Antikriegsbewegung in Russland mit einbezogen werden können.

In den letzten Monaten wurde so viel Aufmerksamkeit auf die Ukraine und Russland gerichtet, dass mensch leicht den globalen Kontext dieser Ereignisse aus den Augen verliert. Der folgende Text bietet eine wertvolle Reflexion über Imperialismus, internationale Solidarität und das Verständnis der Nuancen komplexer und widersprüchlicher Kämpfe.

Porträts von Putin und Assad schauen zu, während bewaffnete Soldaten in den Trümmern Syriens patrouillieren.

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Die Sonne, der Krieg, die Bibliothek

Lesedauer: 8 Minuten

– Sorel betritt den Raum durch die Hintertür

Es kommt mir vor als würde ich auf den letzten Metern aus einem langen Winterschlaf erwachen. Der Frühling kommt, die Welt steht in Flammen und ich pfeife auf meinem Fahrrad auf dem Weg zur Bibliothek. Das müssen die Hormone sein. Täglich vernichtet die von Menschen gemachte mehr oder weniger anonyme, doch sehr konkret spürbare Herrschaftsordnung das Leben auf diesem einzigartigen Planeten. Ich denke an einen Menschen, den ich wohl etwas begehre – aber ich weiß noch nicht wie, warum, wozu – und freue mich, solches Begehren überhaupt noch oder wieder empfinden zu können.

Derweil zerfetzen Projektile Leiber in der Ukraine und explodieren Raketen in Wohnhäusern, Krankenhäusern und Einkaufszentren. Nicht so weit weg. Nicht so weit weg von mir. Doch das waren Syrien und Afghanistan auch nie. Eben mal wird die Militarisierung der deutschen Gesellschaft postdemokratisch beschlossen und durchgewunken. Die Stimmung ist gut um den Nationalstaat zu erneuern. Die Leute besoffen vor humanistischem Geseiere und Hilfsbereitschaft in Fahnenmeeren – als Kompensation der Leidenschaften, welche die Politik der Angst in ihnen einpflanzt und auslöst. Im Herzen der Bestie Kratos steht der Militärapparat und pure Gewalt zerschmettert das nackte Leben. Darin gleichen, ergänzen und stützen sich Staat, Kapitalismus und Patriarchat: Dass sie Leben verdinglichen, bewerten, hierarchisch anordnen und im Zweifelsfall vernichten können.

Was ist denn los? Wie kann die Sonne nur wieder so wunderbar scheinen? Ich bin ein Kind dieser Welt und die Hälfte meines kurzen Lebens, dieses chaotisch-träumerisch-sensiblen Windhauchs, ist bereits vorbei – wenn ich Glück habe. Und das habe ich. Denn ich lebe im privilegierten Teil dieser Welt und habe lange Zeit eigene Strategien gefunden, mich so gut es ging den Zumutungen dieser grausamen Realität aus Lohnarbeit, Unterwerfung und Schlachterei zu entziehen. Ich kenne Menschen, die darauf verweisen, dass es Entwicklungen zum Positiven hin gibt. Und das schätze ich, weil es in unserem Potenzial liegt die gesellschaftlichen Verhältnisse grundlegend zu verändern. Um die Enteignung und Vergesellschaftung des Reichtums werden wir dabei aber nicht herum kommen. Wie zu allen Herrschaftszeiten erzürnt dies das progressive Bürgertum in seinen moralisch aufgeladenen Debatten um die Weltverbesserung.

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