Keine richtige Bank im falschen Kapitalverhältnis

Lesedauer: 4 Minuten

Zu Fernando Pessoas Ein anarchistischer Bankier

An einem verregneten Samstagvormittag las ich auf die Empfehlung einer Person hin die knappe Schrift Ein anarchistischer Bankier von Fernando Pessoa. Der zu seinen Lebzeiten fast unbekannte Schriftsteller, welcher heute als einer der bedeutendsten portugiesischen Schriftsteller mit einem eigenen Stil gilt, hatte die Erzählung 1922 verfasst.

Das Setting ist simpel: Ein völlig bedeutender Gast fragt im Hause seines Gastgebers nach dessen vermeintlicher Vorgeschichte. Er hatte gehört, der erfolgreiche Banker wäre früher Anarchist gewesen. Daraufhin erwidert jener, dass er es immer noch sei; dass er seinen anarchistischen Vorstellungen weit eher gerecht werden würde, als Gewerkschafter oder jene, die individuelle Gewalttaten ausüben. Dieser denkbar weite Widerspruch dient nun zum Anlass einer monologisierenden philosophischen Abhandlung.

Der Gastgeber sieht durchaus die gesellschaftlichen Übel, welche die Anarchist*innen anprangern. Seit seinem jungen Erwachsenenalter habe er ihre Flugblätter gelesen und ihre Diskussionen verfolgt. Daher prangert er die Klassengesellschaft, ebenso wie die Kirche und die institutionalisierte Ehe an. Als Anarchist sieht er diese als widernatürlich und irrational an. Im Sinne einer Stirner’schen Egoismus meint der Gastgeber allerdings, dass diese herrschaftlichen Institutionen und Beziehungen vor allem aus kollektiven Fiktionen ergeben. Daher bringe es nichts, eine Anzahl von Kapitalisten oder Politikern umzubringen oder militante Arbeitskämpfe zu führen. Aufgrund des fiktionalen Charakters gesellschaftlicher Herrschaft, würde diese weiterbestehen und nicht grundlegend überwunden werden.

Die Anarchist*innen, welche dagegen von der Schaffung sozialer Gerechtigkeit motiviert sind und der Vision einer „freien Gesellschaft“ anhängen, welche sie mit verschiedenen Mitteln erkämpfen wollen, propagierten damit unbewusst neue Fiktionen, die es zu problematisieren gilt. Und dies umso mehr, als dass ihre Ideologie sie zu einem dumpfen und bornierten Kollektiv zusammenschweißt, was sich selbst genügt und auf dem Level von mehr oder weniger geteilten Meinungen verharrt. Darüber hinaus verhindere ihre ideologische Verblendung, dass sie sich ernsthaft Gedanken über den Übergang zu einer anderen Gesellschaftsform machen würden.

Der Bankier sinnierte in der Vergangenheit darüber, inwiefern er selbst für die Verwirklichung höherer Idealen wie der sozialen Gerechtigkeit leben sollte, kam aber zum Schluss, dass dies verschwendete Zeit und Energie wäre. Erstens ersetzte er damit bloß eine christliche Haltung, die auf abstrakten Verpflichtungen, Schuld und außerweltlicher Anerkennung beruht. Zweitens muss es in der anarchistischen Herangehensweise darum gehen, dass sich die Individuen konkret selbst befreien, statt auf eine Erlösung irgendwann oder die Revolution in der Zukunft zu setzen. Drittens stelle der bereits erwähnte Kollektivgeist in der anarchistischen Szene im Grunde genommen ein neue und schwer zu greifende Form von Herrschaft dar. Einzelne ordnen sich dem angenommenen Gemeinschaftssinn unter (der voller Vorurteile, Mutmaßungen. Verkürzungen usw. ist), um Anteil an der sozialen Gemeinschaft zu haben.

Umgekehrt möchte der „philosophische Anarchist“ selbstverständlich anderen weder seine Ansichten aufdrücken, noch sich von diesen in seinen eigenen Aktivitäten hemmen lassen. Wenn die stärkste gesellschaftliche Fiktion aber das Geldverhältnis sei, zieht er den vermeintlich konsequenten Schluss, dass er umso freier wäre, je mehr er über Geld verfüge – und sich damit dessen imaginärer Verfügung über ihn entziehen würde. Dass er dazu bestimmte Fähigkeiten, wie Intelligenz und Initiative mitbringe, stimme, wäre allerdings keine „gesellschaftliche Fiktion“, sondern eine natürliche Veranlagungen, die man schlecht kritisieren könne, selbst wenn sie möglicherweise über Generationen (von ungleichen Voraussetzungen) geprägt und damit naturalisiert wurde.

Auch einhundert Jahre nach der Verfassung dieser Erzählung ließt Ein anarchistischer Bankier kurzweilig und ist interessant. Meiner Ansicht führt Pessoas soziale Unfähigkeit, die mit einer blühenden Phantasie einhergeht, zur wichtigen Kritik am Kollektivgeist, welcher sich auch in anarchistischen Szenen finden lässt. Menschen darin übernehmen teilweise irgendwelche Dogmen, Meinungen, romantischen Phrasen, Stile und Feindbilder um sich sozial zugehörig zu fühlen. Der unreflektierte Bullenhass ist sicherlich – trotz aller Berechtigung einer Kritik der Polizei und der Bestrebung, diese vollständig abzuschaffen – einer der deutlichsten Ausdrücke dafür. Ebenso ist die Kritik an der Erschaffung neuer ideologischer Vorstellungswelten und Moralsysteme wichtig.

Problematisch wird es, wenn Pessoa in seiner selbstbezogenen Eigentümlichkeit und seiner Rolle eines verkannten Genies, Menschen abspricht – trotz ihrer ideologischen Prägung, welche sie neue Ideale aufstellen lässt, sowie ihres Bedürfnisses nach sozialer Zugehörigkeit – sich eigene Gedanken zu machen und reflektieren zu können. Weiterhin ist die Folge seiner egoistischen Denkweise, dass er die gesellschaftlichen Voraussetzungen für seine eigenen Fähigkeiten leugnet, obwohl ihm durchaus bewusst ist, dass er über Privilegien verfügt, die aus einem ungerechten gesellschaftlichen Zustand ergeben. In seinem Abwehrreflex, sich dafür „nicht schuldig“ fühlen zu wollen, kommt gerade seine Verhaftung in religiösen Moralsystemen zum Ausdruck, welche ihn nicht zu einer kollektiv gestalteten Ethik führt. In seiner Rebellion gegen den Kollektivgeist, der sich auch in anarchistischen Szenen findet, verweist die krampfhafte Distanzierung dennoch auf den versagten Wunsch nach Anerkennung.

Mit der Betonung des fiktionalen Charakters von Herrschaft gelangt er zu einer tatsächlichen Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, relativiert jedoch die Tatsache, dass Menschen objektiv davon profitieren, während andere in Armut und Dummheit gehalten werden. Daher ist Rechtfertigung der individuellen Selbstbefreiung – welche dann in die absurde Schlussfolgerung mündet, selbst Banker zu werden – eine Überbetonung der persönlichen Handlungsfreiheit, welche ja gerade mit der kämpferischen Veränderung der Bedingungen für sich emanzipierende Gruppen zu erweitern ist. Schließlich ist es sehr wichtig, auf die imaginäre Dimension von Herrschaftsverhältnissen hinzuweisen, wie es unter Anarchist*innen sicherlich zu selten geschah und geschieht. Zugleich ist diese jedoch ein Bestandteil des gesellschaftlichen Zusammenlebens selbst, kann also auch aktiv, transparent und kollektiv gestaltet werden.

Wie im anarchistischen Egoismus insgesamt, kreist das bürgerliche Subjekt des „anarchistischen Bankiers“ letztendlich um sich selbst – und gelangt damit zu Einsichten, die eine Hinterfragung von Menschen in Szenen und sozialen Bewegungen ermöglichen, welche gleichfalls von den Bedingungen ihrer Zeit geprägt sind. Was die Lektüre Pessoas interessant macht, ist seine ausgeprägte Beobachtungsgabe, die Selbstreflexion über seine spezifische Sichtweise sowie das Wissen um gesellschaftliche Verhältnisse.

Kneipenabend

Lesedauer: 3 Minuten

Ein wirklicher Kneipengänger war ich nie. Ursprünglich lag es am mangelnden Geld, was ich in Kneipen hätte verprassen können. Stattdessen trafen wir uns früher in der Straße und an alternativen Locations. Nachdem in meinem Leben etliche Biere die Kehle runtergeflossen sind, fand ich mich zuletzt doch immer mal wieder in einer Kneipe wieder. Vielleicht einfach, weil Winter war und ich trotzdem abends raus musste. Vielleicht aus Verzweiflung, vielleicht auch aus Neugier, wer weiß. Was ich auch immer schlecht ertragen habe war der Lautstärkepegel in Kneipen, welcher bekanntermaßen mit dem Alkoholpegel korreliert. Das kann anstrengend sein. Mittlerweile beobachte ich aber mehr und das hilft etwas, den Lärm besser auszuhalten. Wohingegen ich Zigarettenqualm inzwischen nicht mehr gut ab kann. Ich werde alt. Oder jung. Oder anders. Jedenfalls übe ich mich immer noch im Kneipensetting.

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Unter Neurechten – ein bedrückendes Essay

Lesedauer: 10 Minuten

zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #79 / Juli 2017

von Simone

In der literarischen Verarbeitungen der eigenen Vergangenheit stellt der Autor seine Erfahrungen mit einem Kreis der faschistischen „Neuen Rechten“ in Chemnitz dar. Diese bildeten 2002 eine Schülerburschenschaft, gründeten die neurechte Zeitung „Blaue Narzisse“ und gewannen später großen Einfluss als faschistische Intellektuelle, unter anderem auf den völkischen Flügel der AfD unter Björn Höcke sowie die Identitäre Bewegung. Um die Erneuerung des Faschismus zu verstehen, sind Orte und Zeiten zu begreifen, in denen er sich unter einem anti-emanzipatorischen Willen organisiert. Wenn wir uns als ihre grundlegenden Feinde positionieren wollen, gilt es auch die Faschos zu ernst zu nehmen…

Lebensphasenabschnittsumbruchsbedingt komme ich derzeit nicht umhin, über meine eigene Entwicklung und Vergangenes nachzudenken. Reflektierte Menschen sind geschichtliche Wesen, verstehen sich also in ihrem Gewordensein und in den Herausforderungen, die sich für sie im Leben und in ihrer Zeit stellen. Weil sich Zeiten, Räume und Verhältnisse im Wandel befinden, gilt es dauerhaft zu rekapitulieren, was Vergangenes war und wie es zu deuten sei, um vernünftiges Handeln im Hier und Jetzt anzustoßen. Was sich geändert hat sind die politischen Landschaften in den Krisen der neoliberalen globalisierten Herrschaftsordnung in den letzten Jahren. Die autoritäre, antiliberale und antidemokratische Alternative mit ihren neofaschistischen Elementen zeichnet sich klar am Horizont ab und ficht die alte Hegemonie an.

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„Alles gut!“ – „Sag mal geht’s noch, du Alles-Gut-Mensch?“

Lesedauer: 8 Minuten

zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #81 / Sept. 2017

Irmgard die beleidigte Anarchakonservative

Mensch, was brocke ich mir jetzt wieder ein, wenn ich schon zu Beginn des Artikels befürchten muss, manche*n in ihrer*seiner Empfindung, ihrer*seinem Sicherheitsgefühlen – ungewollt! – anzugreifen, in unser Weltbild reinzugrätschen und damit auch ganz mich selbst in Frage zu stellen. Verdammter Regentag, da kann ja nun nichts werden! Selbstzweifel nagen an mir, nagen an dir, die wir beide dann gewohnt sind, sie in Selbstkritik umzudeuten, welcher wir ja doch noch was Positives abgewinnen könnten. Aber darin liegt schon ein grundlegendes Missverständnis: Denn Kritik muss und braucht nicht „konstruktiv“ sein. Deswegen muss unsere Hoffnung dahingehend von vorne herein enttäuscht werden. Immerhin: So eine Ent-täuschung bringt dann vielleicht gelegentlich etwas Klarheit.

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Pokémon Go Home

Lesedauer: 6 Minuten

Eine sarkastische Kolumne über die Verwirrungen durch Pokémon Go

zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #69 / Sept. 2016

von Imgart Edelweiß, der beleidigten Anarchakonservativen

(Entgegnungen, am besten in literarischer Form sind sehr erwünscht!)

Wir saßen vor unserem Haus auf der Couch als wir sie zum ersten Mal bemerkten. Dutzende Menschen, die standen oder auf Geländern saßen und auf in manischer Versessenheit auf ihre smartphones glotzten. Im Grunde genommen keine seltsame Sache in unseren individualisiert, entfremdeten, vernetzten Zeiten. Doch irgendetwas schien seltsam, ungewöhnlich, anders im Verhalten der internetverbundenen und dauerüberwachten Mobilfunknutzer_innen. Es war der zweite Tag an dem Pokémon Go in der BRD rauskam. Desinformiert und von der Mehrheitsgesellschaft abgeschnitten wie stets erfuhr ich erst vom Freund der bei mir saß vom Hype, dessen Ankündigung schon an mir vorbeigegangen war. An dieser Stelle drängt es mich, mich zu outen: Ich verstand meine Umwelt nie und darum ist es eine traurige Tatsache, dass bei mir nicht mal Kindheitserinnerungen wach werden, wenn es um Pokémon geht. Das ist total langweilig, ich weiß. Dabei bin ich nicht mal ohne Fernseher aufgewachsen, sondern hatte früher wohl einfach keine Freund*innen. Oder habe ich mir meine rudimentären Pokémon-Erinnerungen über die Jahre weggesoffen?

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(M)ein Weg zum Anarchismus

Lesedauer: 8 Minuten

Originaltitel: (M)ein Weg zum Anarchismus – persönliche Reflexion über bisherige politische Sozialisation. Ein Anstoß

zuerst veröffentlicht in: Gai Dao #76 / April 2017

von Simone

Der folgende Text ist bewusst subjektiv und aus der Perspektive eines Eigenbrötlers verfasst. Darin wird über verschiedene Erfahrungen und die Fähigkeiten und Möglichkeiten zu ihrer Interpretation und Reflexion nachgedacht. Unter anderem geht es um die Frage, mit welchen Gruppen sich Menschen identifizieren, wenn sich ihre politische Identität entwickelt und welche Gründe das hat.

Seitdem ich, in Kontexten wo es Sinn ergibt und wenn mir danach der Sinn stand, angefangen habe mich eindeutig als Anarchist zu positionieren und auch die Ideen des Anarchismus öffentlich zu propagieren, spürte ich doch eigentlich nie das Verlangen, Menschen wirklich davon überzeugen. Das klingt erst mal ziemlich seltsam, finde ich, denn welchen Grund sollte es sonst haben, sich öffentlich zu bestimmten politischen Vorstellungen und Bewegungen zu bekennen, wenn nicht den, andere auf die eigene Seite, in die eigene Gruppe, in das eigene Weltbild holen zu wollen? An einer Klandestinität lag es sicherlich nicht, denn was klandestin ist, dazu äußere ich mich nicht. Umgekehrt halte ich es aber für völlig unsinnig, meine Perspektive zu verbergen, da ich ihrer sicher bin; sie begründen kann; sie mit meinem ganzen Leben zu tun hat. Eine Art „Coolness“ war ebenfalls nicht der Grund, denn ich bin alles andere als cool – ausgenommen einer innerlichen Abgefucktheit, die sich aus einer großen Sensibilität speist und deswegen leider öfters eine Distanz zu den Dingen notwendig macht.

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Großevents – der Linken liebstes Kind

Lesedauer: 7 Minuten

Reflexion über meine Motivation daran teilzunehmen

zuerst veröffentlicht in: Lirabelle #11 / Dez. 2015

von Mona Alona

Frankfurt 18. März, Garmisch-Partenkirchen 3.-7. Juni, Berlin 21. Juni – hatte ich nichts anderes, sinnvolleres zu tun, als mir diese und andere antikapitalistischen Events anzuschauen? Wusste ich nicht zuvor schon, was mich jeweils erwarten würde und das es „realistisch“ betrachtet im Grunde genommen keinen Unterschied macht, ob ich mich als einzelne Person beziehungsweise mit einer Bezugsgruppe in routinierte Protestmodi hineinbegebe, die mit verschiedenen Argumenten kritisiert werden können und sollten? Gelegentlich scheint es, als würden Linke, wenn ihnen nichts besseres einfällt um ihre Ohnmachtsgefühle zu kompensieren, das tun, was sie eben gefühlt am besten können: eine Demo zu organisieren, damit sich im Zweifelsfall immerhin alle Aktivist*innen mal wieder treffen und durchzählen können, wie viele es von ihnen denn noch gibt.

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