alte Radikalität neu entdecken

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Es ergab sich das Gespräch mit einem älteren Genossen, der wohl die 60 schon überschritten hatte. Ich war interessiert an der Geschichte des westdeutschen Kontextes, in welchem er aktiv war. Spannend zu hören, dass phasenweise wirklich tausende Jugendliche und junge Erwachsene in den 70er, 80er Jahren auf die Straße gegangen sind, um Räume zu erkämpfen, von denen heute nur noch einige für Bewegungen und einige andere als subkulturelle Orte existieren. Dabei wollten sie nicht vor allem oder hauptsächlich derartige Freiräume, aber dies schien offenbar die konkrete, machbare und verbindende Forderung zu sein, welche für welche „die Bewegung“ eintreten und die sie letztendlich auch erkämpfen konnte.

Das rebellische Gefühl ging weit darüber hinaus. So organisierten Leute in diesen Zeiten ohne jedes Rechtfertigungsbedürfnis „Demos gegen alles“. Das Zusammenkommen in Zeiten ohne social media schien Anlass genug, um der allgemeinen Unzufriedenheit Ausdruck zu verleihen. Die Flyer der Antiautoritären, Autonomen und Anarchist*innen waren dabei durchaus kreativ gestaltet und erschienen phasenweise mehrmals in der Woche. Ganz anders als die im Blocksatz gesetzten gesetzten, akkuraten Flugblätter in Schreibmaschinenschrift, welche K-Gruppen vor den Fabriktoren verteilten, um die Arbeiter*innenklasse zu agitieren.

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24 Ziele

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… Ziele und Mittel miteinander abzugleichen und in ein →gutes Verhältnis zu bringen, ist ein großes Thema im Anarchismus. Im Sinne des →präfigurativen Handelns sollen die gewählten Mitteln bereits den Zielen entsprechen, welche angestrebt werden. Ist das Fern-Ziel eine egalitäre, freiheitliche, vielfältige Gesellschaftsform, so gilt Mittel zu wählen und Organisation zu schaffen, welche diesen Werten entsprechen. Dennoch leben wir unter Bedingungen, welche wir uns nicht ausgesucht haben. Da es unter einer →Herrschaftsordnung keine absolute Übereinstimmung zwischen Mitteln und Zielen geben kann, gilt es in →Widersprüchen zu handeln und beides kontinuierlich zu vermitteln. Weder sollen die Mittel zu Selbstzwecken werden, noch sollen die Ziele oder Zwecke, die Mittel „heiligen“, also rechtfertigen. Dies führt zu einem →paradoxen, aber potenziell produktiven Handeln. Beispielsweise lässt sich mit →Gewalt keine gewaltfreie Gesellschaft erreichen. Ohne aber ebenfalls nicht. Häufig vergessen wird, dass auch Ziele nicht feststehend sind, sondern immer verhandelt und auch verändert werden müssen. Wer behauptet, die Ziele stünden bereits fest, also z.B., dass es „die“ →libertär-sozialistische Gesellschaftsform zu erkämpfen und aufzubauen gälte, steht in der Gefahr, die Debatte zu umgehen, was dies genau heißt und wie es erreicht werden soll. Dies ist aber notwendig, einerseits, um Menschen für die Ziele des eigenen Projektes zu überzeugen und andererseits, weil sich Ziele auf dem Weg zu ihnen auch verändern können.

Ein mittelfristiges Ziel meinerseits ist zum Beispiel, dieses Advents-Glossar weiter zu ergänzen und gegebenenfalls auch fortwährend zu überarbeiten. Vielleicht taugt dafür die Adventszeit im nächsten Jahr. Vielleicht muss ich mein Ziel aber auch verändern oder anpassen 🙂

23 X, Tag

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… als „Tag X“ wird häufig eine Vereinbarung über einen →Aktionstag verstanden, an welchem ein revolutionärer Plan durchgeführt werden soll. Diese Vorstellung stammt vermutlich aus Kreisen radikaler Republikaner*innen wie →Auguste Blanqui, welche sich in Geheimgesellschaften organisierten, mit der Vorstellung, dass sie „die Revolution“ zu einem bestimmten Zeitpunkt „machen“ können. Derartige Verschwörungen waren lange Zeit der Schrecken der herrschenden Klassen, weswegen sie →Verschwörungsmythologien erfanden um in der Bevölkerung Angst vor politischen Gegner*innen zu streuen, von den eigenen korrupten Machenschaften abzulenken und die Aufmerksamkeit stattdessen auf Minderheiten, wie insbesondere die Jüd*innen, zu lenken. Das Konzept des Tag X wurde von →Reaktionären adaptiert, einerseits um Militärputsche durchzuführen, andererseits um →faschistische Untergrundgruppen zu koordinieren. Dennoch braucht es auch von anarchistischer Seite bestimmte Vereinbarungen über Aktionstage beziehungsweise die Drohung mit ihnen, um ernst genommen zu werden.

22 Wille

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… ist erforderlich, um Passivität, →Ohnmacht und →Konsumhaltung zu durchbrechen und zu aktiven, selbstbestimmten und selbstbewussten Handeln zu gelangen. Immer wieder erlangen Anarchist*innen in der Vergangenheit dem Trugschluss, dass es vor allem feste Überzeugungen und Tatendrang bräuchte, um soziale Kämpfe zu führen. Dabei vernachlässigten sie teilweise die →materiellen Bedingungen unter denen →Subjekte einen spezifischen Willen entwickeln können als auch die Tatsache, dass der Wille anderer häufig nicht dem eigenen entspricht. Anarchist*innen wurde „Voluntarismus“ vorgeworfen von anderen →Sozialist*innen, welche ihre Anhänger*innen in Passivität halten wollten, um ihre eigenen →Führungsansprüche durchzusetzen. Umgekehrt findet keine gesellschaftliche und soziale Veränderung statt, ohne dass Menschen einen Willen zu entwickeln, etwas zu tun und zu gestalten. Daher gilt es über die Bedingungen zu reflektieren, unter denen Menschen etwas wollen. Ebenso wichtig ist aber, darüber nachzudenken, was sie wollen, da unsere →Wünsche und Begehren durch die bestehende Gesellschaftsform geprägt sind. Der Wille ist damit zugleich Produkt der bestehenden Gesellschaftsform, wie der jeweiligen Sozialisation, weist aber potenziell auch über diese hinaus.

21 Vielfalt

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… kann neben →sozialer Freiheit, →Gleichheit und →Solidarität als ethischer Wert im Anarchismus begriffen werden. Die libertär-sozialistische Gesellschaftsform, welche Anarchist*innen anstreben soll Menschen mit verschiedensten →Seinsweisen, →Lebensstilen und Organisationsformen Raum geben, sodass sie ohne Angst verschieden sein können. Es ist nicht die Verschiedenheit von Menschen, welche zu →Konflikten führt, sondern die Herrschaft, welche Unterschiede nutzt, um Gruppen gegeneinander auszuspielen. Deswegen ist die anarchistische Vielfalt auch etwas anderes als der →neoliberale Multikulturalismus, in welchem Minderheiten konstruiert werden, um sie von der Anerkennung und dem Schutz des Staates abhängig zu machen. Im Sinne des →präfigurativen Handelns gilt es deswegen schon unter den bestehenden Bedingungen Menschen vielfältig sein zu lassen, Organisationsformen zu finden, welche Vielfalt zulassen und fördern, während sie zugleich Gemeinsames schaffen. Vielfalt und Gemeinsamkeit schließen sich nicht aus, können aber nur in der Anerkennung und dem Verstehen der Differenzen von autonomen Menschen und Gruppen realisiert werden.

18 Solidarität

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… ist neben →sozialer Freiheit und Gleichheit einer der sozialistischen Grundwerte. Solidarisch sind Menschen und Gruppen, wenn sie die Kämpfe anders positionierter Personen und Gruppen unterstützen, weil sie trotz ihrer Unterschiede Gemeinsamkeiten in den Zielen sehen und die zwischen ihnen vorhandene Distanz überwinden möchten. Solidarität kann sich praktisch in Weitergabe von Ressourcen und in alltäglicher Unterstützung bestehen. Sie kann auch darin zum Ausdruck kommen, dass Menschen marginalisierten Gruppen Gehör verschaffen und sich für deren Themen einsetzen. Oder sie äußert sich in Angriffen auf Institutionen, welche an der Ausbeutung und Unterdrückung bestimmter Gruppen beteiligt sind. Die Erfahrung von Solidarität schafft eine besondere Form von Zusammenhalt, die es aber auch zu hinterfragen gilt, wenn daraus Abhängigkeitsbeziehungen oder eine problematische Exklusivität entstehen. Solidarität kann nicht von kapitalistischen Staaten geschaffen werden, welche daran streben Menschen zu individualisieren und Gruppen gegeneinander auszuspielen, um sie beherrschen und regulieren zu können.

17 Revolution

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… ist die grundlegende, umfangreiche und anhaltende →Transformation einer Gesellschaftsform, die eine Veränderung der Staatsform und der Eigentumsverhältnisse umfasst. Mit politischen Revolution soll der →Staat übernommen werden, um den →Sozialismus einzuführen. Anarchist*innen kritisieren diese Revolutionsvorstellung, weil sie das damit verbundene Verständnis vom Staat als verkürzt und den Herrschafts- und Führungsanspruch der Revolutionär*innen als problematisch ansehen. Deswegen entwickelten sie für die grundlegende Gesellschaftstransformation die Ansätze der mutualistischen Selbstorganisation, des autonomen Flügels in sozialen Bewegungen, des Aufstands, der Subversion, sowie das Konzept der sozialen Revolution. Mit sozialer Revolution wird wiederum auf die Gesellschaftsveränderung insgesamt abgezielt. Sie beinhaltet auch die Veränderung der →Geschlechter- und →Naturverhältnisse, sowie die →Bildung von Menschen und die Erschaffung einer anderen →Kultur. Die Aufgabe von Anarchist*innen ist es nicht „die Revolution zu machen“, sondern innerhalb von gesellschaftlichen Transformationsprozessen eine sozial-revolutionäre Perspektive zu entwickeln und zu verbreiten.

16 Präfiguration

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… bedeutet die Vorwegnahme dessen, was angestrebt wird. In der →Jetztzeit handeln und verhalten sich Menschen nach den Maßstäben, welche sie in einer künftigen, z.B. →libertär-sozialistischen, Gesellschaftsform allgemein als Grundlage nehmen. Es geht um die Ausweitung der eigenen Werte und die Erschaffung von gelebten Praktiken, wie etwa solidarischen, freiheitlichem und egalitärem Verhalten. Dieses steht häufig in Konflikt mit den Vorstellungen und Handlungsmaximen, welche das hegemoniale Herrschaftsprojekt vorgibt. Präfiguration bedeutet auch →Organisationen aufzubauen, welche z.B. egalitär und libertär sind, sowie nach Lebensformen zu suchen, welche als Beispiele für eine künftige Gesellschaftsform dienen können.

14 Negation

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… ist erforderlich, um eine bestehende Herrschaftsordnung mit dem Ziel ihrer Überwindung anzugreifen und damit zugleich Herrschaft insgesamt abzubauen. Sie ist das Gegenstück zur Konstruktion alternativer Gesellschaftsformen und Institutionen. Negation und Konstruktionen stehen in einer komplexen Wechselbeziehung zueinander und können nur in Bezug den Inhalt des zu Negierenden bewertet werden. Häufig stehen destruktive Akte am deutlichsten für das Negieren, sind dieses aber nicht per se.

13 Materialismus

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… der Anspruch theoretische Überlegungen auf die real vorfindliche Wirklichkeit zu gründen, wobei die Wirklichkeit anhand ihrer materiellen und sozialen Umstände interpretiert wird. Materialistische →Ethik bedeutet, Menschen als soziale Tiere zu begreifen, die entscheidend von den gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen geprägt werden, in denen sie aufwachsen und leben. Materialistische →Weltauffassungen können durch ökonomisch und politische Analysen gestützt, aber auch durch reflektierte subjektive Erfahrungen untermauert werden. Materialismus ist das Gegenteil des Idealismus, in welchem die Wirklichkeit anhand vermeintlich hinter ihr verborgenen Ideen zu interpretieren wäre, welche tatsächlich Projektionen der Interessen und →Erfahrungen der jeweiligen Interpreten sind.