Wohlstand für alle!

Lesedauer: 8 Minuten

Eine Wiederaneignung von Peter Kropotkins Theorie des kommunistischen Anarchismus

zuerst veröffentlicht in: GWR #463

Welchen Themengebieten und Disziplinen widmete sich Kropotkin? Welche Rolle spielte Wirtschaftstheorie in seinem Gedanken-gut? Und welche Ethik? Wie hat er seine Theorie des kommunistischen Anarchismus mit praxisorientierten Ansätzen verknüpft? Jonathan Eibisch versucht sich an einem knappen Überblick über das Gesamtwerk des anarchistischen Denkers Peter Kropotkin, um zu einer neuen Beschäftigung mit seinen Grundgedanken und seiner Perspektive anzuregen. (GWR-Red.)

Ein bewegtes Leben, der Sache gewidmet

Am 8. Februar 1921, also vor inzwischen über 100 Jahren, starb Peter Kropotkin, einer der wichtigsten Denker der anarchistischen Bewegung. Auch wenn anarchistische Geschichten und Personen im deutschsprachigen Raum leider weniger bekannt sind als etwa in Großbritannien, Spanien, Italien oder Frankreich, haben sicherlich die meisten irgendwie Linken auch hierzulande schon mal von Kropotkin gehört. Nun ist es gerade unter Anarchist*innen teilweise verpönt, an vermeintlich wichtige Personen zu erinnern oder gar Kulte um sie zu errichten. Dies bezieht sich auch auf den „anarchistischen Prinzen“, der zwar sehr bescheiden auftrat, aber dennoch so stark von seinen ei-genen Ansichten überzeugt war, dass es offenbar nicht so einfach war, mit ihm zu kooperieren, wie etwa seine Zeitgenossen Max Nettlau oder Errico Malatesta anmerkten.

Dennoch kann das historische Datum Anlass für eine Wiederaneignung von Kropotkins Theorie sein. Zunächst ist da seine recht eindrucksvolle Biographie. Angewidert vom Autoritarismus des Zarenreiches verließ er seine soziale Klasse, den russischen Hochadel, um ein anerkannter Geograph zu werden und sich dann sozialrevolutionären Bewegungen anzuschließen. Dies brachte ihm fünf Jahre Haft erst in Petersburg und dann bei Lyon ein. Aus dem ersteren Gefängnis gelang ihm 1876 eine spektakuläre Flucht nach Westeuropa, wo er 40 Lebensjahre im Exil verbrachte. Zu letzterer Haftstrafe wurde er als prominente Figur der anarchistischen Bewegung für militante Akte während eines französischen Bergarbeiterstreiks 1882 verurteilt, mit denen er nichts zu tun hatte. Nur auf internationalen politischen Druck hin wurde er schließlich vorzeitig entlassen. Er lebte und wirkte in der Schweiz, in England und Frankreich. Im hohen Alter kehrte er während der Revolution 1917 nach Russland zurück und wurde dort mit begeisterten Demonstrationen von Genoss*innen empfangen. Kein Wunder, denn Kropotkins Schriften wurden in verschiedene Sprachen übersetzt und fanden vor allem in Form von Broschüren weite Verbreitung unter Anhänger*innen des libertären Sozialismus, vorrangig in der Arbeiter*innenbewegung. Seine Auseinandersetzung mit Lenin ist eine Wegmarke bei den grundlegenden Differenzen zwischen Anarchist*innen und autoritären Parteikommunist*innen.

An dieser Stelle möchte ich allerdings vor allem einen knappen Eindruck von Kropotkins Gesamtwerk vermitteln, um deutlich zu machen, warum dieses auch heute noch interessant ist und einer Wiederaneignung lohnt. Zunächst ist dabei zu bemerken, dass Kropotkin den kommunistischen Anarchismus zwar als „linken Flügel“ der Arbeiter*innenbewegung verstand, dieser aber nicht einfach als Bindeglied oder Mischform zwischen Kommunismus und Anarchismus angesehen werden kann, sondern als eigenständige Strömung begriffen werden muss. Mit dieser wird der Fokus auf eine selbstorganisierte und autonome sozial-revolutionäre Bewegung gelegt, welche in ihren Auseinandersetzungen, Praktiken und Organisationsformen die erstrebenswerte libertär-sozialistische Gesellschaftsform bereits vorwegnimmt. Dabei geht es um eine Ermächtigung der unterschiedlichen ausgebeuteten und unterdrückten sozialen Klassen, die sich in ihrem gemeinsamen Interesse zusammenschließen, um die Herrschaftsordnung zu überwinden und an ihrer Stelle die Anarchie zu verwirklichen. Staatlichkeit wird von Kropotkin nicht allein als Reihe von Institutionen verstanden, sondern als Prinzip von („angemaßter“) Autorität, Hierarchie und Zentralismus. Demgegenüber sollen mit dem kommunistischen Anarchismus Freiwilligkeit, soziale Gleichheit und Föderalismus verwirklicht werden.

Kein utopischer Reißbrett-Entwurf, sondern rationale Begründung der machbaren Alternative

Im Unterschied etwa zu Bakunin, der es nicht als Aufgabe der Revolutionär*innen ansah, sich Vorstellungen von einer erstrebenswerten Gesellschaft zu machen, weil diese nur aus der Negation des Bestehenden her-vorgehen könne, skizzierte Kropotkin einen solchen positiven Gesellschaftsentwurf. Viel mehr als unvermeidliche Aufstände und revolutionäre Umbrüche sei interessant, was vor diesen und was nach diesen geschehe. Mit einer Revolution werde also nicht von sich aus sozialer Fortschritt oder Freiheit ermöglicht, wes-wegen es umso mehr darauf ankomme, wie sich die sozialen Bewegungen organisieren, wie sie kämpfen und woraufhin sie sich orientieren würden. Dabei betonte Kropotkin vehement, dass es sich bei seinen Überlegungen nicht um „utopische“ Konzeptionen, sondern um eine prinzipiell erkämpfbare, realistische und vor allem rational begründete gesamtgesellschaftliche Alternative handle. Über die Details hinaus ist es meines Erachtens insbesondere jenes Anliegen, weswegen Kropotkins Herangehensweise für uns heute interessant ist. Einerseits besteht heute eine gut begründete Kritik an verschiedenen Aspekten des kapitalistischen Staates und den gegenwärtigen Herrschaftsverhältnissen, andererseits finden sich in sozialen Bewegungen jahrzehntelange Erfahrungen mit alternativen emanzipatorischen Strukturen, Lebensstilen und „radikalen“ Politikformen. Was jedoch nur in Ansätzen und teilweise vorhanden und teilweise leider nicht ernst zu nehmen ist, sind geteilte Visionen, wie es grundlegend anders werden und wo es hingehen kann.

Kropotkin war sich darüber bewusst, dass der Entwurf einer alternativen Moderne nicht am Schreibtisch eines Intellektuellen erarbeitet werden kann. Daher mischte er sich immer wieder mit Beiträgen in aktuelle Debatten ein, bezog sich sowohl auf tagesaktuelle politische Entwicklungen und Diskussionen in der anarchistischen Szene als auch auf wissenschaftliche Forschungen verschiedener Disziplinen, mit denen er analog zu Marx‘ „wissenschaftlichem“ Sozialismus einen „wissenschaftlichen“ Anarchismus begründen wollte. Die in seinen Schriften ausformulierten Darstellungen und Vorschläge sind daher keine bloßen Kopfgeburten, sondern akribische Auseinandersetzungen mit den Bedingungen seiner Epoche. Aber – und das macht sie einerseits problematisch, andererseits zugleich paradoxer-weise aktuell – Kropotkin ist in seinem gesamten theoretischen Werk angetrieben von einem ausgeprägten Begriff sozialer Gerechtigkeit und der unkritischen Begeisterung für die Möglichkeit der „wissenschaftlichen“ Erarbeitung einer den „natürlichen“ Bedürfnissen und Fähigkeiten der Menschen am besten entsprechenden Gesellschaftsform. Darüber hinaus ist er der absoluten Überzeugung, dass gesellschaftliche Ordnung weit besser ohne Staat und Kapitalismus eingerichtet werden kann und jene Herrschaftsverhältnisse keineswegs die Vorbedingungen für den libertären Sozialismus seien.

Damit komme ich zu einem Überblick über seine Schriften, die teilweise erst später in Büchern zusammengefasst wurden. Bei der Darstellung ergibt es Sinn, chronologisch vorzugehen, um Kropotkins Entwicklung aufzuzeigen. Seine anerkannten geographischen Beiträge blende ich dabei aus und konzentriere mich auf jene, die für die politische Theorie des kommunistischen Anarchismus relevant sind. Erstere waren allerdings insofern prägend für Kropotkins Perspektive und Persönlichkeit, als dass er durch seine geographische Forschung eine Begeisterung für Naturwissenschaften generell entdeckte und ein tiefgreifendes Verständnis für die Einbettung von Menschen in ihre Lebenswelten entwickelte. Schließlich stieß er bei seinen Forschungen in Ostsibirien auf indigene Gruppen, die in ihrem ganzen Leben noch nie etwas vom Staat gehört hatten – und damit ganz gut zurechtkamen.

Überblick über Kropotkins Gesamtwerk

Kropotkins politisch-agitatorische Frühschriften sind in Worte eines Rebellen (1885) gesammelt, in denen er für die soziale Revolution plädiert und diese in Abgrenzung zur Sozialdemokratie und dem Staatskommunismus begründet. Er fasst die Grundaspekte der anarchistischen Staatskritik zusammen und befürwortet revolutionäre Minderheiten, die aber keine Avantgarde bilden sollen. Dies bedeutet vor allem, das Klassenbewusstsein, die Organisation und Motivation der Aktiven in den sozialen Bewegungen zu fördern. Darüber hinaus verdeutlicht er, dass soziale und politische Rechte und Freiheiten nichts gelten, wenn sie lediglich formal durch Staaten gewährt werden, sondern erst dann Bedeutung haben, wenn sie zu Gewohnheitsrechten werden und in Alltagspraktiken verankert sind. Nach seiner Freilassung aus französischer Haft schrieb er mit In Russian and French Prisons (1887) eine umfassende Kritik an Gefängnissen und Strafen. Die Eroberung des Brotes (1892), aus welchem die bekannte Parole „Wohlstand für Alle“ stammt, ist eines meiner persönlichen Lieblingswerke Kropotkins. Anders als Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie widmet sich Kropotkin der Ausarbeitung einer politischen Wirtschaftstheorie für eine Gesellschaft auf Grundlage anarchistischer und kommunistischer Vorstellungen. Damit will er nachweisen, dass Wohlstand für alle gewährleistet werden kann, wenn die bestehende Gesellschaft grundlegend reorganisiert wird. Fünf Stunden gesellschaftlich notwendige Tätigkeit pro fünfköpfigem Haushalt täglich würden völlig ausreichen, um allen Menschen gleichermaßen ein Leben in Würde und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Dazu wären selbstredend die Enteignung und Vergesellschaftung der Produktionsmittel, aber auch eine kollektive Organisation des Konsums notwendig.Das Buch Die große französische Revolution 1789-1793 (1893) stellt eine Geschichtsschreibung „von unten“ dar, in welcher Kropotkin der bürgerlichen Geschichte jene der Volksklassen entgegensetzt, die über Jahrzehnte hinweg selbstständig direkte Aktionen ausgeübt hätten und dann vom Bürger*innentum verraten worden seien, welches eine neue Herrschaftsordnung errichtet habe.

Moderne Wissenschaft und Anarchismus (1896) ist ein Beitrag, in welchem der Theoretiker den bereits erwähnten „wissenschaftlichen Anarchismus“ zu begründen versucht, wobei dieser kein „philosophisches System“, sondern eine reale Strömung in der Arbeiter*innenbewegung sei. Mit Die historische Rolle des Staates (1898) versucht sich Kropotkin – wie der Titel schon sagt – an einer historisch-kritischen Analyse der Entstehung des modernen Staates, wobei er eine Idealisierung der mittelalterlichen Städte und Dorfgemeinden des 12. Jahrhunderts betreibt, was ihm den Vorwurf einbrachte, anti-modern zu denken. Meiner Ansicht nach ist dieser Vorwurf nicht berechtigt, wenn man Kropotkins Gesamtwerk betrachtet. Auch seine Behauptung, dass das „anarchistische“ Modell einer Föderation dezentraler, autonomer Kommunen durch die Geschichte hin-durch immer wieder aufkomme und umgesetzt werde, halte ich für plausibel. Dagegen ist Kropotkin vorzuwerfen, dass er die repressiven Aspekte nicht-staatlicher Herrschaft im Feudalismus – wie etwa persönliche Abhängigkeiten und Fronarbeit – weitgehend ausblendet.In seiner Schrift Landwirtschaft, Industrie und Handwerk (1898) legt er den Fokus dagegen wie-der auf die Konzeption einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform. Er fordert darin eine Dezentralisierung der Industrie, die aufgrund der Arbeitsteilung in vielen Bereichen möglich sei, und eine Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe, um koloniale Abhängigkeiten und internationale Konkurrenz zu verringern. Statt für eine Verstädterung tritt er für eine Dezentralisierung urbaner Lebensräume ein. Weiterhin brauche der einzelne Mensch eine gleichmäßige Tätigkeit in industriellen, handwerklichen, landwirtschaftlichen und intellektuellen Bereichen. Zu diesem Zweck müsse eine umfassende „integrale“ Bildung für alle gewährleistet werden.Mit 55 Jahren schreibt er seine Memoiren eines Revolutionärs (1899) und beschäftigt sich mit Idealen und Wirklichkeit in der russischen Literatur (1901). So-wohl das Schreiben seiner eigene Biographie als auch jenes über Literatur entspricht allerdings keineswegs einer schriftstellerischen Leidenschaft, sondern er stellt es in den Dienst von Propaganda durch das Aufzeigen emanzipatorischer Alternativen.

Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt (1902) ist vermutlich Kropotkins bekannteste Aufsatzsammlung, die zu-nächst im englischen Naturwissenschaftsmagazin Nineteenth Century publiziert wurde. Darin wendet er sich in Anschluss an die Evolutionstheorie von Darwin gegen den so genannten Sozialdarwinismus, mit welchem in einer Krise des Kapitalismus begründet werden sollte, warum jener eine „naturgemäße“ Gesellschaftsform sei. Ohne Konkurrenz zu leugnen, weist Kropotkin ausführlich nach, dass ganz im Gegenteil Kooperation der entscheidende Faktor der Evolution sei. Sein Rückschluss von den natürlichen Instinkten nicht-menschlicher Tiere auf Menschen hinkt dabei, da das Leben in Gesellschaft andere Dynamiken aufweist als die Geselligkeit bei Tieren. „Solidarität“ ist kein Naturgesetz, sondern ein ethisch-politischer Standpunkt, welcher dement-sprechend eine bewusste Entscheidung verlangt. Dennoch lassen sich aus der von Kropotkin angelegten Perspektive viele Einsichten und Erkenntnisse ab-leiten, die heute teilweise auch evolutionsbiologisch begründbar sind.Den Abschluss seines Werkes bildet seine Ethik. Ursprung und Entwicklung der Sitten (1923), von welcher er vor seinem Tod nur den ersten Band fertigstellen konnte. Darin entwickelt er die Grundlagen einer materialistischen Ethik, welche die Bedürfnisse von Menschen in ihrem jeweiligen geschichtlichen und sozialen Kontext, anstatt etwa religiöse oder philosophische Moralsysteme, zum Ausgangspunkt nimmt. Eine moderne und rationale Ethik müsse dabei eine Synthese zwischen individuellen und gesellschaftlichen Bestrebungen der Einzelnen zum Ziel haben.

Schlussfolgerungen

Betrachten wir Kropotkins Werk in seiner Gesamtheit, zeigt sich, dass dieser sich verschiedenen Themengebieten und Disziplinen widmete. Von der Geographie gelangte er zur politischen Anthropologie und Geschichte sozialer Bewegungen. Daran schließt er eine anarchistische Wissenschaftstheorie an. Seine Staatstheorie und -kritik ist mit einer Wirtschaftstheorie des anarchistischen Kommunismus verknüpft. Geschichtsphilosophie und Menschheitsgeschichte bilden den großen Hintergrund seiner Überlegungen. Letztendlich ist es aber die Ethik, welche Kropotkins ganzes Denken, Forschen und Schreiben motiviert und die gewissermaßen seinen Ausgangs- und Schlusspunkt bildet. Dieses ethische Leben ist ebenso wie die Gesellschaftsform, die es ermöglicht, nicht einfach gegeben, sondern muss durch autonome und emanzipatorische soziale Bewegungen erkämpft und verwirklicht werden. Wenngleich Kropotkin der Frauenbewegung seiner Zeit bedauerlicherweise nicht den ihr gebührenden Stellenwert einräumte, so weisen seine Überlegungen doch äußerst progressive ökologische und anti-koloniale Aspekte auf. Statt „Antikapitalismus“ oder „Antistaatlichkeit“ als leere linksradikale Phrasen zu verwenden, skizzierte er Bedingungen und Formen eines dezentralen Sozialismus, föderativer und autonomer Kommunen. Damit zeigte er Fluchtlinien zu einer erstrebenswerten Gesellschaftsform auf, die aus vernünftigen Gründen verwirklicht werden kann.

Jonathan Eibisch

Schatzkiste: Die anarchistische Synthese (Sebastien Faure)

Lesedauer: 16 Minuten

Neben Errico Malatesta und Voltarine de Cleyre, die für einen „Anarchismus ohne Adjektive“ eintraten, gab es nur wenige Anarchist*innen, welche eine produktive Koexistenz verschiedener anarchistischer Strömungen anstrebten, um daraus gemeinsame Ziele zu verwirklichen.

Antiautoritäre Strömungen stehen vor speziellen Herausforderungen. Denn wie wird Organisation möglich, ohne eine hierarchische Struktur, mit zentralen Leitungsgremien, die immer mehr Kompetenzen an sich ziehen? Wie können in einer pluralistischen Organisation gemeinsam getragene Vereinbarungen eingegangen und verbindliche Entscheidungen getroffen werden, ohne, dass diese den Mitgliedern als Zwang auferlegt werden? Wie ist es möglich innerhalb einer Organisation Konflikte zu schlichten, unterschiedliche Perspektiven zu vermitteln und geteilte ethische Grundlagen zu entwickeln, ohne, dass diese von Einzelpersonen gesetzt werden? Wie lassen sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Ansichten, Erfahrungen und Meinungen heraus, Diskussionsprozesse initiieren und gestalten, mit denen die Formulierung von gemeinsamen Strategien und Zielen möglich wird?

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Schatzkiste: Die soziale Revolution (Joseph Peukert)

Lesedauer: 38 Minuten

Die hier gespiegelte Artikelreihe aus der Londoner Zeitung „Autonomie“ von 1887 ist unter Pseudonym erschienen. Aufgrund des „populistischen“ Stils und dem Grundlagen-Charakter des Textes gehe ich jedoch davon aus, dass sie von Joseph Peuket verfasst wurde, welcher in dieser Zeitung maßgeblich aktiv war. Peukert, ein Deutscher, der in der anarchistischen Exilant*innen-Gemeinschaft in London gestrandet war, entwickelte sich zum Anhänger Kropotkins und versuchte dessen Konzeption zum kommunistischen Anarchismus zu verbreiten und herunter zu brechen. Peukerts Anarcho-Populismus kommt dabei nicht ohne einen ausgeprägten Klassenhass und eine teils schwärmerische Sehnsucht aus, welche beides ist: Ausdruck und Beleg seiner eigenen Haltung beziehungsweise der seiner Gefährt*innen, als auch stilistische Ausdrucksmittel, sprich, offensichtliche Agitation und Propaganda, welche nur deswegen nicht instrumentell ist, weil sie sich ganz klar dazu bekennt, solche zu sein und damit die Lesenden zum Selbstdenken, zur Selbstermächtigung und zur Selbstorganisation auffordert. Durch Antizipation beider Seiten, die der Schreibenden und jene der Lesenden, entsteht ein Eindruck des politisierten libertär-sozialistischen Milieus vor der Jahrhundertwende.

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Schatzkiste: Evolution und Revolution (Élisée Reclus)

Lesedauer: 8 Minuten

Reclus war ein umtriebiger und äußerst engagierter Geograph mit Leidenschaft und ebenso überzeugter Anarchist. Einen wichtigen theoretischen Beitrag lieferte er unter anderem mit seinem Grundgedanken zum Verhältnis von Evolution und Revolution. Dazu schrieb er einen bekannten Text unter diesem Titel von dem es eine frühere und eine spätere Version gibt. Statt der französischen Originalausgabe habe ich die englischen Nachdrucke gefunden. Die erste Version von 1891 findet sich bei

Reclus, Élisée, Evolution and Revolution [1891], in: Graham, Robert (Hrsg.), Anarchism. A Documentary History of Libertarian Ideas, Bd. 1, Montral/New York/London 2017 [2005], S. 268-271.

und die zweite, deutlich längere und überarbeitete hier:

Reclus, Élisée, Evolution, Revolution, and the Anarchist Ideal [1898], in: Clark, John / Martin, Camille, Anarchy, Geography, Modernity. Selected Writings of Élisée Reclus, Oakland 2013, S. 138-155.

Der Hintergrund für Reclus Überlegungen ist folgender: Im Zuge der Erstarkung der Arbeiter*innenbewegungen erhielten die sozialistischen Parteien einen ungeheuren Zulauf, gründeten zahlreiche Zeitungen, Lokale, Sport-, Kultur- und Bildungsvereine. Damit stellten sie zumindest in Deutschland, England und Frankreich zu diesem Zeitpunkt eine echte (und konkret vorhandene) Alternative zur bestehenden bürgerlichen Gesellschaft dar. Preis dieser Ausdehnung war allerdings die Verwässerung ihres Programms und durch die Einbindung in staatliche Politik auch die Verbürgerlichung der sozialistischen Führungskader – sowohl materiell gesehen, also auch ideologisch. Der Deal mit der machthabenden bürgerlichen Politiker*innenkaste war folgender: Ihr verzichtet auf eure revolutionären Ansprüche und hört mit der Unruhe und den Drohungen auf. Im Gegenzug bekommt ihre einige Posten als Politiker*innen und Beamt*innen und könnt in Maßen eure Interessen vertreten. Dies wurde von den parteisozialistischen Führungsriegen weitgehend akzeptiert. Allerdings mussten sie diesen Kurswechsel ihrer Anhängerschaft plausibel, die sie nunmehr vorrangig als Wahlklientel betrachteten. Historisch setzte hier die berühmte Debatte zwischen Eduard Bernstein (Reformismus) und Karl Kautsky (Orthodoxie) ein. Dies erwies sich nicht als einfach, denn immerhin gab es eine starke selbstorganisierte und radikale sozialistische Bewegung. Darum bedienten sie sich einer grundsätzlichen Gedankenfigur: Sie behaupteten, dass man sich entscheiden müssen, ob man Revolution oder Evolution wolle. Die Revolution richte eigentlich nur Chaos an und würde zu Gewalt und Leid führen. Evolutionäre gesellschaftliche Veränderungen seien hingegen tatsächlich äußerst realistisch, aufgrund der großen Organisationsmacht der sozialistischen Bewegungen und ihrer real vorhandenen Gegengesellschaft.

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Schatzkiste: Die Macht der Minderheiten (Emma Goldman)

Lesedauer: 14 Minuten

In ihre Beitrag von 1910, der unter den Titeln Minderheiten weisen den Weg und auch Die Masse publiziert worden ist, setzt sich Emma Goldman mit dem Verhältnisse von Mehrheiten und Minderheiten auseinander. Dies betrifft Politik im engeren Sinne, aber auch die Meinung in der Gesellschaft und kulturelle Fragen. Einleitend schreibt sie:

Wenn ich die Richtung, in der unsre Zeiten sich bewegen, mit einem Wort zusammenfassen soll, so sage ich: Quantität. Die Menge, der Geist der Masse herrscht allenthalben vor und zerstört die Qualität. All unser Leben – Produktion, Politik und Erziehung – beruht auf der Quantität, auf der großen Zahl. […] In der Politik zählt nichts als Quantität: Prinzipien, Ideale, Gerechtigkeit und Festigkeit sind völlig von der Menge hinweggespült worden.

Quelle: wikipedia, respektive: https://www.loc.gov/pictures/item/2014680747/
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Erich Mühsams Beitrag für eine anarchistische Synthese

Lesedauer: 18 Minuten

Originaltitel: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat – Erich Mühsams Beitrag für eine anarchistische Synthese

zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #109, Juli 2020

Mit seinem Traktat Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus? schrieb Erich Mühsam eine lesenswerte Schrift, die weite Verbreitung gefunden hat. Der Literat, Aktivist und Lebenskünstler verfasste sie im Jahr 1932, das heißt zwei Jahre vor seiner Ermordung durch die Nazis im KZ Oranienburg am 10. Juli 1934. In diesem Beitrag ordne ich den Text historisch ein, stelle dar, warum sein Autor damit einen Beitrag zum synthetischen Anarchismus formuliert und kritisiere einige Annahmen, um ihren Gehalt weiterzuentwickeln.

von Jens Störfried

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Schatzkiste: Die soziale Freiheit (Michael Bakunin)

Lesedauer: 24 Minuten

In dieser Rubrik möchte ich jeweils auf kürzere Texte des frühen Anarchismus aufmerksam machen, welche ich für besonders lesenswert und wichtig halte. Anstatt in der Mottenkisten zu wühlen, denke ich, es handelt sich hier vielmehr um eine Schatzkisten. Gleichzeitig bin ich ebenfalls der Ansicht, die alten Genoss*innen und Gefährt*innen würden sich im Grab umdrehen, wenn wir andächtig ihr Vermächtnis pflegen und sie verehren würden. Viel froher wären sie, wenn uns ihre Schriften auf zu neuen Taten inspirieren würden! Trotz einigem gehörigen Respekt will ich deswegen rebellische Leichen fleddern. Also mir raus picken, was mir für eine sozial-revolutionäre Perspektive auch heute geeignet scheint.

Wenn es möglich ist, werde ich den entsprechenden Text hier ebenfalls posten. Vermutlich werde ich einige von ihnen von anarchismus.at übernehmen. Wahrscheinlich werde ich von bekannteren zu weniger bekannten Texten übergehen…

Eine Vorwarnung habe ich allerdings schon: Der Fokus wird auf hauptsächlich auf Texten von männlichen und europäischen Autoren liegen. Dies halte ich für ein Problem – ohne, dass dies ihre Texte schlechter machen würde. Bis mir eine andere Umgangsweise damit einfällt, bleibt mir nur, dies wenigstens anzusprechen.

Damit aber zum vorliegenden Text…

Cover von Jürgen Mümken, Michael Bakunin. Philosophische Betrachtungen
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