Das Soziale und die Gemeinschaft gestalten

Lesedauer: 5 Minuten

(Anti-)Politik im mutualistischen und kommunitären Anarchismus

zuerst veröffentlicht in: Contraste. Zeitschrift für Selbstorganisation #459

Was viele von uns motiviert, ist die Sehnsucht nach einem guten Leben für alle in friedlicher und kooperativer Koexistenz. Damit brauchen wir nicht bescheiden umzugehen. Um dies zu realisieren, gilt es die herrschaftliche Gesellschaftsform, in der wir leben, grundlegend zu verändern. Mit diesem großen Anspruch nehmen wir uns selbst ernst und bleiben auf der Suche, anstatt uns in alternativen Blasen unter Gleichgesinnten einzurichten. Mit dem folgenden Beitrag möchte ich einige Erkenntnisse aus meiner intensiven Beschäftigung mit anarchistischer Theorie weitergeben, um zur Reflexion und Diskussion über alternative Praktiken und Strategien anzuregen.

Die sozialistische Bewegung entstand als Graswurzelbewegung. Erst im letzten Drittel des 19. Jh. wurden sozialistische Parteien gegründet und der sozialdemokratische Weg politischer Reformen sowie der autoritär-kommunistische Weg der politischen Revolution beschritten.

Dagegen richtete sich der Anarchismus als dritte Hauptströmung im Sozialismus. Einerseits glaubten seine Anhänger*innen nicht an die Reformierbarkeit sozialer Missstände innerhalb des politischen Systems des bürgerlichen Staates, welcher von kapitalistischen Interessen dominiert wird. Andererseits haben Anarchist*innen unter anderem in Frankreich bei den Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 sowie bei der Niederschlagung der Kommune-Bewegung 1871 wiederholt die Erfahrung gemacht, dass eine Revolution, die auf die Übernahme der Staatsmacht abzielt, letztendlich zur Erhaltung und Erneuerung der Herrschaftsordnung führt. Deswegen kritisieren sie die Form der politischen Partei als autoritär, zentralistisch und hierarchisch und damit als der Herrschaftsordnung zugeordnet, welche sie überwinden wollen. Stattdessen setzen sie auf freiwillige, dezentrale und autonome Netzwerke, mit denen sie eine Gegen-Gesellschaft aufbauen wollen.

Der Streit um diese unterschiedlichen Analysen und Strategien, drückt sich auch in der anarchistischen Ablehnung von »Politik« aus. Argumentiert wird, dass es gar nicht effektiv, sinnvoll und emanzipatorisch sei, wenn Sozialist*innen sich auf das politische Feld begeben und sich politischer Mittel bedienen. Stattdessen sollten sie sich weiterhin selbst organisieren, freiwillig zusammen schließen und außerhalb der etablierten politischen Rahmenbedingungen betätigen.

Das Soziale und die Gemeinschaft als Bezugspunkte

Politisch ist nicht gleich staatlich. Das Problem ist aber, dass der moderne Staat versucht, alle politischen Bestätigungen zu vereinnahmen, zu regulieren und zu verstaatlichen, anstatt Menschen selbstbestimmte Lösungen suchen und umsetzen zu lassen. Auch die sogenannte »Zivilgesellschaft« wird auf diese Weise vom Staat kon­struiert und ihm zugeordnet. Gleichzeitig glauben die meisten Menschen unter dem Einfluss der Herrschaftsideologie, nur wenn ihre Aktivitäten politisch ausgedrückt werden (Gespräche mit Politiker*innen, Medienaufmerksamkeit, Aufgreifen der Forderungen durch Parteien, entsprechende Gesetze usw.) wären sie relevant und könnten erfolgreich sein. Deswegen wollen häufig auch viele Aktive in sozialen Bewegungen diese politisch ausrichten. Politik funktioniert auf diese Weise in der Gegenwartsgesellschaft als ein staatliches Herrschaftsverhältnis, das es grundlegend zu kritisieren und zu dem es Alternativen zu suchen gilt.

Die anarchistische Kritik am Politikmachen ermöglicht es, anderen Handlungsmöglichkeiten nachzugehen. Als anti-politische Bezugspunkte in verschiedenen Ausprägungen des Anarchismus können die Individuen (Individualanarchismus), die Gesellschaft (anarchistischer Kommunismus), die Ökonomie (Anarch@-Syndikalismus) und eine Projektion von ultimativer »Freiheit« (Insurrektionalismus) beschrieben werden. Für die Lesenden der CONTRASTE scheinen mir dabei die Vorstellungen, die auf das Soziale abzielen (Mutualismus) und Ansätze, die auf die Gemeinschaft (Kommunitarismus) fokussieren am bedeutendsten zu sein. Letztendlich vermischen sich diese verschiedenen Ansätze und damit verbundenen Praktiken und Stile in anarchistisch beeinflussten Szenen häufig.

Mutualismus bedeutet »Gegenseitigkeit« und zielt darauf ab, mit freien Vereinbarung zwischen Einzelnen oder Gruppen kooperative Beziehungen herzustellen, statt sich in aufgezwungene Ausbeutungs- und Rechtsverhältnissen zu begeben. Trotz berechtigter Kritik an seinem Sexismus und Antisemitismus ist Pierre-Joseph Proudhon als Vordenker dieses Konzepts zu nennen. Michael Albert kann zum Beispiel als ein zeitgenössischer Vertreter gelten. Auch wenn die vereinzelnde Massengesellschaft es ihnen erschwert, sozial eingebunden zu sein, befinden sich die meisten Menschen in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen. Diese sozialen Beziehungen sind nicht in jedem Fall für alle Beteiligten gelingend, wohltuend oder genügen emanzipatorischen Ansprüchen. Dennoch lässt sich hier ansetzen, damit Menschen sich selbst organisieren und aktiv den sozialen Raum gestalten, in den sie eingebunden sind.

Gedanken zum kommunitären Anarchismus wurden insbesondere von Gustav Landauer formuliert und werden aktuell von John P. Clark weitergedacht. Im Sinne der Lebensreformbewegungen geht es darum, mit jenen anzufangen, welche einen Drang nach Veränderung der Gesellschaft und ihres eigenen Lebens spüren. In alternativen Gemeinschaften werden sozialistische Organisationsformen und Beziehungen vorweggenommen, um so auf experimentelle Weise und mit offenem Ausgang ein neues Beginnen zu wagen. Diese Gemeinschaften können Kommune-Projekte sein, wo die Mitglieder ihr gesamtes Leben teilen, sich aber genauso in Gegen-Kulturen finden, in denen sich Menschen durch ihren Protest, eigene Stile und utopische Vorstellungen verbunden fühlen. Wenn die entsprechenden Gruppen nach außen wirksam werden, geben sie damit wichtige Impulse in ihre Umgebung, ohne anderen ihre Vorstellungen aufzuzwingen.

Der anarchistische Mutualismus und Kommunitarismus gehen tatsächlich häufig ineinander über. Ihre Befürworter*innen interessieren sich nicht besonders für »die« Revolution im Sinne eines großen »Umsturzes«. Wenn es zu einer spürbaren Veränderung des derzeitigen Gesellschaftssystems kommt, gehen mutualistisch und kommunitär eingestellte Anarchist*innen nicht davon aus, dass sie dies großartig beeinflussen könnten oder darauf hinwirken müssten. Was sie aber durchaus tun, ist neue soziale und gemeinschaftliche Institutionen und Beziehungen zu entwickeln. Denn je umfassender Menschen im Sozialen selbst organisiert sind, in Gemeinschaften ihre Leben teilen und dabei sozialistische Werte wie Gleichheit, soziale Freiheit, Solidarität, Vielfalt und Selbstbestimmung leben, desto eher unterscheidet sich eine neue Gesellschaftsform von der vorherigen und gewinnt eine andere Qualität. Was wir heute aufbauen, weist bereits die Richtung in eine erstrebenswerte Zukunft und wenn diese eintritt, ist sie nur so schön, wie das, was wir bereits verwirklicht haben.

Stärker als bei anderen anarchistischen Ansätzen liegt hinter dieser Herangehensweise ein Vertrauen in die soziale Evolution der Gesellschaft. Das bedeutet, dass Menschen, die selbstorganisiertes Soziales und rebellische Gemeinschaften stiften, pflegen und gestalten, auf lange Sicht grundlegende Veränderungen bewirken können. Es stimmt dabei, dass dem eine Herrschaftsordnung entgegensteht, in welche viele Menschen zutiefst verstrickt und verhaftet sind, die sie vereinzelt, ihre Vorstellungskraft beschränkt, ihre Hoffnung zerstört, welche in vielerlei Hinsicht auf Gewalt beruht und gewaltsam aufrecht erhalten wird. Aber letztendlich stellt sich für uns die Frage, wie wir leben wollen und was wir im Rahmen unserer Möglichkeiten tun können, um grundlegende Veränderungen zu bewirken.

In Distanz zur herrschenden Politik andere Wege gehen

Anarchist*innen gehen dabei davon aus, dass erstrebenswerte solidarische, gleiche und freiheitliche Verhältnisse parallel zu jenen der dominanten Herrschaftsverhältnisse bestehen und ausgeweitet werden können. Statt dem Staat können sich Menschen in Föderationen freiwilliger, autonomer Kommunen organisieren; statt dem Kapitalismus dezentrale sozialistische Wirtschaftsformen wie Kollektivbetriebe, Genossenschaften, regionalen Wirtschaftskreisläufe etc. einrichten. Auch zu Patriarchat, weißer Vorherrschaft und Naturbeherrschung gibt es lebenswerte Alternativen.

Ein theoretischer Baustein, um dies zu denken, besteht darin, eine kritische Distanz zu dem aufzubauen, was alltagsweltlich und fachgemäß unter »Politik« verstanden wird. Damit geht es darum, außerhalb vorgefertigter Bahnen zu denken, sich auf die Vielen zu beziehen, welche gar nicht im politischen Prozess repräsentiert oder mitgedacht werden, und zu hinterfragen, was uns als effektiv, wirksam und sinnvoll präsentiert wird. »Politik« ist ein Begriff, der mit allen möglichen Bedeutungen aufgeladen und in seiner Definition hochgradig umstritten ist. Viele Anarchist*innen beschäftigen sich offensichtlich viel und kritisch mit dem, was politisch geschieht. Wenn wir darüber nachdenken, weisen unsere Vorstellungen und Gefühle in Bezug auf »Politik« allerdings darauf hin, dass oftmals ziemlich unklar ist, was wir tatsächlich meinen, wenn wir von »der« Politik sprechen.

Trotzdem werden wir die Beschäftigung mit Politik nicht ganz los. Und zwar aus dem Grund, weil die zahlreichen kleinen Projekte, welche im mutualistischen und kommunitären Anarchismus hervorgebracht werden, rasch dazu tendieren können, zu Selbstzwecken zu werden. Jede*r die*der in Kollektivbetrieben, Genossenschaften, Hausprojekten etc. involviert war oder ist, kennt das. Wie schnell verlieren wir aus dem Blick, weswegen viele von uns eigentlich darin aktiv sind: Weil wir etwas anderes schaffen und aufbauen wollen – gegen den Trend der Zeit, gegen den Zwang und die Zerstörung, welche mit der Herrschaftsordnung einhergehen. Daher gilt es, dass wir unsere Aktivitäten in den verschiedenen kleinen Projekten auf das große Ziel der Gesellschaftsveränderung insgesamt ausrichten; dass wir uns sozial-revolutionär orientieren. Dies bedeutet, sich nicht in eine Szene zurückzuziehen, sondern selbstbewusst mit den eigenen Sehnsüchten, Vorstellungen und Erfahrungen nach außen zu treten, um andere davon zu überzeugen. Damit können wir auch die Frage aufwerfen, wie eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform politisch organisiert wird. Wir können dabei bereits auf Konzepte der Rätedemokratie, der Gegenmacht und auf eigene Erfahrungen mit kommunaler Selbstorganisation zurückgreifen und durch sie unser Verhältnis zu gegenwärtiger Politik besser bestimmen.

Abgleich von „Beziehungsweise Revolution“ und dem kommunitären Anarchismus

Lesedauer: < 1 Minute

Markus Riepenhausen hat eine wie ich finde sehr interessante Hausarbeit mit dem Titel „Zur Kontinuität der libertären Gemeinschaft.
‚Beziehungsweise Revolution‘ im Lichtstreif des kommunitären Anarchismus“
geschrieben, die ich hier gerne zur Verfügung stellen möchte. Also zunächst einen großen Dank an ihn für das Zurverfügungstellen derselben. Die Arbeit bleibt damit geistiges Eigentum des Autoren und darf als solche zitiert werden. (Namensnennung-Nicht kommerziell CC BY-NC)

Markus beschreibt den kommunitären Anarchismus, in Anschluss an Gustav Landauer, Martin Buber und John P. Clark als eine Variante oder Tendenz des Anarchismus, mit einer eigenen Beschaffenheit und eigenständigen Grundannahmen. Gewisse Überlegungen, insbesondere im Verhältnis von Einzelnen zu Gemeinschaften und ihrer Vermittlung, weisen dabei auch Schnittpunkte und Parallelen zu verschiedenen Theorien des „Kommunitarismus“ auf, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass wir es wie erwähnt mit einer Tradition zu tun haben, welche über die Liberalismus/Kommunitarismus-Debatte der Siebziger weit hinaus reicht.

Ganz im Gegenteil erscheinen die angesprochenen Aspekte, wie etwa auch zu einem veränderten Revolutionsbegriff hoch aktuell. Demnach liegt auch ein Vergleich mit Bini Adamczaks „Beziehungsweise Revolution“ (2017) nahe. Markus zeigt hierbei plausibel, dass sich in diesem markanten Buch implizite Bezugnahmen auf Grundannahmen des kommunitären Anarchismus finden lassen. Dies bedeutet auch einen Baustein für den Nachweis, das zeitgenössisches links-emanzipatorisches Denken aus verschiedenen Gründen durchaus immer stärker von anarchistischen Grundeinsichten geprägt wird.

Es handelt sich um eine lesenswerte Arbeit, die auch einen guten Einstieg in die Thematik darstellt.

Wo gemeinsames Handeln beginnt, wächst auch die Hoffnung

Lesedauer: 7 Minuten

Buchbesprechung zu John P. Clark, The Impossible Community. Realizing Communitarian Anarchism (Bloomsburs New York/London 2013); zuerst veröffentlicht in: Graswurzelrevolution #454

vgl. Buchbesprechung auf ub vom 18.03.2020

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„Hope dies, action begins“ („Wenn die Hoffnung stirbt, beginnt das Handeln“) ist einer der Slogans von Extinction Rebellion, einer Klimabewegung aus dem Reagenzglas, die seit letztem Jahr viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Langjährige Umweltbewegte sind irritiert darüber, dass die Aktivist*innen von „XR“ den Anschein erwecken, sie hätten das Rad neu erfunden – sowohl was ihr Thema als auch ihre Organisations- und Aktionsformen angeht. Politisch Überzeugte wiederum problematisieren die teilweise diffusen Anschauungen, die elitäre Vorstellung, 3,5% der Menschen würden reichen, um einen Systemwandel zu initiieren oder die Appelle an den Staat, als mächtigste Institutionen, welches zunächst den Klimawandel aufhalten müsste, bevor wir über andere Aspekte der gesellschaftlichen Krise angehen könnten. In gewisser Hinsicht entwickeln die Aktiven bei XR diesen Ansatz tatsächlich aus der Haltung, ihr Handeln beginne, weil die Hoffnung gestorben sei. Mir geht es nicht darum, diese Bewegung vollständig zu delegitimieren, sondern eine andere Perspektive aufzuzeigen, mit der wir meiner Ansicht nach eher bzw. emanzipatorischer aus der Misere herauskommen.

Zweifellos ist die Welt in einem apokalyptischen Zustand, vielmehr in einem zerstörerischen Prozess, den auch sozial-ökologische Bewegungen trotz ihrer jahrzehntelangen Kritik und dem Aufbau von Alternativen nicht durchbrechen konnten. Auf der einen Seite sind wir alle gezwungen mit gigantischen Problemlagen umzugehen, welche den meisten Menschen durchaus bewusst sind. Auf der anderen Seite haben wir mit der Resignation zu kämpfen, die sich durch die Begrenztheit unseres Handeln und den Misserfolgen, die wir darin oft erfahren, immer wieder einstellt und letztendlich bei vielen dazu führt, ihr Engagement für eine lebenswerte Zukunft für alle, für einen libertären Sozialismus, aufzugeben.

Gegen die Hoffnungslosigkeit entwickelt der emeritierte Philosophie-Professor John P. Clark1 hingegen eine bescheidene, aber tief gründende, Denkweise, die uns zum Weitermachen inspirieren kann. Sie zeigt Wege aus Nihilismus, Zynismus und Depression auf, die insbesondere auch sensible Personen befallen. Zugleich ist Clarks Stil jedoch kein naiver Fortschrittsoptimismus, der Probleme verdrängt oder nicht benennt, sondern führt das Werk von Anarchist*innen wie Elisée Reclus2, Gustav Landauer3 oder Murray Bookchin fort. Bookchins Theorie des libertären Munizipalismus (bzw. auch: Kommunlismus) kritisiert und entwickelt Clark jedoch weiter4 und spricht sich stattdessen für einen kommunitaristischen Anarchismus aus, in welchem die Veränderung der Menschen mit der sozial-revolutionären Weiterentwicklung der bestehenden Gesellschaftsform sinnvoll zusammen gedacht werden. Diesen grenzt er freilich von konservativen, sozialdemokratisch-multkulturalistischen und republikanisch-radikaldemokratischen Ansätzen ab. Gelebte Gemeinschaft lässt sich nach Clark ganz ohne die Vorstellung einer verfälschten (nationalistischen) Geschichte oder konstruierten abstrakten Gemeinschaften, auf die sich auch manche Linke beziehen, denken. Philosophisch ausgedrückt formuliert Clark dahingehend etwa: „Die freie Gemeinschaft ist eine dynamische, selbst-offenbarende ethische Wirklichkeit, die ohne jede zugrunde liegende metaphysische Substanz auskommt. Im Herzen der freuen Gemeinschaft liegt eine Dialektik zwischen sozialer Bestimmtheit und kreativer Selbst-Negierung und Selbst-Transformation. […] Dieser kreative Prozess kann nicht vollständig auf seine Entstehungsbedingungen reduziert werden, denn sonst gäbe es keinen Moment der Kreativität. Zugleich kann dieser Schöpfungsprozess nicht aus dem Nichts hervorgehen5. Wie im Titel des Buchs schon zu Ausdruck kommt, ist die Suche nach der freiheitlichen Gemeinschaft daher ein nie-abgeschlossener „unmöglicher“ Prozess menschlicher Interaktion, Solidarität und Kreativität. Deswegen braucht es dafür übrigen auch keine Annahme „an sich guter“ Menschen.

Seine Referenzpunkte sind hierbei insbesondere Bezugsgruppen und stark integrierte Kommunen6. Der kommunitäre Anarchismus oder auch „libertäre Kommunitarismus“ ist hierbei keineswegs eine Neuschöpfung oder gar die Kopfgeburt eines zurückgezogenen Intellektuellen. Ganz im Gegenteil erweist sich Clark als stiller, aber scharfsinniger Beobachter, für den utopisches Denken und Sehnen keine abstrakten Worthülsen, hohlen Phrasen oder Wolkenschlösser sind. Vielmehr stellt das Imaginäre für ihn – ganz im Sinne Landauers, mit einem Hauch von Max Stirner und William Godwin – einen Teil der bestehenden, durch Menschen geschaffenen, Realität dar und zeigt uns daher Wege und Strategien für eine radikale, emanzipatorische Gesellschaftstransformation auf. Clark lädt uns in The Impossible Community ein, den Blick auf das zu richten, was neben den vielen alltäglichen Schrecklichkeiten in dieser Welt ebenfalls die ganze Zeit da ist: Verschiedene, regionale Varianten des kommunitären Anarchismus7, praktische Herrschaftskritik8, Graswurzelbewegungen oder gegenseitige Hilfe und Solidarität auch in katastrophalen Zuständen. Letzteres tut er am Beispiel der Selbstorganisationsansätze während der Verwüstung von New Orleans durch den Hurrican Katrina, die er 2005 mit erlebt hat9 und in dem unter dem Stichwort „Disaster Anarchism“ sicherlich auch manches für die aktuelle sogenannte „Corona-Krise“ zu erfahren ist. Weiterhin entfaltet Clark philosophische Überlegungen zum anarchistische Verständnis von gelebter sozialer Freiheit10, zur Verbindung von persönlichen Veränderungsprozessen und kollektivem sozialen Handeln11, wie auch zu konkreten Utopien12 13.

An Clarks Herangehensweise interessant und wertvoll ist sein klarer Bezug zur anarchistischen Tradition, welche er mit progressiven Denker*innen – beispielsweise Michael Tomasello oder Jacques Ranciére – wie auch zeitgenössischen anarchistischen Theoretiker*innen, unter anderem Nathan Jun, David Graeber, Todd May oder Francis Dupuis-Déri verbindet. Zudem bezieht er sich auf politikwissenschaftliche und philosophische Werke und bricht eine Lanze für ein undogmatisches dialektisches Denken in Anschluss an Hegel14. Dessen Überlegungen zum Staat als Garant für die idealisierte „freie Gemeinschaft“ teilt er selbstredend nicht, sondern entgegnet mit Landauer: „Der Staat spielt eine entscheidende Rolle in der Tragödie der Geschichte, weil er zur gleichen Zeit, wo er den Geist auflöst seinen eigenen Wirkungsbereich zunehmend ausdehnt und somit als Ersatzmittel für den Geist fungiert“ (S. 80). Diese Betrachtung führt ihn zur Weiterentwicklung eines libertären Sozialismus zum kommunitaristischen Anarchismus, zum „dritten Konzept“ von Freiheit und damit verbunden zur Thematisierung des klassischen Problems der Abwägung freier Gemeinschaften und gemeinschaftlich orientierter Einzelner15. Dahingehend fragt er Clark: „Können wir unsere radikale Vorstellung nutzen, um uns eine politische Bewegung vorzustellen, in welche jede*r Teilhabende ein Mitglied einer Primärgruppe [= sozialen Bezugsgruppe] oder einer Mikro-Gemeinschaft von einem dutzend oder mehr Personen ist, die gemeinsam daran arbeiten, in ihren persönlichen und gemeinschaftlichen Leben, Werte wie Liebe und Mitgefühl, Solidarität und gegenseitige Hilfe, Frieden und Gerechtigkeit, Freiheit und Kreativität zu entfalten16?

Seine Variante der Dialektik, die er in Einklang mit der eher „klassischen“ anarchistischen Vorstellung von sozialem Fortschritt bringt, stellt gewissermaßen die Klammer der neun Beiträge dar, die ihren gemeinsamen Nenner ferner in der nüchternen Hoffnung auf das menschliche Potenzial finden. Um dieses zu entfalten sind erstens soziale Kämpfe zu führen. Zweitens gilt es dafür soziale und ökologische, herrschaftsfreie Verhältnisse zu entwickeln, die sich im Selbstverhältnis, den Beziehungen zu anderen und dem Weltverhältnis ausdrücken. In Hinblick auf die ökologische Katastrophe brauche es demnach keinen „Naturschutz“, sondern ein anderes, herrschaftsfreies gesellschaftliches Naturverhältnis. Dies bedeutet durchaus auch vertraute Dinge loszulassen, weswegen er schreibt: „Wir müssen danach fragen, wie eine wirklich ökologische Kultur und Produktionsweise aussehen kann und zwar mit einer gewissen Genauigkeit – als wenn wir tatsächlich planen sie in einem gewissen Umfang zu erschaffen. Wir können uns vorstellen, wie grundlegend sich so eine soziale Ordnung von der sozialen Welt, in welcher wir leben unterscheiden muss, welche, wenn wir ehrlich sprechen, eine Kultur des Aussterbens, eine Kultur der Vernichtung, eine ökozidale Kultur, genannt werden muss. Wir müssen danach fragen, ob das vorherrschende System von Spitzentechnologie und industrieller Produktion in irgendeiner Weise weiterbestehen kann und, wenn dies nicht der Fall ist, welche Art eines gerechten und humanen System es möglicherweise ersetzen kann. Außerdem sollten wir danach fragen, welche Veränderungen in der Kultur, in den Institutionen und den persönlichen Beziehungen aus diesen Einsichten des Ökofeminismus folgen werden, insofern sie die Verbindung zwischen den Herausforderungen der Naturbeherrschung und des Patriarchats, betreffen“17.

Dass Clark immer wieder auf soziale Bewegungen verweist, verdeutlicht sein Engagement für diese und seine Praxisorientierung. In diesem Zusammenhang erklärt er beispielsweise auch den Erfolg der neuen Rechten in den USA mit ihrer Verankerung in (oft religiös fundamentalistischen) lokalen Gemeinschaften und ihrer Annektierung individueller Freiheitsbestrebungen durch die rechten „Libertarians“. Als emanzipatorische Gegenbeispiele nennt er neben den Gemeinschaften von Indigenen die wirkmächtigen befreiungstheologischen Basisgemeinden und die Landkommungenbewegung der 1960/70er Jahre. Die Betonung und Wiederaneignung von radikaler Graswurzelpolitik durch Anarchist*innen hat damit sowohl ethische als auch politisch-strategische Implikationen. In diesem Zusammenhang schlägt Clark vor, das „unmittelbarste Anliegen einer erneuerten radikalen Politik liegt in der Erschaffung von starken, gedeihenden Gemeinschaften der Solidarität und Befreiung. Derartige Gemeinschaften sind zutiefst der Herausforderung gemeinschaftlicher Freiheit im hier entwickelten Sinne verpflichtet. Innerhalb dieses Prozesses wird die Herrschaft von Personen und Gemeinschaften mittels Macht, Zwang und Gewalt mit einem System der freiwilligen und gegenseitigen Kooperation ersetzt. Im Prozess der Ersetzung der personalen und kommunalen Herrschaft, welche durch Ausbeutung, Manipulation und Instrumentalisierung für die Zwecke der Macht wirkt, entsteht ein System persönlicher und gemeinschaftlicher Selbstverwirklichung. Und während der Ersetzung der entfremdenden und versachlichten Herrschaft, entsteht Raum für ein System, welches sich auf Handlungsmacht, Selbstbestimmung und freien Selbstausdruck gründet18.

Hieran anknüpfend formuliere ich meinen Leseeindruck von The Impossible Community in dem Satz: „Wo gemeinsames Handeln beginnt, wächst auch die Hoffnung“. Wer in der negativen Kritik gefangen ist, die insbesondere viele deutsche Linken pflegen, wird es leicht haben, in Clarks Schrift Angriffspunkte zu finden und beispielsweise zu unterstellen, sein Plädoyer für Regionalismus erweise sich als anschlussfähig für Rechtsextreme oder seine Anleihen bei spirituellen Denkfiguren könne esoterisch verstanden werden. Haben wir aber das Anliegen die bestehende Gesellschaft radikal und emanzipatorisch zu verändern, ohne uns dabei auf den Staat oder autoritäre Konzeptionen zu beziehen, ist sein Ansatz hingegen äußerst inspirierend.

Im selben Jahr wie das besprochene Buch veröffentlichte Clark übrigens einige Schriften von Elisée Reclus, zu denen er ein ausführliches Vorwort schrieb19. In seiner jüngsten Aufsatzsammlung führt Clark sein Werk fort, indem er die Kämpfe und Organisationsformen von Indigenen in Indonesien und Chiapas und der Kurden in Rojava thematisiert, nach Auswegen aus dem zerstörerischen „Necrozän“ sucht und sich dazu unter anderem auf buddhistische und taoistische Traditionen, sowie Gedanken des sufistischen Poeten Rumi oder der Situationist*innen beruft20.

1 Vgl. http://cas.loyno.edu/philosophy/bios/john-p-clark.

2 Vgl. Clark 2013, S. 94-100, 144, 174, 193-205, 249f..

3 Vgl. insbesondere S. 78-91..

4 Vgl. S. 247-290.

5 S. 5.

6 Vgl. u.a. S. 37, 50, 145, 160-167, 184-191.

7 Siehe v.a. Clark 2013, Kapital 6 „The microecology of community: Towards a theorey of grasroots organization“ und Kapitel 9 „The common good: Savordaya and the Ghandian legacy“.

8 Siehe u.a. Kapitel 4 „Against principalities and powers: Critique of domination versus liberalization of dominantion“.

9 Vgl. Kapitel 8 „Disaster anarchism: Hurricane Katrina and the shock of recognition“.

10 Vgl. Kapitel 3 „The third concept of liberty: Theorizing the free community“.

11 Vgl. Kapitel 7 „Bridging the unbridgeable chasm: Personal transformation and social action in anarchist practice“.

12 Vgl. Kapitel 5 „Anarchy and the dialectic of utopia: The place of no place“.

13 Vgl. Zu den Kapitel eins, zwei, drei und sechs siehe genauer meine Besprechung „Eine Theorie der (un)möglichen Gemeinschaft“ vom 17.03.2020; auf: https://www.untergrund-blättle.ch/buchrezensionen/sachliteratur/john-p-clark-the-impossible-community-2224.html.

14 Vgl. S. 2-7, 52ff, 61-99.

15 Vgl. u.a. auch: Davis, Laurence, Individual and Community, in: Levy, Carl/Matthew Adams, The Palgraves Handbook of Anarchism, 2019, S. 47-69.

16 Clark 2013, S. 47.

17 S. 48.

18 S. 156.

19 John P. Clark/ Camille Martin, Anarchy, Geography, Modernity: Selected Writings of Elisée Reclus, Oakland 2013.

20 John P. Clark, Between Earth and Empire: From the Necrocene to the Beloved Community, Oakland 2019.

Zum kommunitaristischen Anarchismus

Lesedauer: 38 Minuten

Ausführliche Zusammenfassung und Besprechung von:

John P. Clark: The Impossible Community. Realizing Communitarian Anarchism, New York/London 2013

Jonathan Eibisch

zuerst veröffentlicht auf: untergrund-blättle.ch

Einstieg

So marginal der Anarchismus als soziale Bewegung heute wie eh und je ist – auch wenn er weite Spektren der gesellschaftlichen Linken in ihren Organisationsformen und Diskursen beeinflusst und inspiriert – kann doch festgestellt werden, dass er gelegentlich fundierte Werke hervorbringt. In John Clarks Buch wird anarchistische Theorie, auf eine so tiefgründige, informierte und auf soziale Bewegungen bezogene Weise formuliert, dass sie als Standardwerk gelten sollte. In The Impossible Community wird deutlich: Hier hat jemand gearbeitet, sich auseinandergesetzt und Gedanken entwickelt, statt lediglich Gemeinplätze zu formulieren, Dogmen zu wiederholen oder sich auf kleine Beispiele zu beschränken.

Wie der Titel schon verrät stellt sich Clark in die Tradition eines „kommunitären Anarchismus“, wie ihn beispielsweise Gustav Landauer vorschlug. In der politisch-theoretischen Debatte könnte diese Strömung – im Unterschied zu liberalen Ansätzen, wie archetypisch jenem von John Rawls1 – auch als „kommunitaristischer Anarchismus“ oder „libertären Kommunitarismus“ (S. 1) durchgehen. In seiner Bezugnahme auf Gemeinschaften ist er jedoch, von konservativen2, multikulturalistisch-sozialdemokratischen3 und republikanischen radikal-demokratischen4 Ansätzen abzugrenzen. Das Wertvolle bei Clark ist in diesem Zusammenhang, dass er sich gar nicht groß mit den sich im Kreis drehenden Diskussionen der Mainstream-Politikwissenschaften aufhält. Statt dort krampfhaft anknüpfen zu wollen, gelingt es ihm vielmehr – von Murray Bookchin geprägt und mit vielen anderen Anarchist*innen verbunden – eine eigenständige anarchistische Theorie zu entwickeln, die einen Unterschied macht und trotzdem äußerst fundiert ist.

Aus diesem Grund lohnt sich die Lektüre meiner Ansicht nach unbedingt und ich schreibe darüber, in der Hoffnung, jemand möge es auch übersetzen. Im Folgenden werde ich den Inhalt anhand der zehn im Band zusammengefassten Aufsätze, knapp darstellen, um einen Eindruck zu ermöglichen:

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