(Anti-)Politik als Möglichkeit

Lesedauer: 6 Minuten

Ergänzende und erweiternde Überlegung „Politik. Staatsmacht und Gegenoffensive“

erscheinen steht noch aus…

Ein weiterer Beitrag, in welchem ich meine Überlegungen zum Politikverständnis vom Anarchismus ausführe, aber auch kontinuierlich weiter entwickle.

In der letzten Ausgabe der GWR veröffentlichte Oskar Lubin einen Beitrag, in welchem er einige Überlegungen zum Umgang mit Politik formulierte. Dies bietet mir einen geeigneten Anlass, um auf meine eigene Arbeit hinzuweisen. Denn erst kürzlich habe ich eine Doktorarbeit zum Politikbegriff im Anarchismus an der Universität in Jena verteidigt und erfolgreich abgeschlossen. Diskussionen drüber, was wir überhaupt unter „Politik“ verstehen und welche verschiedenen anarchistischen Perspektiven und Positionen es in Hinblick auf sie gibt, lohnen sich. In meiner Dissertation arbeite ich heraus, dass das Politikverständnis im Anarchismus als paradox gelten muss.

Dieser postanarchistische Ansatz entspricht auch dem, was Lubin stark macht, um das anarchistische Denken zu erneuern. Denn wie er schreibt, bestehen im Anarchismus zwei Verständnisweisen nebeneinander „die sich nicht selten ergänzen: Die Politik von oben wird als hierarchisch und herrschaftlich abgelehnt, ihr wird die Politik von unten als wahre und eigentliche Politik entgegengesetzt“. Anders als Lubin bestreite ich, dass „anarchistische Praxis politisch ist“. Und zwar, um eine kritische Debatte darüber anzustoßen, welche Assoziationen wir mit „Politik“ haben. Im Folgenden möchte ich einige meiner theoretischen Grundgedanken dazu darstellen.

Das Spannungsfeld zwischen Politik und Anti-Politik

In seinem Buch „The Politics of Postanarchism“ von 2010 geht Saul Newman davon aus, dass es im anarchistischen Denken eine unauflösliche Spannung gibt. Wenn wir definieren, was „Politik“ ist, entsteht automatisch, wird damit zugleich ihr „Anderes“ ausgeschlossen und verdrängt. Dies benennt Newman mit dem Arbeitsbegriff „Anti-Politik“ und sagt, Ethik und Utopie wären Aspekte von ihr. Meiner Ansicht nach ergibt dieses Schema tatsächlich Sinn. Denn Politik wird in der modernen Gesellschaft tatsächlich in Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Sphären (z.B. Ökonomie, Wissenschaft und Privates) formiert. In ihr gelten eigene Regeln und Logiken. Sie hat Zugangsbarrieren und bestimmte Sprachen. Weiterhin sind Ethik und Utopie im Anarchismus zweifellos besonders ausgeprägt und im Konflikt mit dem, was wir unter Politik verstehen.

Ergänzen würde ich auf Seite der Politik die Aspekte „Strategie“ und „Programm“, die im Anarchismus nicht umsonst stark umstritten sind. Wichtig ist, dass beide Pole aufeinander bezogen werden, aber nicht aufgelöst werden können. Es soll also nicht darum gehen, eine „ethische“ oder „utopische“ Politik zu betreiben, noch darum, Ethik und Utopie politisch um- oder gar durchzusetzen. Stattdessen geht daraus eine „Politik der Autonomie“ hervor, also das, wie Anarchist*innen in Auseinandersetzung in einer widersprüchlichen Gesellschaftsform handeln.

Newmans Schema ist zwar nach geeignet, um einen Grundkonflikt im Anarchismus, nämlich den Umgang mit Politik, zu thematisieren. Allerdings gehe ich in meinen Überlegungen weit darüber hinaus. Erstens, ist entsteht „Anti-Politik“ ist irgendwie automatisch. Im Gegenteil machen Aktive in sozialen Bewegungen regelmäßig die Erfahrung, dass sie von der Politik enttäuscht werden, die faulen Kompromisse in ihr und ihre Widersprüche nicht einfach akzeptieren wollen. Zweitens ist eine Politik der Autonomie etwas Bestimmtes, weil der Anarchismus ein bestimmbares Phänomen in sozialen Bewegungen ist. Das bedeutet, wir können uns durchaus anschauen, wie Anarchist*innen handelten und handel, um die qualitativen Unterschiede zum politischen Engagement zu erkennen.

Für eine Debatte über anarchistische Politikbegriffe!

Ich würde sagen, dass Anarchist*innen ein grundlegendes Unbehagen mit der Politik haben. Und dies ist völlig berechtigt. Politik wird sehr häufig dem Staat zugeordnet und von diesem vereinnahmt – selbst, wenn sie in sozialen Bewegungen stattfindet. Wir sollten mit unseren politischen Illusionen brechen und Politik als Machtkampf mit äußerst ungleichen Machtressourcen begreifen, der noch dazu auf einem äußerst unfair strukturiertem Feld ausgefochten wird. Anarchist*innen aus verschiedenen Strömungen haben immer wieder darauf hingewiesen, dass es sich nicht lohnt, Zeit, Energie und Ressourcen für politische Kämpfe zu verschwenden. Vielmehr gibt es viele andere Gebiete, in denen sie wirkmächtig werden und die Gesellschaft emanzipatorisch verändern können.

Nun können wir uns sicherlich vehement und ausgiebig darüber streiten, was Politik „eigentlich“ wäre. Vielleicht wäre dies ganz interessant, führt uns aber nicht unbedingt weiter. Denn sowohl in den Politikwissenschaften, als auch von verschiedenen politischen Strömungen gibt es sehr unterschiedliche Definitionen dessen, was unter Politik zu verstehen ist. Entscheidend ist nicht, dass wir einen vermeintlich „richtigen“ oder „wahren“ anarchistischen Politikbegriff finden, sondern, das wir offenlegen, wovon wir ausgehen und uns somit bewusst machen, wie wir die Welt verstehen – um sie emanzipatorisch verändern zu können.

Um die Debatte anzustoßen, verwende ich deswegen einen bestimmten Politikbegriff, den ich als gouvernemental, konfliktorientiert, negativ-normativ und (ultra-)realistisch bezeichne. Damit wird „Politik“ auf das Regieren bezogen, besteht in Auseinandersetzungen um spezifischer Interessen durchzusetzen, stellt keine „gute Ordnung“ her, sondern vor allem eine Regulierung von Konflikten dar und gründet auf Führungs- und Herrschaftsansprüche. Ich halte es für strategisch wichtig, das Politikmachen und unser Nachdenken darüber insgesamt in Frage zu stellen. Anarchist*innen lehnen Staat, parlamentarische Politik und politische Parteien ab – das ist bekannt. Aber Politik wirkt auch darüber hinaus so, dass wir mit ihr unser Denken und Handeln einhegen und am Staat orientieren.

Das sehen wir immer wieder in sozialen Bewegungen. Als Erfolge werden meistens doch nur Ergebnisse angesehen, die sich in der herkömmlichen Politik, ja im Regierungshandeln widerspiegeln. Also in Gesetzespaketen, die ganz im Rahmen der bestehenden Herrschaftsordnung verhandelt und umgesetzt werden. Die Selbstorganisationsprozesse verschiedenster Gruppen in einer Szene, die Begegnungen und Erfahrungen darin, die Beeinflussung von Meinungen abseits der bürgerlichen Medien und so vieles mehr, gelten in der politischen Logik nichts. Deswegen tappen linke Gruppen immer wieder in die „Falle der Politik“, wie sie Emma Goldman genannt hat: Sie machen sich Illusionen darüber, was politisch tatsächlich möglich ist, damit auch dahingehend, wie der Staat funktioniert, wo die Macht tatsächlich liegt (viel seltener in Parlamenten, als z.B. in Ministerialbürokratien) und dementsprechend auch in Bezug darauf, welchen Einfluss sie dort ausüben können.

Gesellschaftliche Sphären und Bereiche als anti-politische Bezugspunkte

Nach der Untersuchung einer Vielzahl von klassischen und zeitgenössischen anarchistischen Quellentexten komme ich zum Ergebnis, dass verschiedene gesellschaftliche Sphären und Bereiche als Bezugspunkte für anarchistische Anti-Politik angesehen werden können. Um von der verstaatlichten Politik wegzukommen und nach Autonomie zu streben, orientieren sich Anarchist*innen an Individuen, dem Sozialen, der Gesellschaft, Ökonomie, Gemeinschaft, an Kultur, Ethik und Utopie. Es soll um konkrete Einzelne, um unsere Nachbarschaften, um die Föderation dezentraler autonomer Kommunen, autonome Gewerkschaftsarbeit, Kommunen, Gegenkultur, das gute Leben in Würde für alle und vorstellbare, verdrängte Alternativen gehen.

In verschiedenen anarchistischen Tendenzen werden unterschiedliche Bezugspunkte für das eigene Denken und Handeln in den Vordergrund gerückt. So differenzieren sich unter anderem die Strömungen des anarchistischen Individualismus, Mutualismus, Kommunismus, Syndikalismus und Kommunitarismus und Insurrektionalismus aus. Es werden aus Streits darüber ausgetragen, welche dieser Sphären am ehesten geeignet ist, um der verstaatlichten Politik etwas entgegen zu setzen. Ob subkulturelle Konzerte, Gewerkschaftsarbeit, Nachbarschaftsinitiativen oder Solidarische Landwirtschaftskooperativen als sinnvolle Ansatzpunkte angesehen werden, um grundlegend etwas zu verändern, macht einen Unterschied. Deswegen gilt es sich auch darüber zu streiten und auszutauschen. Gleichzeitig schließen die verschiedenen Ansätze sich keineswegs aus und können auch in eine Synthese gebracht werden, sodass ihre jeweiligen Stärken und die verschiedenen Gruppen, die sie erreichen, sich produktiv ergänzen.

Konsequenzen für die politische Theorie des Anarchismus

Weil Anarchist*innen sich nicht vom politischen Spiel beeindrucken und einfangen lassen, haben sie das Potenzial in anderen Bereichen Veränderungen zu bewirken und Alternativen aufzubauen. Oftmals wird behauptet, dass wäre wenig „effektiv“. Aber vor allem ist es weniger spektakulär und sichtbarer als politisches Handeln. Das Streben nach Autonomie führt allerdings auch zu einer besonderen Herausforderung für Anarchist*innen. Denn mit der alleinigen Konzentration beispielsweise auf Kommunen, Arbeitskämpfe, Bestärkung der Einzelnen oder anarch@-kommunistische Gruppen, besteht die Gefahr einer Verselbständigung der Praktiken in diesen Gebieten.

Mit anderen Worten: Die Hausprojektgruppe kreist doch nur um sich selbst; das Syndikat ist doch nur eine spezielle Interessenvertretung; die Selbstbeschäftigung von Unterdrückten mit ihren Identitäten nimmt nie ein Ende; Gruppen betreiben weltfremde Propaganda, die nicht bei den Lebensrealitäten von Leuten ansetzt usw. Wenn der Anspruch formuliert wird, die Gesellschaft in ihrem Herrschaftscharakter insgesamt zu transformieren, bedeutet dies, dass das politische Handeln, das politische Feld nicht völlig ignoriert und vernachlässigt werden kann. Dies ist der Grund, warum Politik – trotz der grundlegenden Kritik an ihr – auch im Anarchismus wieder durch die Hintertür hereinkommt.

Doch weiterhin gilt, dass wir uns keine Illusionen über die Möglichkeiten des politischen Handels machen, sondern ihr gegenüber skeptisch bleiben sollten. Ein Beitrag dazu ist eine umfassendere Debatte über unser Politikverständnis, ja, über Grundbegriffe des politischen Denkens insgesamt. Ihnen einen eigenen Inhalt zu geben, sie mit einer anarchistischen Perspektive zu definieren, darin besteht meine theoretische Arbeit. Sie ist keine intellektuelle Selbstbeschäftigung, sondern ein wichtiger Bestandteil, soziale Bewegungen in ihrer Autonomie zu begreifen und ihnen zu neuem Selbst-Bewusstsein zu verhelfen.

Egoismus vs. Plattformismus – Zwei Seiten der selben Medaille?

Lesedauer: 5 Minuten

Der Anlass diese Zeilen zu schreiben war ursprünglich, dass ein paar Trolle aus dem egoistischen Lager drei Fake-Heftchen herausgegeben haben. Darin greifen sie die Plattform, anarchismus.de und das Institut für Syndikalismusforschung an. Kritik ist wichtig und auch im vorliegenden Fall völlig legitim. Die Weise, wie die Autor*innen sie formulieren jedoch für mich inakzeptabel und selbstzerstörerisch.

Darüber hinaus ist ihre Argumentation scholastisch. Das heißt, die Autor*innen der Hefte denken nicht, sondern konstruieren sich ihre Gegner*innen so zurecht, dass es in ihr vorgepresstes Schema passt. Dazu arbeiten sie mit einem Haufen Unterstellungen, anstatt sich einfach mit den Gruppen und Leuten zu beschäftigen, welche sie kritisieren. Der Sinn dieses Unterfangens scheint in einer reinen Selbstbespiegelung zu bestehen. Jedenfalls werde ich an dieser Stelle nur knapp inhaltlich auf diese Broschüren eingehen, sondern vielmehr einige Gedanken dazu formulieren, inwiefern Egoismus und Plattformismus zwei Seiten derselben Medaille sind.

von Johannes Wapelhorst CC-Lizenz; von: https://www.flickr.com/photos/190816177@N05/50804617797

In einem Heft drucken die Autor*innen den Text „Zehn Thesen zum Aufstieg des Egokraten“ (von 1977) ab. Lächerlich daran ist, dass sie damit genau eine Projektion ihres eigenen Anti-Autoritarismus auf die Anhänger*innen der Plattform betreiben – Während sie jenen vorwerfen, sich anzumaßen zu definieren, was Anarchismus sei, tun sie dasselbe. In ihrem dogmatischen, also wortgläubigen, Glaubenssystem spiegeln die Egoist*innen daher lediglich den Dogmatismus der Plattform wieder. Haben letztere ihre spanische Revolution oder Machno-Bewegung, so sind es für erstere ihre „Träume“ von denen sie sich leiten lassen wollen. Doch auf dem Grund des vermeintlich „freien“ und „wilden“ Individuums ihrer Traumwelt verbirgt sich nicht mehr als das bürgerliche Subjekt.

Es ist (leider) zutreffend, dass sich einzelne Personen, die sich als Anarch@-Kommunisten verstehen, als arrogante Chefs aufspielen und damit anarchistische Prozesse unterlaufen. Warum fühlen sich die Egoist*innen aber dadurch denn dermaßen provoziert, dass sie sich den Aufwand machen, diese Fake-Broschüren zu produzieren? Meine Annahme ist, dass sie einem unreifen anti-autoritären Reflex erliegen. Mit diesem scheuen sie sich nicht die Argumente ihrer Konkurrent*innen zu verdrehen, um ihre eigenen Glaubenssätze zu bestätigen. Man kann es nicht anders sagen: Max Stirner würde sich bei solch dogmatisch-religiösem Gebaren im Grab herumdrehen.

In ihrer Fälschung mit dem Titel „Wie anarchistisch ist die Plattform?“ veröffentlichen die Autor*innen einen Text von Errico Malatesta, in welchem dieser Nestor Machno kritisiert. Es ist nicht besonders konsistent einen synthetischen anarchistischen Kommunisten gegen einen plattformistischen kommunistischen Anarchisten ausspielen zu wollen. Zumal Malatesta sich ja wiederholt gegen die idiotischen Fehlschlüsse und Auswüchse des Egoismus gewandt hat. Dies ist den Autor*innen aber egal. Sie bedienen sich einer ahistorischen, scholastischen Konstruktion, ebenso, wie sie es genau der Plattform vorwerfen.

So weit, so unlogisch, könnte man meinen. Doch im phrasenhaften Gepöbel der Autor*innen kommt noch mehr zum Ausdruck. Es wirkt, wie der krampfhafte Wunsch, Beachtung zu finden, was sie wiederum den exponierten Anarch@-Kommunist*innen unterstellen. Viel Selbst-Bewusstsein, also eine Reflexion über die eigene soziale Rolle und geformte Seinsweise, scheint dort nicht vorhanden zu sein. Im Stil kommt hingegen eine tiefsitzende Kränkung zum Ausdruck, welche wohl eher darauf verweist, dass sich die Egoist*innen für die eigentlich tonangebenden Personen ansehen. Dies können sie aber nur in lächerlicher Abgrenzung und Erniedrigung von konkurrierenden Standpunkten, statt diese einfach stehen zu lassen oder mit ihnen zu kooperieren, wo sich gegebenenfalls die Möglichkeit dazu auftut.

Es zeigt sich, dass die Egoist*innen keine eigenen plausiblen Positionen hervorbringen können und wollen. Ähnlich wie die Allzudeutschen fristen sie ein Zombie-Dasein, mit welchem sie sich genüsslich von den echten oder unterstellten Fehltritten ihrer Konkurrent*innen ernähren. Das wird insbesondere deswegen fatal, weil die Leere, in welche sie sich mit ihrer Pseudo-Kritik hineinfressen nur zum Nihilismus führt, aus dem nichts erwachsen kann. Man kann sich auch mit der Rolle der Ausgegrenzten überidentifizieren. Für manche scheint es der einzige Weg zu sein, mit ihrer bürgerlichen Prägung zu brechen, ohne sie zu wirklich zu überwinden.

Umgekehrt ist es bei einigen Anarch@-Kommunist*innen ebenfalls üblich, über existierende oder vermeintliche Auswüchse bei den Individualanarchist*innen zu sprechen – die dann gerne auch mal alle über einen Kamm geschert werden. Von den Betreibenden von anarchismus.de, über eine ganze Reihe aufgeblasender anarch@syndikalistischer Chef-Typen heult man rum, dass „die“ Individualanarchist*innen ihre schönen, reinen und zurechtgezimmerten Fetische der tollen Organisation, Strategie und dem Selbstbewusstsein kaputt machen.

Wer mit so viel Abwehrreflexen auf etwas Kritik reagiert, wie ich es gelegentlich schon erlebt habe, kann sich seiner Sache ja auch nicht ganz sicher sein. Auf dieser Seite also das Gleiche: Wie seit 160 Jahren disst man die Konkurrenz, statt die Unterschiede begreifen, die Differenzen anerkennen zu wollen und dies als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung und Stärkung gemeinsamer anarchistischer Vorhaben zu begreifen, die stets mehr sind, als die Summe ihrer Einzelaktionen.

Abschließend: Es ist nachvollziehbar, dass sich die Anhänger*innen unterschiedlicher anarchistischer Strömungen auch in Abgrenzung zueinander definieren. Dies ist an sich auch verständlich, denn so funktioniert soziales Lernen. Hierbei finde ich den Begriff der Schismosgenese den Wengrow und Graeber verwenden auch hilfreich: Gerade Gruppen, die eigentlich nahe beieinander liegen, entwickeln umso mehr Stile um unterscheidbar von den Anderen zu sein und sich selbst integrieren zu können. Diese Differenzierung kann aber auf verschiedene Weise geschehen. Sie muss eben nicht mit einer Abwertung, Ausgrenzung und Konstruktion der Anderen einhergehen. Bzw. sollte mensch sich zumindest bewusst machen, dass solche Effekte eintreten können, sie verstehen und anders mit ihnen umgehen.

Steckt hinter meinem Appell eigentlich nur ein Hippie-mäßiges Harmoniebedürfnis? Ich denke nicht, sondern, dass ich zu solidarischem und konstruktiven Streit herausfordern möchte, weil ich meine, dass die Sache größer ist, als ein paar (ja meistens schon) Typen, die sich gegenseitig behaken. Man kann sich auf dogmatische Standpunkte stellen oder in romantische Traumwelten flüchten. Selbstbewusster fände ich es hingehen, sich wirklich auseinanderzusetzen.

So unverständlich und uninteressant sie für die allermeisten Menschen und vermutlich selbst Anarchist*innen auch ist, will ich die Debatte „Egoismus vs. Plattformismus“ trotzdem ernst nehmen. Denn im Hintergrund steht tatsächlich ein Streit darüber, was Anarchismus „eigentlich“ ist. Das Wesen des Anarchismus lässt sich aber nun mal nicht nach inhaltlichen Positionen oder apologetischen Lehrsätzen ergründen, sondern nur in der Erfahrung, welche Personen mit ihm machen. Diese wiederum drücken sie in teils verschiedenen Begriffen aus. Da es ohnehin schwer ist, sie zu beschreiben, müssen jene notwendigerweise unzulänglich bleiben. Dennoch käme es zumindest auf den Versuch an, einander verstehen zu wollen.

Im Streit zwischen Plattformist*innen und Egoist*innen über das „Wesen“ des Anarchismus erweisen sich beide Lager jedoch auch noch in anderer Hinsicht als zwei Seiten derselben Medaille: In ihrem Verständnis bzw. ihrem jeweiligen Umgang mit „Politik“. Während die egoistischen Individualanarchist*innen in ihren Ansichten und Herangehensweisen konsequent anti-politisch sein wollen, kippt der plattformistische Anarch@-Kommunismus in eine ultra-politische Richtung um. Bei ersterem wird der Anspruch aufgegeben, Gesellschaft umfassend begreifen und verändern zu wollen und sich dabei auf den Mythos der Wahrheit subjektiven Erlebens bezogen, mit dem die bestehende Herrschaftsordnung nie radikal angefochten werden kann. Bei zweiterem ist zurecht zu fragen, ab welchem Punkt der anarchistische Kommunismus sich denn wirklich noch von autoritär-kommunistischen Gruppierungen unterscheidet.

Wie ich nicht müde werde zu betonen, liegt die Wahrheit des Anarchismus – wenn mit ihm die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen radikal und umfassend verändert werden sollen – dazwischen. Erst mit dem Verstehen der (Anti-)Politik im Anarchismus wird eine anarchistische Politik der Autonomie möglich, welche sich gleichermaßen von Plattformismus, wie von Egoismus unterscheidet.

Antideutsche Regression

Lesedauer: 6 Minuten

trigger-Warnung: Der folgende Beitrag entstand in einem Moment des Auskotzens, würde ein anderes Mal vermutlich anders geschrieben werden und wurde nicht noch mal überarbeitet.

Bedauerlicherweise kam es im Bekanntenkreis erneut zu einem ernsten Fall antideutscher Regression. Also zu einem Rückfall in Annahmen und Vorstellungen, die zwar früher schon teilweise falsch waren, teilweise aber auch ihren Grund und ihre Berechtigung hatten. Zunächst einmal gilt, das mich die antideutsche Kritik sehr geprägt hat und ich das nicht missen will. „Antideutscher“ selbst wurde ich dann jedoch nie. Dazu war es mir einfach zu deutsch, die bestehende Herrschaftsordnung zu affirmieren, anderen aus einer Position theoretischer Arroganz und Überheblichkeit zu erklären, was sie richtig oder falsch machen und von Selbsthass getrieben Abwertung anderer zu betreiben. Doch neulich war ich doch sehr überrascht, dass da einige Genoss*innen offenbar spürbar hängen geblieben sind, ich regelrecht einen Rückfall wahrnehmen musste. So etwas kann passieren. Deswegen schreibe ich ein paar Zeilen dazu.

„Antideutsche Regression“ weiterlesen

Gai Dao #111 erschienen

Lesedauer: < 1 Minute

Die neue Ausgabe der Gai Dao ist erschienen und mit ihr ein offener Brief an Die Plattform. Anarchakommunistische Organisation mit dem Titel Alles nur geklaut? zu finden unter „Texte“.

Darüber hinaus gibt es spannende Beiträge zur Rolle von Anarchist*innen in den Protesten in Belarussland, zu Gerechtigkeit jenseits von Polizei, Justiz und Gefängnis? oder einem schwulenfeindlichen Mord in Ulm 1990.

Alles nur geklaut?

Lesedauer: 8 Minuten

Ein Brief an die Genoss*innen von Die Plattform. Anarchakommunistische Föderation

Liebe Genoss*innen,

ich schreibe euch als querulierende Einzelperson und nicht im Namen einer Organisation. Ich mache meinen Kram, beziehe mich auch auf andere und finde Organisation wichtig. Eine immer währende Frage, die ihr ja auch stellt ist dabei: Welche Organisation, unter welchen Umständen? Hierzu gibt es erfreulicherweise unterschiedliche Ansichten.

Ich schreibe diesen offenen Brief an euch, weil ich mich sehr geärgert habe. Aus historisch-ideologischen Gründen. Das ist eine Ebene, die erst mal nichts direkt mit den Kämpfen zu tun hat, in denen emanzipatorische soziale Bewegungen stecken. Mensch kann sich wunderbar über irgendwelche Standpunkte streiten und ideologische Debatten führen – solange sie nicht an den realen Lebensbedingungen, dem Bewusstsein von Menschen und ihrem sozialen Beziehungsgeflecht anknüpfen, ist das erst mal egal. Es handelt sich dann nur um eine Debatte zwischen Nerds, Möchtegern-Kader*innen oder Anhänger*innen anarchistischer Folklore. Dennoch gibt es eine Verbindung zwischen ideologischen Aspekten, historischem Verständnis, inhaltlichen Positionen, Organisationsformen und den Praktiken, die Anarchist*innen hervorbringen. Und meistens waren sie bisher nicht so gut darin, diese Ebenen miteinander zu vermitteln, was übrigens auf alle ihre Strömungen zutrifft. Hier wäre es gut, wenn wir besser werden!

Weil ihr euch Anarchist*innen nennt, adressiere ich euch als solche und meine, ihr solltet euch weiter mit dem auseinandersetzen, wofür ihr eintretet, was ihr vertretet und propagiert. Nicht, damit wir bloß noch mehr Papier oder Bits produzieren. Sondern, damit sich eure Praxis ändert. Wie ihr mich kennt, richtet sich meine Kritik an euch genauso an andere, und ich bin nicht müde, sie auch gegenüber anderen vorzubringen. Ja, ich bin ein elender, besserwisserischer Nervsack. Aber tröstet euch, das kriegen alle mal ab. Beruhigt euch, mir geht‘s doch auch um die Sache!

Ich fange jetzt gar nicht mit eurem Klassenverständnis an, das ich für verkürzt und seit Alexander Berkmans ABC des Anarchismus (1928) für völlig überholt halte. Er geht darin wie auch andere moderne Anarchist*innen von einer Pluralität proletarisierter Subjekte aus, die in ihrer Unterschiedlichkeit zusammen arbeiten können. Bei einer Vorstellungs-Veranstaltung von „Der Plattform“ hatte ich dagegen eher den Eindruck, ihr geht von einem simplen Dualismus aus, nach welchem hier das Volk und dort die bösen Herrschenden seien. Ebenfalls kritisiere ich bei euch, was ich oben Folklore genannt habe und meiner Ansicht nach zu einer problematischen Identitätskonstruktion führt, die lediglich Spiegelbild der postmodernen Bedingungen ist, unter denen wir leben. Ich möchte an dieser Stelle auch nicht begründen, warum eure Vorstellung von Organisation, wie ich sie wahrnehme, in einem schlechten Sinne letztendlich voluntaristisch ist.

Jetzt aber mal Tacheles reden, klare Worte bitte! Warum um alles in der Welt fotografiert ihr euch bei eurem 3. Kongress Anfang September vor dem Grab von Erich und Zenzl Mühsam? Und wieso bitteschön wählt ihr auf eurem Propaganda-Sticker ein Bild und Zitat von Errico Malatesta?

Ganz ehrlich, ich begreife das nicht. Erich Mühsam hätte über euren verkopften Organisationsversuch geschmunzelt, ihn aber auch kritisiert, weil er sich eben nicht aus real vorfindlichen Kämpfen ableitet. Oder auch, weil der total lust-feindlich rüberkommt. Ja, es muss nicht alles sexy sein und Mühsams Anti-Repressionsarbeit war sicherlich – aus der Notwendigkeit heraus – auch alles andere als dies. In Wort, Tat und der Weise seiner persönlichen politischen Aktivität kann er als Protagonist einer anarchistischen Synthese gelten, zumal er Sebatiens Faures wichtigen Beitrag dazu in seiner Zeitung Fanal veröffentlicht hatte. Mehr dazu findet ihr in meiner Beschäftigung zu seinem Traktat Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus? (in: Gai Dao #109, Juli 2020).

Nun gut, damit nun zu Malatesta. Ernsthaft: Was hat der gute Mann denn auf eurem Sticker verloren? Habt ihr tatsächlich so wenig Geschichtsbewusstsein oder captured ihr hier einfach eine prominente Figuren des Anarchismus, weil ihr bei ihnen prägnante Zitate klauen könnt? Zugegeben: Die Wahrheit ist, hätten andere Anarchist*innen ein ausgeprägteres Verständnis ihrer eigenen Geschichte, ein Bewusstsein über sich selbst in der Gesellschaft und würden mal ihre Romantik zurückstellen, wäre die Plattform gar nicht entstanden. Das macht es aber trotzdem nicht richtiger, dass ihr Malatesta für euch vereinnahmen wollt. Ich schreibe diesen Brief an euch, damit der Schwindel mal auffliegt. Malatesta veröffentlichte im Jahr 1927 den Text Ein Projekt anarchistischer Organisation (Un progretto die organizzazione anarchia) in der in Genf erschienen Zeitung Le Réveil Anarchiste. Warum ich das weiß? Es steht in der Textauswahl von ihm, die Philippe Kellermann unter dem passenden Titel Anarchistische Interventionen herausgegeben hat (Unrast-Verlag 2014, S. 200-214).

Da steht Folgendes drin: Malatesta begrüßt die Aufforderung zur Organisierung und teilt auch einige der vorgetragenen Kritikpunkte des plattformistischen Manifests. Die Frage sei nicht, ob Organisation sinnvoll sei, sondern auf welche Art und Weise sie zu gestalten ist. Dafür brauche es vor allem eine Verständigung von Anarchist*innen untereinander (S. 202). (Weil es diese heute nur bedingt und selten undogmatisch gibt, schreibe ich unter anderem diesen Text.) Die Gewerkschaftsbewegung seiner Zeit wäre äußerst wichtig, aber „es wäre eine große und tödliche Illusion zu glauben, wie es viele tun, dass die Arbeiterbewegung aus sich selbst heraus, als Folge ihres eigenen Wesen, zu einer solchen Revolution führen könne oder müsse“ (S. 203) Deswegen brauche es eigenständige anarchistische Organisationen. Diese jedoch müssen ihren eigenen Ansprüchen genügen. Sie müssen antiautoritär sein. (Dass Malatesta „müssen“ schreibt und überhaupt sagt, wie der Hase läuft, ruft bei vielen heutigen Anarch@s vielleicht schon Abwehrreflexe hervor…).

Das Hauptproblem beim Manifest der Plattform bestünde darin, dass es eine „einzige revolutionäre Kollektivität“ propagiere. Die Vereinigung in einem solchen Bündnis wäre aber gar nicht möglich und auch überhaupt nicht wünschenswert, denn zu

„zahlreich sind die Unterschiede im Umfeld und so in den Kampfbedingungen, zu vielfältig die möglichen Aktionsformen, die der eine oder andere bevorzugt, zu viele auch die Unterschiede im Temperament und die persönlichen Unvereinbarkeiten, als dass eine Generalunion, wenn man sie ernst nimmt, nicht ein Hindernis für die individuelle Aktivität und vielleicht auch der Grund für recht schroffe interne Konflikte würde – anstatt ein Mittel, die Kräfte aller zu koordinieren und zu addieren“ (S. 205).

Wie soll mensch beispielsweise mit Leuten zusammenarbeiten, die glauben, allein die Erziehung der Menschen werde Anarchie ermöglichen oder solchen, die der Meinung sind, allein eine gewaltsame Revolution würde sie realisieren (S. 205)? (Ziemlich gute Fragen eigentlich, denn beide Ansichten gibt es heute komischerweise immer noch…). Und wie könnten denn „Personen zusammenhalten, die sich aus speziellen Gründen nicht mögen und nicht wertschätzen und die dennoch gleichermaßen gute und nützliche Kämpfer des Anarchismus sein können“ (S. 205)? Wenn die (historischen) Plattformist*innen gar nicht die Vorstellung hätten, verschiedene Strömungen zu vereinen, warum ließen sie dann die anderen nicht einfach ihre eigenen Organisationsformen finden? Stattdessen meinen sie einen richtigen Weg vorgeben zu müssen und darüber urteilen zu können, wer ein*e „gesundes Element“ libertärer Bewegung ist. (Diese Formulierung aus dem Text der Organisationsplattform ist für einen Dialog auf Augenhöhe eine ziemlich ungesunde Einstellung). Dabei geht es aber nicht um irgendwelche Belanglosigkeiten. Denn die „anarchistische Wahrheit kann und darf nicht das Monopol eines Individuums oder eines Komitees werden, noch darf sie von Entscheidungen tatsächlicher oder erdachter Mehrheiten abhängen“ (S. 206).

Die Prinzipien und Methoden der Generalunion scheinen nicht mit anarchistischen Vorstellungen überein zu stimmen, meint Malatesta. Er geht noch einen Schritt weiter und bezeichnet das plattformistische Konzept als „autoritär“, weil in ihm Mehrheitsentscheidungen gefällt werden, Exekutivkomitees eingesetzt werden und die individuelle Unabhängigkeit von Einzelnen negiert wird, was letztendlich auch ihre Initiative hemmt. Wenn mensch schon Repräsentativität auf Kongressen anstrebt, ist festzustellen, dass dies der anarchistischen Realität widerspricht, wo die Teilnahme aufgrund von fehlendem Geld, Zeit und Repression faktisch begrenzt ist, sodass Repräsentation verschiedener Gruppen schlichtweg nicht zu gewährleisten ist (S. 208-210). Heruntergebrochen würden das propagierte Ziel der Anarchie daher der vorgeschlagenen Organisationsform widersprechen. (Es ist dabei klar, dass wir uns dabei immer im Widerspruch befinden. Gerade daraus ergibt sich jedoch eine wirkliche Bewegung, die an den realen Verhältnissen andockt und radikal wird, weil sie sie zu überwinden anstrebt.) Entscheidend sind die Versuche, die angestrebten Zielvorstellungen bereits vorwegzunehmen und zwar nicht allein in Hinblick auf ein ethisches Verhalten, sondern insbesondere auch hinsichtlich der Organisationsform:

„Man versteht, dass die Nichtanarchisten meinen, dass die Anarchie, das heißt die freie Organisation ohne Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit oder andersherum, eine nicht zu verwirklichende oder nur in ferner Zukunft realisierbare Utopie ist. Doch es ist unbegreiflich, dass derjenige, der sich zu anarchistischen Ideen bekennt und die Anarchie leben oder sich zumindest ihrer Verwirklichung eher heute als morgen nähern möchte, die grundlegenden Prinzipien des Anarchismus verleugnet – im selben Zuge, in dem er sich vornimmt, für seinen Triumph zu kämpfen“ (S. 211).

Dagegen gilt es an den vorhandenen anarchistischen Organisationsprinzipien festzuhalten, welche in ihrer Ausgestaltung nachvollziehbarer Weise nicht perfekt, sondern immer als Suchbewegung gelingen. Aber: Es sind nun einmal die Basics des Anarchismus:

„Volle Autonomie, volle Unabhängigkeit und folglich volle Verantwortung der Individuen wie der Gruppen; freie Übereinkunft zwischen jenen, die es für nützlich halten, sich für ein Ziel zur Zusammenarbeit zu vereinen; moralische Verpflichtung, die übernommenen Aufgaben zu wahren und nichts zu tun, was dem akzeptierten Programm widerspricht. Auf diesen Grundlagen fügen sich dann die Formen der Praxis, die angemessenen Instrumente, um der Organisation ein reales Leben zu verschaffen“ (S. 212).

Dahingehend ist es nicht möglich, einzelnen Leuten oder Gruppen, Beschlüsse aufzuzwingen.

„In einer anarchistischen Organisation können die einzelnen Mitglieder alle Meinungen vertreten und alle Taktiken benutzen, die nicht im Gegensatz zu den anerkannten Prinzipien stehen und die nicht der Aktivität der anderen schaden. In jedem Fall währt eine Organisation solange wie die Gründe für ein Bündnis stärker sind als die Gründe für einen Dissens: andernfalls löst sie sich auf und lässt den Platz anderen einheitlicheren Gruppierungen“ (S. 213).

Selbstverständlich ist die Kontinuität von Organisationen ein wichtiger Faktor für ihren Erfolg, aber sie lässt sich eben nicht erzwingen – sondern nur aus gemeinsamen Erfahrungen und Auseinandersetzungen weiter entwickeln. (Dagegen hilft auch keine romantische oder ideologische Übertünchung der Konflikte oder „ideologische“ Identitätskonstruktionen.)

„Aber die Dauer einer libertären Organisation muss die Konsequenz aus der geistigen Affinität ihrer Komponenten und aus der Anpassungsfähigkeit ihrer Verfassung an die fortwährende Veränderung der Umstände sein: wenn sie nicht mehr in der Lage ist, eine nützliche Mission zu erfüllen, ist es besser, sie stirbt“ (S. 213).

Und das ist letztendlich auch besser, als die implizite Orientierung an einer bolschewistischen Avantgardepolitik, welche in dieselben Sackgassen führt, wie eben jene.

Okay, liebe Genoss*innen. Es stimmt, jetzt habe ich euch eins reingedrückt und das nervt. Sicherlich ist es auch problematisch, dass ich hier so eine antiautoritäre populäre Person wie Malatesta als Argument anbringe. Das hat dann für manche schon wieder einen autoritären Touch. Zumindest wird es als Klugscheißerei abgestempelt, da bin ich mir sicher. Aber ich habe mich eben auch aufgeregt. Ich finde es nicht fair von euch, dass ihr Mühsam oder Malatesta für eure Propaganda vereinnahmen wollt. Sie haben den Plattformismus nicht vertreten und würden ihn definitiv ablehnen. Da bin ich mir sicher. Und hierbei beziehe ich mich nicht nur auf die hier bzw. in der Juli-Ausgabe zitierten Texte von den beiden, sondern auf die Weise, wie sie als Personen aufgetreten sind und in gekämpft haben. Nämlich nicht anhand einer straighten Linie. Die kann es in komplexen, widersprüchlichen Verhältnissen, einerseits, und wenn mensch eine pluralistische, vielfältige Gesellschaft anstrebt, andererseits, auch bis auf in Ausnahmefällen gar nicht geben. Gerade Mühsams und Malatestas kluger Umgang mit Widersprüchen, verschiedenen Leuten, Gruppen, Traditionen, Gefühlen und Gedanken war es, der sie stark und weise gemacht hat. Sie hatte ihre Grundsätze und Überzeugungen, doch damit agierten sie ausdrücklich undogmatisch. So gelang es ihnen auch, dass sie jeweils bis zum Ende ihres Lebens tatsächlich unermüdlich für die anarchistische Sache gekämpft haben.

Daher habt ihr, werte Genoss*innen, alles Recht der Welt Mühsams oder Malatestas Argumentationen und Positionen zu kritisieren oder abzulehnen. Vielleicht sagt ihr auch, dass ihr gar keine „einzige revolutionäre Kollektivität“ annehmt oder anstrebt. Dann wiederum gibt es aber keinen Sinn, dass ihr euch Plattformist*innen nennt, was ihr aber tut. Also bitte tut nicht so, als könntet ihr euch mit eurer Organisation gerade auf die Überlegungen und Gedankengänge von M&M stützen. Das könnt ihr nämlich nicht. So viel Aufrichtigkeit muss sein. Und über anderes reden wir später noch.

Solidarische Grüße

Jens Störfried

Mit der Linken sprechen

Lesedauer: 6 Minuten

hier als pdf downloadbar:

Now also in english translation:

von Jens Störfried

gefunden in: Waschlappen. Zeitschrift für einen pragmatischen Anarchismus, Nr. 9

What the fuck ist links-sein? Ganz ehrlich, ich habe es bisher nicht verstanden. Es ist richtig, die Bezeichnung kommt vom Parlamentarismus, der Anordnung der Sitze dort, wo links die radikalen Republikaner bzw. Demokraten (alle männlich) saßen. Diese Tradition wurde fortgesetzt. Der Begriff „links“ ist keineswegs darauf zu reduzieren. Aber weil ihm nun mal der Parteimuff anhängt, aufgrund seiner Schwammigkeit und wegen seiner Einheitsbreiigkeit bringt es meiner Ansicht nach auch nicht wirklich was, sich auf ihn zu beziehen. So sieht es auch mit der außerparlamentarischen Politik aus. Sie ist schwammig und sie ist Parteipolitik zugeordnet, die in einer Parteiendemokratie wiederum dem Staat zugeordnet ist. Klar, damit lassen sich Dinge erreichen. Aber eben auf der Ebene des politischen Handelns. Selbstorganisation von unten und die Autonomie verschiedener Gruppen sehen anders aus. Dies schließt aber keineswegs aus, dass Anarchist*innen autonome Organisationen gründen, sich in diesen einbringen, sie verbreitern und radikalisieren wollen. Dass dies in der BRD merkwürdig zu sein scheint und sich Anarchist*innen oft als Linke betrachten ist problematisch. Dennoch können sie an linken Massenbewegungen partizipieren. Warum es sich für Anarchist*innen lohnt, sich selbst zu bestimmen und ein Selbstbewusstsein zu entwickeln:

„Mit der Linken sprechen“ weiterlesen

Debate on Anarchists against/in Academy

Lesedauer: 4 Minuten

Auf der Mailingliste des Anarchist Studies Network entspann sich eine ausgiebige Debatte über das Verhältnis von Anarchist*innen zu Universitäten. Der Redebedarf und die kontroversen Beiträge verdeutlichten, dass hierzu noch längst nicht alles gesagt ist, bzw. weiterhin ein Meinungsaustausch zu diesem Thema stattfinden muss. Übrigens betsehen hierzu längst nicht nur zwei Positionen, sondern mehrere – entsprechend der unterschiedlichen Erfahrungen, welche Menschen in diesem Zusammenhang gemacht haben. Dass Uni-Strukturen und der Wissenschaftsbetrieb insgesamt nicht ansatzweise Vorstellungen einer libertären Wissensproduktion und -vermittlung entspricht, versteht sich dabei von selbst. Wie mit den Widersprüchen in dieser und anderen Institutionen aus anarchistischer Perspektive umgegangen werden soll, dazu gibt es hingegen verschiedene Ansichten. Es folgt mein Beitrag zu dieser Debatte mit 13 Punkten als Anregung für die Aufgaben anarchistischer Theoretiker*innen.

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Die Armut der Kritik am Anarchismus

Lesedauer: 20 Minuten


von: Mona Alona // Juni 2019

Teaser:
In der Erfurter Zeitung „Lirabelle“ hätte eine Debatte zur vermeintlichen Kritik am Anarchismus und seiner Verteidigung stattfinden können. Auslöser waren die Vorurteile, Diffamierungen welche die Autorin Minna Takver verbreitete, in Verbindung mit ihrer hahnebüchenden Unkenntnis ihres Gegenstandes. Anstatt sich der Auseinandersetzung wirklich zu stellen, lehnte die Redaktion der Lirabelle den zweiten Teil der „Armut der Kritik des Anarchismus“ von Mona Alona ab. Da es sich um eine beispielhafte Reaktion handelt und es Formen solidarischer, respektvoller und konstruktiver Auseinandersetzungen weiter zu üben gilt, lohnt es sich, diese schriftliche Provinz-Debatte als Beispiel vor Augen zu führen. Und selbstverständlich, weil der zweite Teil der „Armut der Kritik am Anarchismus“ ja auch irgendwo noch auftauchen sollte und das Ganze ein gewisses Lesevergnügen bereitet.
Wer sich den billigen Szene-Gossip ersparen will, kann die Texte von Minna Takver auch überspringen. Wer den zweiten Teil der Entgegnung lesen möchte, kann ins letzte Viertel scrollen…

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Demokratie – kaputt oder ganz?

Lesedauer: 7 Minuten

Kommentar zur Wahl des Eintags-Ministerpräsidenten in Thüringen

zuerst veröffentlicht auf: untergrund-blättle.ch // Februar 2020

Jens Störfried

Neben Bratwürsten und Klößen ist Thüringen für seine wunderschöne Landschaft bekannt: Hier gibt es den Naturpark Hainich, die Bleilochtalsperre, den Rennsteig und viele andere Flächen mehr. Das einzige was fehlt, ist eine Küste, ein Meer – aber dann wäre es eben nicht mehr Thüringen. Auch in die politische Landschaft Thüringens lohnt sich ein Ausflug, bietet sie doch eine Vielfalt ohne Gleichen. Doch recht gleich und einig sind sich die Menschen dort scheinbar nicht. Deswegen richtet ja die halbe Medienlandschaft gerade ihren Blick auf das geographische Herz Deutschlands: Weil sich die politisch-kulturelle Spaltung dieser Provinz mit 2,13 EinwohnerInnen dort wie unter einer Käseglocke beobachten lässt.

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Soziale Freiheit und Solidarität im pandemischen Ausnahmezustand

Lesedauer: 11 Minuten

Originaltitel: Was bedeuten soziale Freiheit und Solidarität in Zeiten des pandemischen Ausnahmezustandes?

zuerst veröffentlicht auf: untergrund-blättle.ch // März 2020

von Jonathan

Endlich sollte es die Letzte verstanden haben: Stay@Home, keep calm, shut down and control yourself! Die eindringlichen Appelle von Behörden, aus Regierungskreisen, Gesundheitsinstitutionen und sich moralisch überlegen fühlenden linken Bürger*innen sind eindeutig. Die Argumente kennen wir und erscheinen plausibel: Wenn wir uns jetzt alle runter fahren, unsere Aktivitäten und Kommunikation ins Internet verlagern, anstatt in physischen Kontakt zu treten eine „soziale Distanz“ wahren und – für diejenigen, die eines haben – das traute Heim nicht mehr als absolut „notwendig“ verlassen, dann erhöhen wir spürbar die Chance, Menschen aus Risikogruppen zu retten. Um Leben oder Tod geht es. Des Weiteren wird auf die enorme Belastung der Arbeitenden im Gesundheitssektor geschaut, sowie auf jene Kranken, deren Leiden vorerst nur noch zweitrangig behandelt werden können. Das sind nachvollziehbare und durchaus soziale Anliegen. Doch sind wir bereit, für dieses höchste Ziel, unsere Freiheit und diejenigen von anderen zu opfern, uns abzuschotten und uns mit den Schwächsten zu entsolidarisieren? Wollen wir durch unser aktives Mitwirken einer in ihren Grundfesten untragbar gewordenen Gesellschaftsformation zur Transformation in eine neue Form verhelfen? Doch in welche wollen wir sie transformieren?

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