Meine fünf Cent zu inner-feministischen Auseinandersetzungen
Im Folgenden plädiere ich dafür, in Abgrenzung zu Queerfeminismus, Radikalfeminismus und liberalem Feminismus einen eigenständigen anarch@feministischen Ansatz zu entwickeln. Dieser müsste eine Erneuerung gegenüber früheren derartigen Ansätzen darstellen, da diese nicht am Puls der Zeit sind.
Mir ist bewusst, dass meine Kompetenz, zu diesem Themenfeld zu sprechen begrenzt ist. Zudem bin ich als männlich sozialisierte Person weniger und anders vom Patriarchat betroffen, als Menschen mit anderen Positionierungen. Deswegen sind diese Überlegungen als ein Versuch anzusehen, meine eigenen Gedanken auf diesem Weg zu äußern. Denn ich möchte dem Thema die Bedeutung zukommen lasse, welche sie tatsächlich für umfassende Emanzipation hat.
-> Wenn du eigene Gedanken zum Thema hast oder dich auch aus einer anderen Positionierung heraus dazu äußern möchtest, schreib mir gern und ich veröffentliche deinen Beitrag, wenn er aus anarchistischer Perspektive geschrieben ist.
Tatsächlich war mir nicht bewusst, dass einige Genoss*innen beider Fraktionen einen Gegensatz zwischen (Queer-)Feminismus und Klassenkampf sehen wollen. In der jüngeren Zeit lässt sich eine Ausdifferenzierung der verschiedenen Lager feststellen, was seine Gründe und Folgen, seine Vor- und Nachteile hat. An sich stellt es aber kein Problem dar, dass verschiedene Gruppen und Personen sich auf die Themen konzentrieren, welche ihnen besonders wichtig sind. Im Gegenteil, dies kann auch zu einer gegenseitigen Bereicherung und Bestärkung führen, wenn sich die jeweiligen Fraktionen auch solidarisch und konstruktiv aufeinander beziehen.
Bedauerlicherweise scheint dies in der Realität nicht so einfach zu sein. Die unterschiedlichen Schwerpunkte ergeben sich jedoch nicht aus verschiedenen ideologischen Positionen, sondern aus den Erfahrungen, Kontakten und der Subjektivität der jeweiligen Menschen und Zusammenhänge. Mit anderen Worten: Was eine*r persönlich begegnet und wichtig erscheint wird dann auch im (anti-)politischen Kampf betont und eingefordert. Und dies völlig zurecht. Warum sollte mensch also behaupten, dass entweder Klassenkampf oder (Queer-)Feminismus die entscheidenden Kampffelder sind?
Die Forderung nach einer einer Gleichstellung von Frauen in der Politik reicht mindestens zweihundert Jahre zurück. In vielen Jahrzehnten, wo Frauen komplett aus der politischen Sphäre ausgeschlossen wurden, stellte sie einen sinnvollen Schritt dar, um die Demokratisierung der Gesellschaft voranzubringen und damit weitere Emanzipationsprozesse möglich zu machen. Mit der Kampagne #ParitätJetzt wird dies aktuell wieder aufgegriffen.
Für Anarchist*innen handelt sich damit um Augenwischerei und oberflächige Symptombekämpfung. Nein, dass politische Geschäft und der politische Apparat wird nicht „besser“, wenn mehr Frauen an ihm beteiligt sind. Und er bleibt auch weiterhin vom patriarchalen Herrschaftsverhältnis geprägt, selbst wenn es Frauen* sind, die „feministische Außenpolitik“ oder „inklusive Unternehmensführung“ betreiben. Dem Feminismus ist mit derartigen Kampagnen kein Gefallen getan. Stattdessen gibt es viele andere Möglichkeiten, feministische Anliegen effektiv und langfristig zu erkämpfen. In diesem Sinne schrieb Emma Goldman in Hinblick auf die Forderung nach dem Frauenwahlrecht:
„Ich glaube nicht, dass die Frau die Politik schlechter machen wird; aber ich kann auch nicht glauben, dass sie sie verbessern kann. Warum also auf einer solchen Gesetzgebung [zur Gleichstellung] bestehen, wenn die Frau die Fehler des Mannes ohnehin nicht korrigieren kann? […] Die Geschichte der Bemühungen des Menschen in der Politik zeigt, dass ihm diese überhaupt nichts gebracht haben, was er nicht auch auf direkterem Wege, zu einem geringeren Preis und für einen längeren Zeitraum hätte erreichen können“ (Emma Goldman 1911/2013d: 177f.).
Heute schaue ich mir bei linken Feministinnen an, wie sie mit dem Widerspruch umgehen, dass Alexandra Kollontai zwar einerseits grundlegend für die Emanzipation von Frauen, ein anderes Verständnis von Mutterschaft und sexuellen Beziehungen eintrat, aber andererseits den Stalinismus stillschweigend mitrug.
Alexandra Kollontai oder: Revolution für das Leben – Workshop mit Katharina Volk
Dann werde ich also auf die anarchistische Buchmesse fahren um meine Gedanken zu präsentieren und Mitte Juni in den Norden, um ein paar Veranstaltungen zu machen. Eigentlich würde ich nur so etwas machen, Seminare geben und Texte zu meinen Themen produzieren – wenn ich denn davon leben könnte. Das hat zumindest insofern einen gewissen Wert, als das anarchistisches Denken am Leben gehalten, weiter gegeben und auch weiter gedacht wird. Und im deutschsprachigen Raum gibt es nun mal wenige Menschen, die dies als ihre Aufgabe erachten und mit erlernten theoretischen Fähigkeiten verbinden können. Das ist auch verständlich. Der Fame für nicht-institutionell angebundene anarchistische Intellektuelle, die sich nicht als besonders krass inszenieren, sondern besonders bodenständig sein wollen, hält sich sehr in Grenzen. Die paar Fans sind oftmals nicht zahlreicher als die paar Hater, die eine Strohpuppe in mir gefunden haben. Meine Bezahlung ist… nun ja, im Wesentlichen ein moralisch gutes Gefühl, mit meinen Fähigkeiten und meiner Seinsweise etwas sinnvolles gemacht zu haben.
Ich bilde mir manchmal ein, damit in manchen Fällen auch die lokalen Szenen zu bestärken, weil sie dann etwas Thematisches nach außen hin anbieten können. Schwierig ist es aber, wenn lokale A-Gruppen gar keine Aktiven hervorbringen, die mit einer gewissen Bildung in der Öffentlichkeit auftreten und sprechen können. Jetzt, wo ich sogar den langen, zermürbenden Weg der Promotion gegangen bin, wäre ich vermutlich sogar in der Position, Genoss*innen in anarchistischer Theorie und Veranstaltungen auszubilden. Soll ich das aber wieder – wie gewohnt – alleine angehen? Es gibt auch Menschen, die auf einem ähnlichen denkerischen Level wie ich unterwegs sind. Diese sind aber wiederum nicht so aktivistisch eingestellt, als dass sie Anarchismus als potenziell sozial-revolutionäre, organisierende, vermittelnde und radikalisierende Kraft innerhalb emanzipatorischer sozialer Bewegungen begreifen. Sie machen vielleicht auch mal eine Veranstaltung, einen Text oder intervenieren in eine Debatte. Darüber hinaus denke ich aber, dass sie sich deutlich besser um sich kümmern und mit der Gegenwartsgesellschaft arrangieren können, als ich. Das ist allerdings erst mal eine Unterstellung von einem chronischen Nörgler.
Schon Anfang letzten Jahres erschien die deutsche Ausgabe von Für eine feministische Internationale. Die Autorin Verónica Gago ist Professorin für Soziologie in Buenos Aires und nimmt eine ähnliche Rolle ein wie Alicia Garza für die „Black Lives Matter“-Bewegung.(1) Bekannt ist, dass der Frauen*Streik insbesondere von Argentinien ausgehend eine neue Welle globaler feministischer Mobilisierungen angestoßen hat, deren wesentliche Forderungen – Recht auf Schwangerschaftsabbruch und sexuelle Selbstbestimmung, Beendigung patriarchaler Gewalt und der Ausbeutung unbezahlter oder schlecht bezahlter weiblicher Sorge-Arbeit – schon vorher berechtigt waren. Gerade anhand des jüngeren Feminismus, der zugleich radikal und subversiv sowie eine populäre Massenbewegung ist, bilden sich die Konfliktlinien zwischen progressiv-emanzipatorischen und reaktionär-konservativen politischen Lagern deutlich ab. Während in Argentinien auf Druck der „Ni Una Menos“-Bewegung im letzten Jahr Abtreibung tatsächlich legalisiert wurde, wurde sie in Polen im gleichen Zeitraum nochmals verschärft und ist in zahlreichen anderen Ländern aktuell umstritten. Doch in der neuen Welle feministischer Mobilisierung geht es um weit mehr – wenn man Gagos Buch folgt, darum, wie wir alles verändern.
Die situierte Praxistheorie des Kartografierens
Und für diesen umfassenden Transformationsprozess liefert die Autorin, welche die „Ni una menos“-Bewegung selbst mitbegründet(2) und damit der feministischen Streikbewegung einen neuen Schub gegeben hat, die politische Theorie. Für eine feministische Internationale ist ein lebendiges Beispiel dafür, wie die Verbindung zwischen Praxis und Theorie als wechselseitiger Prozess gelingen kann. Darin wird eine involvierte und leidenschaftlich engagierte wie gleichermaßen theoretisch unterfütterte und auf verallgemeinerte Anwendung bezogene Perspektive entfaltet, die sich als Ergebnis langjähriger feministischer Theorieentwicklung in deren Tradition stellt. Gago interpretiert die Ereignisse, Praktiken, Subjekte, Organisations-, Aktions- und Ausdrucksformen der feministischen Bewegung und verortet sie in einem großen Kontext, wodurch eine Reflexion und Weiterentwicklung möglich wird. Feministische Aktivist*innen und Sympathisierende sollten sich die Zeit nehmen, ihr Buch zu lesen und miteinander zu besprechen. Es lohnt sich und verdeutlicht meiner Ansicht nach zudem, wie wichtig es ist, dass soziale Bewegungen mit politischer Theorie unterfüttert sind.
Mit den Begriffen Kartografierung und Situiertheit beschreibt Gago eine Variante, feministische Theorie zu denken. Unter ersterem versteht sie das Sichtbarmachen – und also das Politisieren – von patriarchaler Gewalt und Sorge-Arbeit. Als situiert beschreibt sie eine Wissensform, die mit Erfahrungen, Emotionalität und daher auch mit Körperlichkeit verbunden ist. Dementsprechend thematitiert sie unter der Kapitelüberschrift „Körper-Territorium: Der Körper als Schlachtfeld“, wie alltägliche strukturelle Gewalt letztendlich immer von konkreten Einzelnen erfahren wird und sie betrifft. Daher sind umgekehrt aber auch die unterworfenen, ausgebeuteten, erniedrigten Körper die Ausgangspunkte von Widerständigkeit und Subversion. Und darüber hinaus werden Kartografieren und Situieren für die feministische Sozialwissenschaft analytische Methoden, um eine politische Theorie zu entwerfen, welche von den tat – sächlichen Vorgängen in emanzipatorischen sozialen Bewegungen ausgeht und auf diese zurückwirkt. Gago spricht hierbei auch von einer „kollektiven Intelligenz“, welche in den Versammlungen entsteht und wirkt.
Darin wohlwollend Potenziale zu sehen, ist begrüßenswert. Nicht vergessen werden sollte aber, dass Massen auch träge und verdummend sein können … Dies sehen wir nicht zuletzt in der vehementen anti-feministischen Reaktion, welche durch die feministische Theorie in einem anderen Licht erscheint: Katholische und evangelikale Kirchen, neoliberale Wirtschaftseliten und nach wie vor mit den staatlichen Repressionsapparaten verbundene Faschisten verbünden sich zum Gegenangriff auf das „Gespenst des Feminismus“, wie dies besonders deutlich unter der Regierung Bolsonaro in Brasilien zu Tage tritt. (3) Mit dem neurechten Kampfbegriff der „Gender-Ideologie“ wurde der Feminismus als „innerer Feind“ ausgemacht, den es religiös, ökonomisch und militärisch zu bekämpfen gelte. – Unter anderem diese Perspektive des Buchs ist es, in der eine explizit strategische Denkweise zum Ausdruck kommt, von der sich Aktive im deutschsprachigen Raum inspirieren lassen sollten.
Verbinden, was zusammengehört
Die Autorin wendet marxistische Argumentationsgänge in Hinblick auf Klassengesellschaft, Ausbeutung und Entlohnung nicht als verkrustete Doktrin, sondern als praktisches Analysewerkzeug an. Ihr Feminismus speist sich aus den Theorien von Silvia Federici, Wendy Brown und Maria Mies. Insbesondere erstere ist in der autonomen und anarchistischen Tradition zu verorten, in welcher die Kritik am Patriarchat mit der an Kapitalismus und Staat zusammen gedacht wird. Verschiedene Achsen der Unterdrückung zusammen zu denken, entspricht der Intersektionalitätstheorie, für welche auch Angela Davis und Audre Lorde stehen, welche im Buch erwähnt werden. In der viral gegangenen, inzwischen legendären Performance aus Chile „Der Vergewaltiger bist du“ kommt dieses neu erstarkte, inhaltlich anarchistische Verständnis zum Ausdruck. So heißt es in einer Zeile: „El Estado opresor es un macho violador“ („Der Unterdrücker-Staat ist ein machistischer Vergewaltiger“).(4) In diesem Zusammenhang ließe sich auch gut an das politische Denken John Holloways anschließen, was Gago jedoch nicht tut. Sie bezieht sich allerdings auf das radikal-demokratische Demokratieverständnis in der Linie von Baruch de Spinoza, Jacques Rancière und Ernesto Laclau, indem sie einen Gegensatz zwischen der konstituierenden Handlungsmacht feministischer Bewegung als potentia und der verfestigten Herrschaftsmacht des patriarchalen Staates aufmacht. Die Aufzählung erfolgte an dieser Stelle nicht, um Name-Dropping zu betreiben, sondern weil ich damit deutlich machen möchte, dass ich Für eine feministische Internationale als ein wichtiges Grundlagenwerk für die feministische politische Theorie ansehe.
Darüber hinaus bedient sich die Autorin der Revolutionstheorie Rosa Luxemburgs, welche mit dem Konzept der revolutionären Realpolitik eine Überwindung des vermeintlichen Gegensatzes von revolutionären und reformerischen Strategien denkbar machte. Hierbei könnte Gago allerdings auch noch einen Schritt weiter gehen. Denn ebenso wie die mögliche Verbindung von Radikalität und Popularität sozialer Kämpfe ist jene zwischen Revolution und Reform gerade ein Markenzeichen anarch@syndikalistischer Bewegungen, wie sie traditionell mit der argentinischen FORA(5) verbreitet war. Damit zeigt sich, dass Gago eine linke Denkerin bleibt, auch wenn die feministische Bewegung gerade in lateinamerikanischen Ländern sehr stark anarchistisch geprägt ist. In der Staatskritik gehen die zeitgenössischen radikal-feministischen Strömungen beispielsweise über Luxemburg hinaus, indem sie nicht lediglich eine Verbindung zwischen parlamentarischer Parteipolitik und außerparlamentarischer Bewegung anstreben, sondern faktisch neue Versammlungsorte und Strukturen der Selbstorganisation schaffen – und damit meiner Ansicht nach auch das patriarchale Moment des Politischen untergraben, statt sich dieses lediglich feministisch anzueignen.
Plurinationaler Feminismus als sozial-revolutionäre Kraft des 21. Jahrhunderts
Verbindungen zu schaffen, wird von Gago auch als „Transversalität“ begriffen. Damit ist nicht nur das strategische Bündnis von Frauen, Lesben, Travestis und Transpersonen im Sinne eines Zusammenschlusses von vermeintlich vorab kategorisierten sozialen Gruppen gemeint. Vielmehr geht es um die Überschreitung der jeweils zugewiesenen Positionen, um die aktive Verbindung von Menschen in verschiedenen sozialen Positionen, Lebenslagen und sexuellen Identitäten. Gerade indem Differenzen anerkannt werden, können sie auf Augenhöhe verhandelt und in einem Prozess des Streitens und Lernens vermittelt werden. So wurde und wird mit dem Frauen*Streik auch die herkömmliche Definition von Streik und damit die traditionelle Rolle der Gewerkschaften in Frage gestellt.(6) Statt diesen lediglich vom sozialen Kampf innerhalb der Kategorien von Lohnarbeitsverhältnissen als Gegenpol zum Kapitalismus ausgehend zu denken, ermöglichen die Thematisierung der feminisierten „popularen“ Ökonomie (Hausarbeit, Sorge- und Pflegearbeit, emotionale Arbeit) und eine Organisierung entlang dieser Konfliktlinie neue Formen sozialer Kämpfe. In Für eine feministische Internationale werden Staat, Kapitalismus, weiße Vorherrschaft und Patriarchat als miteinander verwobene Herrschaftsverhältnisse gedacht – welche im Prisma des Feminismus zugleich abgebaut werden sollen. Dementsprechend stellt sich der zeitgenössische Feminismus als pluri- und transnational heraus, da er im Nationalstaat keinen primären Bezugspunkt mehr sieht. Setzen wir alles daran, den Feminismus als als sozial-revolutionäre Kraft des 21. Jahrhunderts weiter zu entwickeln.
Unter dem Titel Globaler Anarchafeminismus zu Beginn des Jahrhunderts. Werke und Wirken von He-Yin Zhen und Emma Goldman im Vergleich hat sich Josefine Rein mit dem Anarchafeminismus an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beschäftigt. Sie zeigt anschaulich auf, wie in anarchafeministischen Positionen Kritik an Kapitalismus, Staat und Patriachat zusammen gedacht wurde und somit ein Gegenwicht zu nur-linken oder liberalen emanzipatorischen Positionen bildeten. Trotz der verschiedenen geografisch-kulturellen Kontexte von Goldman und He-Yin wird deutlich, wie ähnlich ihre Schlussfolgerungen sind. Abgesehen von bestehenden internationalen Vernetzungen liegt dies nicht zuletzt daran, dass anarchafeministische Perspektiven offenbar einige Wahrheit beinhalten, welche denkende Menschen an verschiedenen Orten gleichzeitig entdecken können. Das Thema wurde zwar schon einige Male behandelt. Josefine Reins Darstellung ist aber dahingehend gut und beachtenswert, dass sie den Anarchafeminismus mit einer aktuellen informierten Herangehensweise untersucht, den Gegenstand also nicht historisch konserviert, sondern seine Aktualität herausstellt. Vielen Dank für das zur Verfügung stellen!
Mit Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen schuf die Philosophin Eva von Redecker ein Werk, was zur Verortung in der gegenwärtigen Zeit bitter notwendig ist.
Nur selten gelingt es Intellektuellen, die Kluft zwischen einem verselbständigten und kommerzialisierten akademischen Diskurs und den leider oftmals kurzlebigen und wenig bewussten sozialen Bewegungen zu überbrücken. Von Redecker schafft dies auf eine glaubwürdige, überzeugende und inspirierende Weise, weil sie offenkundig die Fähigkeit besitzt, nicht lediglich zu beobachten, sondern sich in andere Perspektiven hinein zu versetzen.
Der „Sachherrschaft“ des Kapitalismus setzt sie dabei die Perspektive der „Weltwahrung“ entgegen. Mit ihrer Formulierung der „Revolution für das Leben“, bringt sie zum Ausdruck, dass es ihr ums Ganze geht. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, laufen die jüngsten sozialen Bewegungen auf den Feldern des Antirassismus, des Feminismus und der Klimagerechtigkeit tendenziell auf eine grundlegende Systemkritik hinaus, wobei mit ihnen zugleich auch aktive solidarische Alternativen zu diesem aufgebaut werden. Das Buch ist lebendig und anschaulich geschrieben und spürbar von der Sehnsucht motiviert, aus der bestehenden Herrschafts- und Eigentumsordnung auszutreten und andere gesellschaftliche Verhältnisse einzugehen, die nicht mehr auf Gewalt und Zerstörung, sondern auf der sozial und ökologisch verträglichen Produktion und selbstbestimmten Gestaltung von Leben, beruhen. Die Corona-Pandemie und ihre Folgeerscheinungen waren zweifellos der Katalysator, um mit diesem Buch auch die Frage nach sozialer Revolution weiter zu verfolgen.
Das Buch ist in neun Kapiteln aufgebaut. Unter den Überschriften der ersten vier Kapitel „beherrschen“, „verwerten“, „erschöpfen“ und „zerstören“ betreibt sie eine Art philosophische Zeitdiagnose. Das Kapitel „revolution“ stellt gewissermassen den Umschwung dar. Mit ihm aktualisiert von Redecker einen zeitgemässen Revolutionsbegriff. Dieser wird mit dem Blick auf die genannten gegenwärtigen sozialen Bewegungen in den Kapiteln „retten“, „re-generieren“, „teilen“ und „pflegen“ entfaltet und somit veranschaulicht, dass sich von emanzipatorischer Seite her bereits wichtige Ansatzpunkte für die „Neugestaltung der Gesellschaft“ (Murray Bookchin) finden lassen. Im Folgenden möchte ich sechs Punkte ansprechen, die ich aus der Lektüre gezogen habe und dazu von Redecker in Zitaten selbst sprechen lassen.
Das Unfassbare begreifen
Was von Redecker insbesondere gelingt, ist, die katastrophalen Bedingungen, die Menschen mit einer Herrschaftsordnung der Zerstörung geschaffen haben, in Worte zu fassen, also eine Sprache zu finden, um sie unverstellt auszudrücken, ohne jedoch dabei zu resignieren, dogmatisch oder menschenfeindlich zu werden. Dies sieht sie jedoch bei den jüngeren Bewegungen selbst schon angelegt, denn bereits „in der Katastrophenvergegenwärtigung durch Akteur_innen von Fridays for Future und Extinction Rebellion zeichnet sich eine Haltung ab, die die abgestumpfte Indifferenz gegenüber der Welt jenseits des eigenen Eigentums, die uns moderne Sachbeherrscher_innen auszeichnet, durchbricht. Wir könnten anders leben, wir könnten in unseren alltäglichen Handlungen andere Muster reproduzieren“ (S. 15).
Die menschengemachte Apokalypse zu beschreiben ist eine grosse Herausforderung. Ebenso schwierig ist es allerdings auch, klar zu formulieren, worin die Probleme bestehen. So insbesondere in der Form des Privateigentums: „Die Version des Eigentums, die uns vollkommen selbstverständlich scheint, ist historisch einmalig. […] Die Form, die die westliche Moderne für das Besitzen gefunden hat, lautet ‚absolute Sachherrschaft‘. Sie beruht auf der Vorstellung grenzenloser Verfügung, und sie hat mit Kolonialismus und kapitalistischer Globalisierung jeden Winkel der Welt erobert. Das Prinzip der Sachherrschaft ist in unseren alltäglichen Weltbezug eingesickert – auch da, wo wir uns gar nicht mehr direkt auf Eigentum beziehen“ (S. 23). Bekanntermassen verdinglicht der kapitalistische Verwertungszusammenhang auch soziale „Beziehungen nach dem Muster des Eigentums [und] erlaubte es zumindest den weissen und männlichen Besitzlosen, sich ebenfalls zu Sachherrschern aufzuschwingen. Ihr ‚fiktives‘ Eigentum kann als geronnene Herrschaft verstanden werden; es besteht in den Verfügungsansprüchen, die die modernen Institutionen der Sklaverei und patriarchalen Ehe bereitstellen. Die Besitzlosen, so könnte man sagen, wurden auf Kosten der Machtlosen entschädigt“ (S. 28). Auf den Punkt gebracht ist das „Prinzip, das die Lebensgrundlagen absaugt, […] die kapitalistische Verwertung selbst. Sie zielt, selbst wenn sie mit dessen Grundbaustein handelt, nicht aufs Leben, sondern auf den Profit“ (S. 48).
Gerade die sachliche und abstrakte Herrschaft macht es so schwierig, sie wirklich zu erkennen und so weiss man „gar nicht, dass man beherrscht wird. Oder selbst wenn man es vage spürt, weiss man nicht, wovon – jede Verschwörungstheorie, ganz besonders aber der moderne Antisemitismus, zehrt von dieser Undurchschaubarkeit“ (S. 55). Sind keine klaren Begriffe und Vorstellungen von den Herrschaftsverhältnissen vorhanden, so erstaunt es auch nicht, dass manche Linken „die Rückkehr des Staates in der Pandemie als Bruch mit dem Neoliberalismus des Staates begrüsst [haben]. Aber wenn, wie die Politikwissenschaftlerin Wendy Brown nahelegt, das Hochziehen von Mauern gerade ein Anzeichen schwindender Souveränität ist, liesse sich die Demonstration staatlicher Souveränität in der Quarantäne auch als ihr letztes Aufbäumen lesen. Indessen geht die eigentliche Souveränität – die Macht, das Leben der Bevölkerung zu durchdringen und zu regieren – in einem furiosen Digitalisierungsschub an die Techgiganten über“ (S. 186).
Die moderne Souveränität des Staates stülpt sich nach von Redecker gewissermassen über das gesellschaftliche Leben, weswegen die Abschottungen und Abriegelungen, welche Nationalstaaten zur Regulierung der Pandemie einführen zwar kurzfristig schützen könnten, aber – in meinen Worten – zugleich offenbar wird, dass der Staat nicht auf die Bedürfnisse von Menschen eingehen kann. Dagegen steht in „allen wirklich rettenden Praktiken […] am Anfang ein anderer Antrieb als der viraler Furcht. Die Rettung geht von einer anderen Angst aus als die Abriegelung. Denn eine Angst, die auf Verbundenheit vertraut, kann der Unwägbarkeit ins Auge sehen […]. Es ist immer noch Angst, aber eine Angst, die sich stillen lässt: in jedem Moment, überall, durch das Leben selbst, das bereits verbunden ist“ (S. 189).
Nihilismus und Hoffnung werden hergestellt
Ein weiterer Punkt, den ich in Revolution für das Leben finde, ist, dass Nihilismus und Hoffnung gesellschaftlich erzeugt werden. Dies berührt eine Dimension des Sinns, mit welchem sich Einzelne und Gruppen in einem gesellschaftlichen Zusammenhang sehen. Nihilismus und Zynismus sind Produkte der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaftsordnung und führen in einem Kreislauf des Todes zu ihrer Aufrechterhaltung. Doch es bestehen auch andere Verhältnisse neben dieser. Dazu gilt es wiederum den Tatsachen ins Auge zu schauen: „Die Bedingung dieses Spiels ist eine […] Elimination: Die Auslöschung der Hoffnung auf andere, zärtlichere Verhältnisse. Diese Elimination wird mitunter tätlich an jenen vollstreckt, die an diese Hoffnung, die keinem fühlenden Wesen gänzlich fremd sein kann, erinnern. Diese Hoffnung muss zerstört werden, weil man sich keine Blösse leisten kann – und vielleicht auch nicht eine einzige weitere Enttäuschung verkraften würde“ (S. 60f.). Es stimmt, wir sind „allesamt in der Verwüstung der Erde eingespannt. Der Kapitalismus, die sachliche Sachherrschaft, ist unsere Lebensform. Eine andere haben wir nicht. Nicht nicht. Gegen die lebensbedrohliche, zerstörerische, herrische Dimension unserer Lebensform hat sich in den letzten Jahren ein massives Aufbegehren mit neuen Akzenten artikuliert. Die Klimabewegung leistet unmittelbare, drängende Sachherrschaftskritik“ (S. 91).
Während das saturierte, aber Sinn-entleerte, Bürgertum darauf spekuliert, dass seine Kinder in der Klimagerechtigkeitsbewegung früher oder später wieder „realistisch“ werden, besteht „der Realitätssinn der Katastrophenvergegenwärtigung gerade darin, dass für langsames Heranreifen gar keine Zeit mehr ist. […] Die eklatant auseinandergehenden Einschätzungen mögen auch verraten, dass wir uns tatsächlich in einer revolutionären Situation befinden. Es zeichnet einschneidende Krisen aus, dass in ihnen die Grundüberzeugungen so auseinanderdriften, dass verschiedene Haltungen einander vollkommen unentzifferbar werden – darunter auch die neuen, die womöglich ihren Teil zur Lösung der Krise werden beitragen können“ (S. 102). Das viele in dieser Situation „menschheitsverdrossen“ werden, ist zwar nachvollziehbar, aber für von Redecker eine im Grunde genommen infantile Verweigerung von Verantwortung (S. 105).
Vielmehr entsteht Hoffnung gerade in den Erfahrungen, die Menschen in widerständigen Bewegungen machen selbst. Vor allem, wenn sie auf gemeinsame Ziele ausgerichtet sind. „Dieser Widerstand, der die Frage der Lebensrettung zur kollektiven Aufgabe erklärt, impft dagegen, sich im Ausnahmezustand die vermeintliche Normalität zurückzuwünschen. Er schafft Raum für eine grössere Sehnsucht: nach einer Welt, in der alle atmen können“ (S. 160). Verständlicherweise führt das Anliegen, ins Unbekannte aufzubrechen und den Kapitalismus endlich hinter uns zu lassen zu massiven Abwehrreflexen, auch beim progressiven Bürgertum oder Proletariern. Hinter der Angst nach Eigentums- und Statusverlust, verbirgt sich dabei vor allem eine Angst vorm Verlust der eigenen Identität. Doch ausgehend „von den Grundgesten der Lebensrettung liesse sich der durch die verlorene Identität entstandene Platz ganz neu füllen. Wir können uns am Abbau erstickender Einrichtungen orientieren, an voraussetzungsloser Verbundenheit und an überschäumender Freiheit. Wir können versuchen, das richtige Verhältnis zum Leben einzunehmen. Leben, das anderes Leben erhält, braucht keine auf sozialen Tod gestützte Identität“ (S. 177).
Gerade die existenzielle Unverfügbarkeit über das individuelle menschliche Leben, bringt Menschen auf den Abweg, sich panisch an Privateigentum zu klammern. Doch die „Revolution für das Leben kämpft nicht gegen den Tod. Sie kämpft gegen den sozialen Tod, gegen das differenzielle vorzeitige Sterben. […] An erster Stelle aber gilt die Revolution für das Leben dem Weiteratmen, der Eroberung von Freiheit und wilder Verbundenheit. Will sie sichergehen, dass die geretteten Leben nicht im nächsten Augenblick wieder von Herrschaft eingeholt werden, muss sie sich ausdehnen“ (S. 192f.). Hoffnung entsteht, wenn sich die Grundbedingungen der Herrschaft nicht mehr akzeptiert und andere Handlungen vollzogen werden. Dafür gibt es die Namen „Abolition. Aktiver Streik. Vergesellschaftung. Weltwahrung. […] Diese Arbeit geschieht an der Kreuzung zweier Sehnsüchte. Die eine ist der unbändige Drang nach Befreiung aus der kapitalistischen Herrschaft. […] Die […] zweite Sehnsucht […] [ist], endlich in die befreite Zukunft eintreten zu können. Die Sehnsucht nach solidarischen Beziehungsweisen und Weltliebe. Die Sehnsucht nicht nur nach der Abwesenheit von Herrschaft, sondern nach der Anwesenheit freier Gezeiten“ (S. 285f.).
Der Bewegung zugewandt
Revolution für das Leben beinhaltet eine klare Bezugnahme auf die emanzipatorischen sozialen Bewegungen unserer Zeit. Wie erwähnt denkt sie von Redecker nicht lediglich abstrakt mit, sondern nimmt ihre Perspektive ein, ohne deswegen ihre Position als Philosophin zu verlassen. Bereits zum Einstieg schreibt sie: „Die Befreiung von kapitalistischer Herrschaft […] ist ein hehrer Anspruch, sondern eine dringende Aufgabe. Denn der Kapitalismus zerstört das Leben. Die Befreiung von kapitalistischer Herrschaft ist auch deshalb mehr als ein blosser Anspruch, weil sie an verschiedenen Stellen bereits stattfindet. Wir erleben eine Revolution für das Leben. Seit knapp zehn Jahren zeigt sich ein neuer Typus von Protest. Dieser Protest ist weder eine Wiederaufnahme der sozialen Revolutionen von vor gut einhundert Jahren noch lediglich eine Fortsetzung der über fünfzig Jahre währenden Bürgerrechtsbewegungen. Die neuen Formen des Widerstands gehen von einer Mobilisierung für akut bedrohte Leben aus und kämpfen für die Aussicht auf geteiltes, gemeinsam gewahrtes und solidarisch organisiertes Leben“ (S. 9f.).
untergrund-blaettle.chDie antirassistische Bewegung Black Lives Matter in den USA, die feministische Ni una menos, die vor allem in Lateinamerika und Südeuropa verbreitet ist, und schliesslich die globale Klimagerechtigkeitsbewegung, richten sich bereits nach etwas anderem aus. Sie brechen mit den Strukturen des Systems, wobei sie von vielen Menschen getragen werden, anstatt lediglich politische Szenen zu sein. In ihrer dezidierten Bezugnahme auf Marx verdeutlicht von Redecker, dessen Gesellschaftsanalyse und -kritik verstanden zu haben – und anwenden zu wollen. Dabei gilt es allerdings über den Fokus auf Lohnarbeit hinauszusehen. Denn eine „auf die Lohnarbeit beschränkte Klassenpolitik schwächt den Klassenkampf und befördert Plünderungsdynamiken in neuen Grenzgebieten. Sie verschiebt die Schlachthöfe. Dabei könnte Klassenpolitik so viel grössere Wucht haben. Denn Klasse, aus Sicht einer Theorie, die Kapitalismus als sachliche Sachherrschaft versteht, ist alles, was im Dienste der Wertschöpfung eingehegt und geplündert wird“ (S. 83).
Gerade Lohnarbeit, die vorwiegend von Frauen* ausgeübt wird, besteht entweder in absolut prekären Jobs oder informeller Arbeit. Oder sie ist wiederum so „systemrelevant“ (Krankenhaus, Pflegeheime etc.), dass eine einfache Verweigerung unverantwortlich wäre. Somit setzt der „Streik als Tarifstreit und Arbeitskampf […] reguläre Beschäftigungsverhältnisse voraus, an die eine Gewerkschaftsorganisation angelehnt ist. Ein Grossteil der weiblichen Arbeit wird aber unter anders verfassten Bedingungen geleistet und ist mit dem Dilemma konfrontiert, eigentlich unbestreikbar zu sein“ (S. 203). In einer anderen Gesellschaft ist „[b]edürfnisorientierte Arbeit ist nur dann frei, wenn sich die Fürsorgenden so vergesellschaften, dass keine_r je allein vor einer Aufgabe steht und jede_r ihrerseits ihre Bedürfnisse anerkannt weiss“ (S. 221). Dies setzt viele komplizierte Aushandlungsprozesse voraus, die jedoch erforderlich sind, um die eigenen Verhältnisse selbst zu gestalten (S. 233).
Mit Überlegungen zur Vergesellschaftung wirft von Redecker auch die Frage nach der Enteignung auf, auf welche sie jedoch nicht näher eingeht, da ihr Fokus eindeutig auf der Veranschaulichung möglicher sozialistischer Wirtschaftsweisen liegt. Im Sinne von Gustav Landauer sei jedoch noch kaum etwas dafür getan worden, diese zu ermöglichen (S. 205). Denn werden in direkten Aktionen „die Ressourcen der widerständige Körper bereits sehr effektiv geteilt. Mit der Vergesellschaftung der Trichter und Bagger geht es indessen nicht so schnell. Die Proteste eröffnen bestenfalls einen Ausblick auf ein Ende jener Wirtschaft, in der Grosskonzerne mit der Verwandlung von Kohle in Treibhausgas Gewinne einfahren“ (S. 240). „Vergesellschaftung kann auch heissen, dass wir endlich entscheiden können, bestimmte Sachen in Ruhe zu lassen. Vergesellschaftung verleiht demokratische Entscheidungsfreiheit über Güter. Man kann es aber auch andersherum denken, von der Vergesellschaftung als bewusster Wiederannahme des Abgespaltenen her: Da wir ohnehin schon mehr CO2 in der Atmosphäre haben, als uns lieb ist, wollen wir auf keinen Fall mehr davon“ (S. 249).
Als Bild von widerständigen Gemeinschaften, bedient sich von Redecker jener Gruppen entlaufener Sklaven, den sogenannten „Maroons“. Damit geht es ihr jedoch nicht um eine romantisierte Projektion. Vielmehr wäre die „Wildheit der Maroons […] gerade keine Wildheit, wie sie die koloniale Phantasie auf aussereuropäische Gesellschaften projiziert, sie ist kein Ursprungs- oder Naturzustand. Sie ist das Ergebnis einer Selbstbefreiung aus der Sachherrschaft und markiert die anhaltende Weigerung, unter verbesserten Bedingungen wieder in ihre überholten Institutionen einzusteigen. Das Gegenprogramm zur Sachherrschaft ist ein Leben in wilder Verbundenheit. Es unterläuft nicht nur Grenzbefestigungen, sondern fügt sich auch anders in seine lebendige Umwelt“ (S. 182). „Wildheit“ wird von Redecker zur Chiffre für eine grundlegend andere Lebensweise, in welche wir aufbrechen können. Denn unsere „Natur legt unser Leben nicht fest. Unsere Wildheit muss nicht Terror, sie kann nährende, hochsprudelnde Freiheit sein. Das wiederum bedeutet auch, dass die Angst um das Leben uns nicht geradewegs unters Schwert laufen lässt. Wir können uns auch daran machen, untergründige Zusammenhänge auszubilden und sie köstlich zu füllen. So würden wir nicht nur einander das Leben retten, sondern auch das Leben selbst: Es wäre pulverisierende Verbundenheit und kein passiver Besitzstand“ (S. 183).
Arbeit am Revolutionsbegriff
Ein zeitgenössischer Begriff von Revolution wird nicht am Schreibtisch geschaffen, sondern geht aus den Kämpfen von widerständigen Gemeinschaften selbst hervor, insbesondere dort, wo sie sich verbünden und die Systemfrage stellen. Insofern kann von Redeckers Denken per se nur Versuch und Suchbewegung sein, um zu beschreiben, was sich teilweise bereits längst vollzieht. Gleichzeitig scheint die Handlungsfähigkeit einer emanzipatorischen Linken aus verschiedenen Gründen sehr begrenzt zu sein: „9/11. Finanzkrise, erstarkender Autoritarismus, Klimawandel, Migration, Covid-19 – wir starren gebannt und ungläubig auf die Ereignisse wie auf ein hypnotisches Glücksrad. Wir erkennen darin weder Sinn noch unser eigenes Wirken“ (S. 128). Um die Dinge umgestalten zu können, gilt es ein Verständnis dafür zu gewinnen, dass Revolution nicht irgendwie geschehen, sondern von Menschen gemacht werden.
Damit ist kein einmaliger Kraftakt in einem revolutionären Ereignis gemeint, sondern tausende Tätigkeiten vor, während und nach grösseren Eruptionen: „Die Revolution war keine immer wieder passierte Durchgangsstation, sondern der Ausgangspunkt für eine neue Ordnung und weitere Fortschritte in ihr. Und die Revolution verdankte sich weder kosmischen noch astronomischen Gesetzen. Sie geschah nicht automatisch und nicht von selbst; sie wurde von den Menschen gemacht, die erkannten, dass ihre Lage kein blosses Schicksal war, sondern das Ergebnis vergangener und gegenwärtiger Herrschaft. Die Erkenntnis, die gesellschaftlichen Verhältnisse gestalten zu können, ist keine einmalige Einsicht, es ist eher eine Erfahrung, die sich im Zuge des Aufbegehrens und der Selbstregierung einstellt und rückblickend verfestigt“ (S. 131). In diesem Zusammenhang fokussiert von Redecker nicht auf die politische Revolution, sondern den Generalstreik als historisches Vorbild, von dem sie ausgeht. „Der Stillstand dient der proletarischen Revolution als Druckmittel, um die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu erzwingen. Per Generalstreik soll die kapitalistische Maschinerie zum Halten gebracht und die Regierung der Besitzenden in die Knie gezwungen werden. […] Dieser konzertierte Stillstand setzt einen ungeheuren Grad an Organisation voraus“ (S. 142).
Aus verschiedenen Gründen, lässt sich das Konzept der Revolution nicht einfach auf die heutige Situation übertragen. Vor allem aber deswegen: „Wenn die Revolutionen des 19. Jahrhunderts die Lokomotiven der Geschichte waren, dann müssten Revolutionen inzwischen auch der CO2-Ausstoss der Weltgeschichte sein. Wir haben die Erde mit nahezu unvergänglichen Stoffen wie Atommüll und Mikroplastik überzogen, wir haben die Sonneneinstrahlung erhöht und den Meeresspiegel angehoben. Wir haben nicht nur produziert, sondern auch emittiert und zerstört. Das sind unsere Kräfte. Soll man sich die aneignen? Muss man sie nicht vor allem unschädlich machen? […] Derzeit kontrollierten wir solche Effekte, die sich verselbständigt haben, nicht, sondern sie uns: sachliche Herrschaft. Aber die Effekte beruhen auf etwas, das wir kontrollieren sollten: auf menschlicher Schaffenskraft. Eine umfassende soziale Revolution muss sich zu den im menschlichen Handeln freigesetzten Kräften verhalten. Mit dem Bremsen allein ist es nicht getan, denn es geht nicht nur darum, das Kapital und die Viren und die Nachfolger des Kapp-Putsches zu stoppen, sondern darum, all das, was wir blind angerichtet haben, in selbstbestimmte Gestaltung zu überführen“ (S. 145f.).
Gegen die Aneignung, welche in früheren Revolutionen erklärtes Ziel der Revolutionärer*innen war, setzt von Redecker die Vorstellung einer „Weltwiedernahme“, mit welcher gewissermassen die früher stets wenig beleuchtete Dimension der Entfremdung an Bedeutung gewinnt. Damit können wir „den Lauf der Geschichte nicht aus ihrer eigenen Bewegung heraus bändigen. Genauso wenig können wir uns aus der Geschichte herauskatapultieren und von aussen alles wie eine Modelleisenbahnanlage mit gigantischen Kräften und Ressourcen umbauen. Wir sind Teil der Welt. Wir müssen aufhören, ihrer Herr werden zu wollen“ (S. 146). Offensichtlich ist eine schlagartige Umkehr und abrupte Umwälzung des gesamten Herrschaftszusammenhangs weder vorstellbar noch erwartbar. Doch die „Unmöglichkeit einer plötzlichen Kehrtwende muss nicht zur Verzweiflung an der Revolution führen. Denn diese muss nicht notwendig als grosse Kaperung vorgestellt werden. Kein grandioser Kipppunkt, an dem jäh die Köpfe rollen […] sondern ein langsamer, aber allgegenwärtiger Umbau des Alltags. Eine ‚Revolution für das Leben‘, die sich der Zerstörungswut der kapitalistischen Gesellschaft in den Weg stellt, basiert auf einem ‚Leben für die Revolution‘. Damit ist gerade keine heroische Opferleistung gemeint, sondern eine stetige, tagtägliche Übung“ (S. 147).
Wie bereits in ihrem Buch Praxis und Revolution (2018) bezieht sich von Redecker dabei auf den Begriff der „Zwischenräume“ (nennt diese allerdings nicht mehr „interstitielle Räume“). „Wenn wir eine Revolution und nicht nur einen spektakulären Zusammenbruch sehen wollen, müssen wir aus den Zwischenräumen des Alten heraus bereits das Neue schaffen. Es geht nicht darum, das brüchige Gestell in seiner jetzigen Form zu reparieren, schon gar nicht aus dem Bausatz der Sachherrschaft heraus. Wir müssen es mit Verbindungen neuer Art überziehen. Wilde, bewegliche, freie Verbindungen“ (S. 153). Für von Redecker können „solche Zwischenräume […] in das Zentrum revolutionärer Politik gestellt werden. Anstatt zur Fortsetzung eines falschen Fortschritts wird die Wiederholung dann zu etwas ganz anderem: Sie wird zur Wiederannahme von Welt. Wiederannahme des Unterdrückten als Befreiung, Wiederannahme des Abgespaltenen als Verbundenheit, Wiederannahme gebrochener Gezeiten als Zukunft“ (S. 148). Mit „Gezeiten“ führt sie zuvor einen Begriff ein, welcher auf Rhythmen der natürlichen Welt verweist um sich vernünftigerweise an diesen zu orientieren. Das Synchronisieren und Zusammenführen ist im Übrigen ein wesentlicher Bestandteil eines erneuerten Revolutionsverständnisses: „Was aus den diversen, oft auch gegenläufigen Rebellionen für das Leben eine Revolution macht, ist die Verweigerung der Abstufung und die Verknüpfung des Kampfs für das Leben mit dem für die geteilten Lebensgrundlagen, die allen gleichermassen zustehen“ (S. 151).
Eine der grossen Vorbehalte gegen revolutionäre Veränderungen besteht freilich in der Angst vorm Verlust von Individualität, welche heutzutage auf schlechte Weise durch das Eigentum gestützt ist, für diejenigen, welche über welches verfügen. Die Angst vor der kommunistischen Gleichmacherei steckt weiterhin in den Köpfen der Leute. Doch wir „müssen in dieser Revolution nicht untergehen, denn unsere Individualität, unsere Fähigkeit zu Vereinzelung, zu Besonderheit und Abstandnahme, hängt nicht am Willkürwillen über Eigentum, sondern daran […], die Geschichte unserer speziellen Weltverwobenheit erzählen zu können“ (S. 156). Eindeutig geht es im hier entwickelten Verständnis nicht um die Verstaatlichung von Produktionsmitteln, mit welcher die Dinge zentralistisch gerichtet werden sollen. Schon gar nicht auf einen Schlag. „Die Revolution für das Leben ist keine Weltrettung aus einen Schlaf. Sie stellt sich den von Menschen unversehens freigesetzten Kräften, aber ohne sie sich allesamt anzueignen. Sie verwahrt sich vielmehr dagegen, dass diese Kräfte weiter auf die bisherige Weise aufgebracht und Gewaltakte als Kraft verherrlicht werden. […] Überall greift sie gekappte lebendige Beziehungen auf, um sie in eine andere Wirtschaft zu überführen. Die Revolution für das Leben streikt gegen die Erschöpfung und Abtötung und kämpft um eine Arbeit, die nährt: alle, aber allen voran die Arbeitenden selbst“ (S. 194).
Mit der Ablehnung des sogenannten „freien Marktes“ befürwortet von Redecker keineswegs eine graue Planwirtschaft altbackenen Typs. Denn an „der Planwirtschaft war nicht das Planen falsch, sondern die Wirtschaft: Auch als sozialistische brach sie nicht umfangreich genug mit den Mustern der Sachherrschaft. […] Die Revolution für das Leben setzt dagegen auf eine Planung, die die Freiheit und Spontaneität ihrer Elemente erhöht. Sie muss sich aus einer Demokratie der Teilenden heraus ergeben und das Geteilte lebendig halten – frei von Sachherrschaft und Verwertung“ (S. 251). Durch heutige technische Koordinationsmöglichkeiten sei eine differenziert abgestimmte Planung durchaus vorstellbar und möglich, wobei eine „sozialistische Wirtschaft, die den Markt als primären Verteilungsmechanismus überwinden will, […] eine Infrastruktur bereitstellen [muss], die dem individuellen Distanzbedürfnis gerecht wird. Auch dem Mark gelingt das bei weitem nicht immer“ (S. 256).
Wichtig ist, dass in Revolution für das Leben nicht einfach einem blumigen Voluntarismus das Wort geredet wird. Die Rebellion gegen das Privateigentum und seine Vergesellschaftung sind wesentliche Voraussetzungen für den sozial-revolutionären Prozess. Und sie stossen zweifellos auf enormen Widerstand. Aus philosophischer Sicht bedeutet dies vor allem, dass die zwanghafte Identifikation des eigenen Personenstatus mit dem knechtenden Privateigentum durchbrochen werden muss. Ein anderes Selbstverständnis der Menschen muss her, in welchem sie sich nicht als Privateigentümer an sich selbst verstehen, was ihnen – je nach Stufen in der gesellschaftlichen Hierarchie – auch die Rechte und Möglichkeiten gibt, andere zu degradieren und auszubeuten. Von Redecker findet für diesen staatsbürgerlichen Subjektstatus die Bezeichnung des „Phantombesitzes“, welcher sie die schon in den Bauernkriegen verwendete Bezeichnung der „Gemeinen“ entgegensetzt (S. 264).
Ein Weltverhältnis wiedergewinnen
Ausbeutung und Unterdrückung abzuschaffen und durch selbstbestimmte, sinnvolle Arbeit und – im Sinne Hannah Arendts – politische Teilhabe und Handlungsvermögen zu ermöglichen, sind wesentliche Bestrebungen der Revolution für das Leben. Darüber hinaus bezieht von Redecker jedoch auch die Dimension der Entfremdung in ihre Überlegungen ein, wobei überrascht, dass sie diese nicht als solche benennt. Worum sollte es aber sonst gehen, wenn sie beispielsweise schreibt: „Es mag abwegig scheinen, dass wir uns in einer Welt, in der 7,7 Milliarden Menschen leben, verlassen fühlen sollten. Aber die Verlassenheit ist keine Frage der Existenz anderer, sondern der Beziehung zu ihnen. Genauso, wie man auch von wenigen Menschen beengt sein kann, kann man unter vielen verlassen sein“ (S. 40). Oder auch, wenn sie meint, wir „verlieren nicht die Erde. Aber unsere vertraute Welt. Und wir können uns die kommenden Verluste nicht vorstellen, weil wir ohnehin schon weltlos leben“ (S. 108).
Im Unterschied zu manchen Schüler*innen, die bei Fridays for Future glaubten, erkannt zu haben, dass „jetzt“ unbedingt etwas getan werden müsse, verweist von Redecker auf die dahinter wirkende Logik: „Wir zerstören die geteilte Welt, deren drohenden Untergang wir jetzt nicht wahrhaben wollen, in Wahrheit seit Jahrhunderten. Jede Eroberung, jede profitable Verschiebung der Frontlinie, jedes Vordringen in angeblich unbekannte Gefilde: alles immer nur Weltverlust, immer nur Kopie desselben Herrschaftsmusters. Usurpation, Rendite, Erschöpfung. Dann das Staunen, dass dieser Ort irgendwie nicht mehr taugt. Aufbruch zu neuen Ufern, um weiter die Welt verlieren zu können. Es liegt nicht am zukünftigen Ausmass der Katastrophe, dass wir sie so schwer zu fassen vermögen, sondern an unseren hergebrachten Beziehungen zu ihrem Objekt“ (S. 109f.).
Vor allem am oben bereits angedeuteten Begriff der ‚Gezeiten‘ wird deutlich, dass von Redecker die Wiedergewinnung eines anderen Weltverhältnisses als Voraussetzungen, Erfahrung und Ergebnis sozial-revolutionärer Transformationen ansieht. So formuliert sie: „Das stabile Klima, an dem man das wechselhafte Wetter mass, gibt es nicht mehr. Was wir verlieren, sind nicht nur Dinge in der Natur. Was den Wandel so bedrohlich und unabsehbar macht, ist, dass wir in gewisser Weise den Rahmen der Natur gesprengt haben. Wir haben die Zeit der Natur ausgehebelt, ihre Selbstorganisation in wiederkehrenden Kreisläufen oder ‚Gezeiten’“ (S. 116f.). Und: „Das Wesen des Weltverlusts ist ein Verlust der Zeit. Nicht nur in dem Sinne, dass uns die Zeit ausgeht, in der wir die Veränderungen noch aufhalten könnten. Sondern in dem Sinne, dass die Veränderungen die Zeitlichkeit selbst betreffen. […] Die kapitalistische Wirtschaftsweise […] haben wir auf dem Rücken der natürlichen Zyklen errichtet. Unsere sogenannte Zivilisation beruht darauf, mit der Abzirkelung von Eigentum natürliche Kreisläufe zu kappen und sie in der spiralförmigen, die Zukunft anpumpenden Verwertung vollzumüllen. Es wäre nicht weiter bedauerlich, würde nur dieser Zivilisation die Basis wegbrechen. Aber die von Eigentumsfixierung und Profitorientierung zerstörten Grundlagen sind die Grundlagen jeglicher Zivilisation und sämtlichen Lebens au der Erde: natürliche Kreisläufe“ (S. 120).
Damit verweist sie wie angeklungen erneut auf die ökologische Dimension eines erneuerten Revolutionsverständnisses, wobei in diesem Zusammenhang zu erwähnen ist, dass vor allem auch Murray Bookchin seit den 1970ern eben zu dieser Perspektive gearbeitet hat. Insofern wäre es plausibel gewesen, diesen zu nennen. So stellt sie fest, die „westliche revolutionäre Tradition mit ihren Kategorien von Freiheit, Gleichheit und Geschwisterlichkeit hat eine Leerstelle von der Grösse eines Globus. Freie, gleiche und sogar solidarische Beziehungen verlaufen zwischen Menschen, aber sie berühren nicht hinreichend die Lebensgrundlagen. […] Menschen können sich nur gemein machen, wenn ihr Geteiltes seinerseits frei von Sachherrschaft ist“ (S. 264). Statt Sachherrschaft also Weltwahrung – möglicherweise bewusst nicht ‚Bewahrung‘, weil es nicht lediglich um den konservativen Erhalt einer als äusserlich gedachten Natur geht, sondern um ein anderes Welt- und Selbstverhältnis. „Diese sorgende Einstellung ist keine Aufopferung, sie braucht auch keinen Altruismus. Sobald man sich unsere Abhängigkeit von den planetaren Lebensgrundlagen vor Augen führt, wird klar, dass die Weltwahrung eine Form der Selbsterhaltung ist; eine Selbsterhaltung, die die Abhängigkeit von anderem Leben offen zugeben kann und deshalb keiner Herrschaft bedarf“ (S. 274).
Bleibende Leerstellen auf der Suche
Nachdem ich mit dieser Zusammenstellung Interesse an einem gelungenen und tiefgründigen philosophischen Werk wecken wollte, was sowohl Aktiven in emanzipatorischen sozialen Bewegungen eine Reflexion über ihr Handeln ermöglichen, als dieses auch in einer breiteren Öffentlichkeit vermitteln kann, abschliessend noch zwei Kritikpunkte. Eva von Redeckers Revolutionsverständnis kommt anarchistischen Vorstellungen deutlich näher als anderen sozialistischen Strömungen. Wer einen Blick vorheriges Buch Praxis und Revolution wirf, welches aus ihrer Dissertation hervorgegangen ist, kann mit etwas Kenntnis gut nachvollziehen, dass ihr Denken wesentlich von Gustav Landauer beeinflusst ist, den sie plausibel mit Marx, Hannah Arendt, der Kritischen Theorie, feministischen und postkolonialen Denker*innen verbindet.
Da ich hierbei keinen neutralen Standpunkt einnehme, hätte ich mir gewünscht, dass die Bezüge zum anarchistischen Denken insgesamt noch stärker herausgestellt wurde. Diese ergeben sich freilich nicht einfach aus den Texten, auf welche von Redecker sich bezieht, sondern aus den Praktiken, Erzählungen, Organisationsformen und Stilen der beobachteten Akteure in emanzipatorischen sozialen Bewegungen selbst. Als explizite Bewegung ist der Anarchismus schwach und dies auch in den USA. Zugleich sind aktivistische Szenen offensichtlich von anarchistischen Praktiken und Denkweisen so tief durchdrungen, wie es auch bei der globalisierungskritischen Bewegung der Fall war. Meiner Ansicht nach wäre die deutlichere Benennung anarchistischer Elemente in derartigen Bewegungen ein Schritt dorthin, damit diese sich noch stärker systemkritisch ausrichten, radikalisieren, aber auch auf Dauer organisieren könnten.
Insofern zielt mein Kritikpunkt nur zur Hälfte auf von Redecker selbst, da sie gewissermassen Aktiven in Bewegungen das Wort gibt und diese für sich sprechen lässt und zugleich nicht verschweigt, woher diese ihre Inspirationen bezieht. Dennoch wäre es schön, ein klareres Verständnis davon wiederzugewinnen, was Anarchismus eigentlich ist. In von Redeckers Worten klingt dies unter anderem so: „Der Anarchismus, der eine Welt ohne Herrschaft anstrebt, setzt darauf, unser Zusammenleben auf eine bestimmte Vereinbarung neu zu gründen: dass wir uns gegenseitig helfen werden, ohne Schuldigkeit und Entschädigung – ‚aus Prinzip‘ sozusagen. […] Sollte eine_n ein Unglück treffen, kommen alle für den Schaden auf. Der anarchistische Horizont nimmt konkrete Beziehungen in den Blick, aber er vermengt Solidarität nicht mit Vertrautheit. Man braucht sich nicht einander zu ähneln und nicht mal näher zu kennen, um eine mutualistische Reisegesellschaft zu bilden. Gegenseitige Hilfe schafft Beziehungen, sie setzt sie nicht voraus“ (S. 213). Die Formulierung ist zwar treffend und schön, verwischt jedoch praktischere Aspekte wie die Notwendigkeit von Propaganda, Bildung, Organisation oder auch Konfrontation, welche im Anarchismus grösstenteils herausgestellt wird.
Dies führt zum zweiten Punkt. Von Redecker geht ganz mit Landauer, wenn sie den Staat nicht zum Hauptgegner erklärt, welcher zerschlagen werden könnte, sondern vielmehr eine Haltung der Indifferenz und des Ignorierens ihm gegenüber einnimmt. Darin liegen durchaus einige Potenziale, zumal mit pseudo-radikalen Dogmen gebrochen wird, während ein kreativ-sozialrevolutionäres Schaffen im Vordergrund steht. Es ist nicht so, dass von Redecker sich gar nicht der Staatsmacht bewusst ist. Im Gegenteil schreibt sie, der „Hobbes’sche Leviathan auf den Agamben anspielt, der souveräne Staat, wurde wahrhaftig nicht errichtet, um die Angst der Mägde, Knechte, Tagelöhner_innen, Wandergesellen, Vagabund_innen, Kolonisierten, Sklav_innen und Ehefrauen zu bannen. Er schützt das Leben der Herren, mitsamt ihrem Hab und Gut“ (178f.). Und: „Damit einem sein Besitzstand […] unter normalen Bedingungen sicher gehört, muss man sich als Eigentümer also darein fügen, im Ausnahmezustand selbst unter der absoluten Sachherrschaft des Staates zu stehen“ (S. 179).
Ihrer Ansicht nach erhält der Staat also vorrangig den Kapitalismus aufrecht. Der letzte ist es jedoch, welcher als eigentliche Herrschaftsverhältnis angesehen wird. Dahingehend erachte ich von Redeckers Herrschaftsverständnis als verkürzt. Staat und Patriarchat scheinen mir genauso gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse zu sein. Von Redecker leitet jene zwar keineswegs sekundär aus dem Kapitalismus ab, sondern betont vielmehr ihre Verquickung. Zugleich merke ich, dass ich Probleme damit habe, ihrem Fokus auf kapitalistische Herrschaft einfach zu folgen. Ich gehe darin mit, dass das Kapitalismus Leben zerstört und abzuschaffen ist, dass kapitalistische Verhältnisse auch in Subjekte und soziale Beziehungen eingreifen und vor allem, dass sie als entpersonalisierte, strukturelle Herrschaft zu begreifen sind.
Möglicherweise sind es gerade diese Aspekte, die mich in von Redeckers Ausführungen etwas unzufrieden lassen: Dass sie für meinen Geschmack die Frage nach der Verantwortung in dem ganzen Schlamassel doch zu stark kollektiviert. Mit dieser Herangehensweise gelingt es ihr zwar, zum eigenständigen Handeln zu motivieren und durch die Verortung in grösseren Zusammenhängen auch die Hoffnung zu erzeugen, dass bereits viele bedeutende Auseinandersetzungen geführt werden und in die richtige Richtung gehen. Konfrontationen bleiben dabei jedoch nicht aus. Sie können nicht ausbleiben, wenn die Forderung nach Vergesellschaftung ernst gemeint ist.
Rezension zu Die Irrfahrten der Anne Bonnie von Koschka Linkerhand (Querverlag 2018)
zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #104, September 2019
von Simone
Als „Coming-of-Age-Geschichte“, als „Jugendroman“, bezeichnet die Leipziger Autorin Koschka Linkerhand ihren im letzten September erschienenen Roman Die Irrfahrten der Anne Bonnie, der schon einige Jahre zuvor die Grundlage für ein Theaterstück war. Das Setting ist das sogenannte „Goldene Zeitalter“ der Pirat*innen in der Karibik, wie es in der teils historisch fundierten, vor allem aber mythisch umwobenen Piratenlegende (offiziell) von Daniel Defoe im Buch A General History of the Pyrates (1724) bezeichnet worden war. Als Protagonist*innen dienen die Figuren der sich selbst suchenden Anne Bonnie, der mutigen, zwiespältigen Mary Reed und dem Captain „Calico“ Jack Reckham.
In meiner Umgebung wurde kürzlich ein Buch herumgereicht und vielfach gelesen, welches bald 40 Jahre auf dem Buckel hat. Nun ist dies kein Kriterium dafür, dass es sich um ein schlechtes Buch handeln muss – obwohl die Autorin dies im Nachwort selbst und selbstkritisch so sieht. Die Bibel ist beispielsweise auch eine Zusammenstellung von Märchen, die vor 3200 bis 1900 Jahre entstanden sind – und dabei können uns gute Märchen durchaus auch für unser Leben heute etwas sagen. Oder auch nicht. Mensch ließt sie auf jeden Fall immer von der jeweiligen Zeit aus und projiziert Vorstellung auf die Vergangenheit zurück… Im Gegensatz zur Bibel ist Svende Merians Buch nicht patriarchal orientiert, sondern stattdessen klar feministisch positioniert. Die Vorstellung vom Märchenprinzen, der kommt und seine Erwählte bis zum Lebensende glücklich macht, hat die junge linke 24-jährige Frau aus Hamburg – wie viele, vielleicht sogar die meisten – in der bürgerlich-kapitalistischen und patriarchalen Gesellschaft des 21. Jahrhunderts nach wie vor verinnerlicht. Und das trotz fünf Jahren Frauengruppe und diversen, zweifellos richtig beschissenen Erfahrungen mit Typen von denen sie sexuell ausgebeutet, dumm gemacht und abhängig gehalten wurde.