Frauen in die Politik?

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Die Forderung nach einer einer Gleichstellung von Frauen in der Politik reicht mindestens zweihundert Jahre zurück. In vielen Jahrzehnten, wo Frauen komplett aus der politischen Sphäre ausgeschlossen wurden, stellte sie einen sinnvollen Schritt dar, um die Demokratisierung der Gesellschaft voranzubringen und damit weitere Emanzipationsprozesse möglich zu machen. Mit der Kampagne #ParitätJetzt wird dies aktuell wieder aufgegriffen.

Für Anarchist*innen handelt sich damit um Augenwischerei und oberflächige Symptombekämpfung. Nein, dass politische Geschäft und der politische Apparat wird nicht „besser“, wenn mehr Frauen an ihm beteiligt sind. Und er bleibt auch weiterhin vom patriarchalen Herrschaftsverhältnis geprägt, selbst wenn es Frauen* sind, die „feministische Außenpolitik“ oder „inklusive Unternehmensführung“ betreiben. Dem Feminismus ist mit derartigen Kampagnen kein Gefallen getan. Stattdessen gibt es viele andere Möglichkeiten, feministische Anliegen effektiv und langfristig zu erkämpfen. In diesem Sinne schrieb Emma Goldman in Hinblick auf die Forderung nach dem Frauenwahlrecht:

„Ich glaube nicht, dass die Frau die Politik schlechter machen wird; aber ich kann auch nicht glauben, dass sie sie verbessern kann. Warum also auf einer solchen Gesetzgebung [zur Gleichstellung] bestehen, wenn die Frau die Fehler des Mannes ohnehin nicht korrigieren kann? […] Die Geschichte der Bemühungen des Menschen in der Politik zeigt, dass ihm diese überhaupt nichts gebracht haben, was er nicht auch auf direkterem Wege, zu einem geringeren Preis und für einen längeren Zeitraum hätte erreichen können“ (Emma Goldman 1911/2013d: 177f.).

Quasi-faschistische Meta-Politik als Anti-Politik?

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Im Folgenden Beitrag wird der von manchen Journalist*innen gelegentlich aufgeworfenen Frage nachgegangen, ob sich der rechte Mob anarchistischen Praktiken und Motiven bedient und es sich damit um eine Anti-Politik im anarchistischen Sinne handeln würde.

Am 09.01. stürmten tausende aufgebrachte Anhänger*innen von Jair Bolsonaro das Kongress-Gebäude in Brasilia. Sein Rivale Lula da Silva, der bereits 2003 bis 2011 Präsident war, hatte den Faschisten im zweiten Wahlgang mit äußerst knappem Vorsprung abgelöst. Bolsonaro – beziehungsweise seinem politischen Netzwerk – war es in den Jahren zuvor wie nur Trump gelungen, ein Bündnis aus Unternehmern, Militärs und Evangelikalen zu schmieden. Insbesondere Letztere waren entscheidend dafür, die Aufmerksamkeit armer Favela-Bewohner*innen vom sozialen Elend auf jenseitige Heilsversprechen zu lenken und damit Stimmen für die Reaktionären generieren. Auch der Wahlkampf verlief äußerst schmutzig, wobei die Polarisierung der Gesellschaft das größte südamerikanische Land zu einem Pulverfass werden ließ. So blockierten etwa unzählige LKW-Fahrer, die Bolsonaro unterstützen, den Verkehr – ein spürbarerer und kostspieligerer Protest als jede Latschdemo, auf der noch so viel Unmut herausgerufen wird…

nachträglich übernommen von: https://unicornriot.ninja/2023/bolsonarist-extremists-attack-brazilian-government-a-week-after-lula-inauguration/

Abgesehen davon, dass die Einsetzung der neuen Regierung in Brasilien am 01.01. geschah, wiederholt der aufgebrachte Mob gewissermaßen den Sturm auf das Kapitol in Washington DC, der zwei Jahre zuvor, am 06.01.2021 stattgefunden hatte. Wer sich erinnert: Irgendwie hatte es die Polizei nicht wirklich geschafft, die wütenden Rechtsradikalen davon abzubringen, in das Regierungsgebäude zu stürmen, dort Einrichtungsgegenstände zu zertrümmern und die heiligen Symbole des Staates zu schänden. Selbiges geschah in Brasilien, nur eben nicht unter blau-rot-weißen Farben, sondern mit grün-gelben.

Wer erinnert sich noch an den seltsamen Q-Anon-Schamenen „Jake Angeli“? Was uns in besseren Zeiten ein lautes Lachen aus dem Hals locken sollte, verbreitet sich via Internet wie Gift in die Rest-Herzen und -Hirne verängstigter und verblödeter politischer Idiot*innen. Und das auch in der BRD. So haben auch wir unsere paranoiden und narzisstischen Propagandist*innen des Wahnsinnes, wie Attila Hildmann und den von ihm mitgetragenen „Sturm auf den Reichstag“ am 29.08.2020 gegen die vermeintliche „Corona-Diktatur“.

Manche Lesende werden sich daraufhin irritiert fragen: Was ist denn da los? Staats-Verachtung, Parlaments-Besudelung, direkte Aktionen – ja haben wir es hierbei etwa Anarchist*innen zu tun? Die Antwort lautet nein. Und gleichzeitig stimmt es, dass die neue Rechte ihre aufgehetzten Ultras zum eigenmächtigen Handeln anstachelt, welches damit nicht mehr als Markenzeichen des Anarchismus schlechthin gelten kann. Selbstbestimmung ist allerdings etwas anderes: Denn das scheinbar kopflose Handeln der Vigilant*innen unterliegt gleichwohl einer gewissen Steuerung der Affekte durch für sie mitverantwortliche Verschwörungsprediger wie Alex Jones oder die zahlreichen bekannten oder anonymen rechte Influencer und Hetzer.

Faschisten kopieren, wo sie können und instrumentalisieren, was immer sie unter die Finger kriegen, für ihre Zwecke. Und das nicht erst seit der Ära der von einigen Medien so bezeichneten „Anti-Politiker“ wie Trump und Bolsonaro, die sich selbst als underdogs im politischen Establishment inszenieren, während sie aggressive Protagonisten der besitzenden und herrschenden Klassen sind. Aufgrund der ökologischen Katastrophe, sozialen Verelendung, schwindenden Kapitalverwertung und Gleichheitsforderungen verschiedener Minderheitsgruppen, verliert das um seinen Status bangende Bürgertum im Rechtspopulismus seine Contenance, wie wir weltweit sehen.

So lässt sich also fragen, ob es bei diesen Entwicklungen tatsächlich um eine Anti-Politik von Rechtsaußen handelt, wie ab und zu verschiedene Journalist*innen es formulieren. Immerhin werden unliebsame, aber dennoch zuvor als legitim erachtete, politische Verfahren, Institutionen und Symbole mit Füßen getreten. Demokratischen Politiker*innen wird respektlos begegnet, wenn ihnen nicht direkt mit dem Galgen gedroht wird (eine insbesondere in Sachsen ausgeprägte, verrohte Sitte).

Die Distanzierung geschieht ebenso kognitiv wie emotional. Geglaubt wird an einen bunten Flickenteppich aus allen möglichen Verschwörungsmythen und Stammtischparolen, während wirre Germanen-Sekten und Reichsbürger-Stämme aus dem Boden sprießen, wo man gehofft hat, zumindest ein Quäntchen mehr Geschichtsbewusstsein zu finden. Da ist auch – wie etwa bei Alexander Dugin – die Rede von einer Neugründung der Gesellschaft. Nur eben, dass diese enorm homogen und rassistisch, anti-modern und militaristisch, homophob und queer-feindlich sein soll. Eine klare Ständegesellschaft mit autokratischem Staat für das 21. Jahrhundert erstrebt das Bündnis der Reaktionären.

Doch eine Annahme, hierbei bestünden irgendwie Parallelen zum Anarchismus, kann nur treffen, wer sich nicht mit diesem beschäftigt. Vor allem verbleiben solcherlei Annahmen in einem liberal-demokratischen Verständnis von Politik, welches sich aber als völlig unzulänglich erweist, um gesellschaftliche Entwicklungen in Umbruchszeiten adäquat zu erfassen. Abgesehen von der Adaption anarchistischer Praktiken und Narrative durch Rechtspopulist*innen seit dem sogenannten „Anarcho-Kapitalismus“ bis hin zum verkorksten „National-Anarchismus“, handelt es sich bei Quasi-Faschismus und Anarchismus um grundlegende Gegensätze.

Und in dieser Rolle bezieht sich der Anarchismus selbstredend nicht auf die bestehende parlamentarische Demokratie oder will die bürgerliche Gesellschaft oder den liberalen Kapitalismus verteidigen, sondern die soziale Revolution gegen den Faschismus ins Feld führen. Dies bedeutet eine Kritik an verstaatlichter Politik zu üben und zu praktizieren, während zugleich im Streben nach Autonomie andere Beziehungen und Institutionen aufgebaut werden. Dazu gilt es sich bisweilen notgedrungen auch auf das politische Terrain zu begeben – aber mit aller gebotenen Skepsis ihm gegenüber. Dies ist die anarchistische (Anti-)Politik. Aus rechtspopulistischer Sicht tritt sie für einen „Great Reset“ ein, der allerdings durch organisierte und entschiedene soziale Bewegungen umgesetzt wird, statt das er das geheime Werk vermeintlicher Welteliten wäre.

Mit der quasi-faschistischen Meta-Politik dagegen soll ja in keiner Weise Politik als vermachtetes Terrain mit extrem ungleich verteilten Machtressourcen problematisiert, geschweige denn abgeschafft werden. Den konformistischen Rebell*innen geht es vielmehr darum, nach unten zu treten, die eigenen Privilegien mit Gewalt zu verteidigen und Schwächere (ob Migrant*innen, arme oder queere Menschen, Klimaschützer*innen, Feministinnen oder kritische Intellektuelle) gänzlich aus der Politik auszuschließen. Keine institutionell vermittelte, sondern direkte politische Herrschaft ist das Ziel. Mit dem Quasi-Faschismus soll also durch Politik umso mehr Staatlichkeit – als zentralisierendes, autoritäres und hierarchisches Prinzip – in alle gesellschaftlichen Bereiche durchgesetzt werden. Meta-Politik wird daher zwar vom aufgehetzten Fußvolk durchgeprügelt, nicht aber durch die Bewohnenden eines Landes im demokratischen Sinne. Dabei definiert sich das Fußvolk der herrschenden Ordnung – trotz strategisch platzierter Quoten-Schwarzen, -Frauen, -Schwulen – im Wesentlichen nach ethnischer Zugehörigkeit und hegemonialer Untertanenkultur.

Anhänger*innen quasi-faschistischer Meta-Politik zielen daher auf die Ästhetisierung der Politik und ihre Vertiefung in alle gesellschaftliche Bereiche ab. Sie wollen Staatlichkeit total machen, um in ihrer menschlichen Verkommenheit und Entfremdung zumindest einen geringen Anteil an der politischen Herrschaft zu erhalten. Mit anarchistischer Anti-Politik soll der Politik dagegen vor allem etwas entgegengesetzt werden, um diese auf ihr Terrain zu verweisen und in anderen Bereichen gesellschaftliche Transformation anzustrengen: In den Individuen, dem Soziale, der Ökonomie, Gemeinschaften, Kultur, Ethik oder Utopie werden Bezugspunkte gesucht, wie Gesellschaft sonst verändert und gestaltet werden kann. Durch quasi-faschistische Meta-Politik mutiert staatliche Politik dagegen zum grausamen Selbstzweck – und offenbart damit das ihr innewohnende Monster kratós, die nackte Staatsgewalt, welche Souveränität aus sich selbst heraus schöpft. Durchgreifen, durchregieren, durch-reglementieren soll sie, koste es, was es wolle.

Auch wenn Reflexe in diese Richtung verständlich sind, ist es leider keine Lösung, sich darüber erschrocken in kapitalistischen Konsummöglichkeiten, romantischen Subkulturen, intellektueller Schöngeistigkeit oder exzessiver Weltflucht zu verlieren. Vielmehr gilt es, sich aktiv zur Wehr zu setzen und Orientierung für die Möglichkeiten einer libertär-sozialistische Gesellschaftsform zu gewinnen. Aus diesem Grund ist der Anarchismus nicht apolitisch oder unpolitisch, sondern eben (anti-)politisch. Weil sie Positionen beziehen, sind Anarchist*innen in der Lage in Widersprüchen zu handeln.

Das Soziale und die Gemeinschaft gestalten

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(Anti-)Politik im mutualistischen und kommunitären Anarchismus

zuerst veröffentlicht in: Contraste. Zeitschrift für Selbstorganisation #459

Was viele von uns motiviert, ist die Sehnsucht nach einem guten Leben für alle in friedlicher und kooperativer Koexistenz. Damit brauchen wir nicht bescheiden umzugehen. Um dies zu realisieren, gilt es die herrschaftliche Gesellschaftsform, in der wir leben, grundlegend zu verändern. Mit diesem großen Anspruch nehmen wir uns selbst ernst und bleiben auf der Suche, anstatt uns in alternativen Blasen unter Gleichgesinnten einzurichten. Mit dem folgenden Beitrag möchte ich einige Erkenntnisse aus meiner intensiven Beschäftigung mit anarchistischer Theorie weitergeben, um zur Reflexion und Diskussion über alternative Praktiken und Strategien anzuregen.

Die sozialistische Bewegung entstand als Graswurzelbewegung. Erst im letzten Drittel des 19. Jh. wurden sozialistische Parteien gegründet und der sozialdemokratische Weg politischer Reformen sowie der autoritär-kommunistische Weg der politischen Revolution beschritten.

Dagegen richtete sich der Anarchismus als dritte Hauptströmung im Sozialismus. Einerseits glaubten seine Anhänger*innen nicht an die Reformierbarkeit sozialer Missstände innerhalb des politischen Systems des bürgerlichen Staates, welcher von kapitalistischen Interessen dominiert wird. Andererseits haben Anarchist*innen unter anderem in Frankreich bei den Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 sowie bei der Niederschlagung der Kommune-Bewegung 1871 wiederholt die Erfahrung gemacht, dass eine Revolution, die auf die Übernahme der Staatsmacht abzielt, letztendlich zur Erhaltung und Erneuerung der Herrschaftsordnung führt. Deswegen kritisieren sie die Form der politischen Partei als autoritär, zentralistisch und hierarchisch und damit als der Herrschaftsordnung zugeordnet, welche sie überwinden wollen. Stattdessen setzen sie auf freiwillige, dezentrale und autonome Netzwerke, mit denen sie eine Gegen-Gesellschaft aufbauen wollen.

Der Streit um diese unterschiedlichen Analysen und Strategien, drückt sich auch in der anarchistischen Ablehnung von »Politik« aus. Argumentiert wird, dass es gar nicht effektiv, sinnvoll und emanzipatorisch sei, wenn Sozialist*innen sich auf das politische Feld begeben und sich politischer Mittel bedienen. Stattdessen sollten sie sich weiterhin selbst organisieren, freiwillig zusammen schließen und außerhalb der etablierten politischen Rahmenbedingungen betätigen.

Das Soziale und die Gemeinschaft als Bezugspunkte

Politisch ist nicht gleich staatlich. Das Problem ist aber, dass der moderne Staat versucht, alle politischen Bestätigungen zu vereinnahmen, zu regulieren und zu verstaatlichen, anstatt Menschen selbstbestimmte Lösungen suchen und umsetzen zu lassen. Auch die sogenannte »Zivilgesellschaft« wird auf diese Weise vom Staat kon­struiert und ihm zugeordnet. Gleichzeitig glauben die meisten Menschen unter dem Einfluss der Herrschaftsideologie, nur wenn ihre Aktivitäten politisch ausgedrückt werden (Gespräche mit Politiker*innen, Medienaufmerksamkeit, Aufgreifen der Forderungen durch Parteien, entsprechende Gesetze usw.) wären sie relevant und könnten erfolgreich sein. Deswegen wollen häufig auch viele Aktive in sozialen Bewegungen diese politisch ausrichten. Politik funktioniert auf diese Weise in der Gegenwartsgesellschaft als ein staatliches Herrschaftsverhältnis, das es grundlegend zu kritisieren und zu dem es Alternativen zu suchen gilt.

Die anarchistische Kritik am Politikmachen ermöglicht es, anderen Handlungsmöglichkeiten nachzugehen. Als anti-politische Bezugspunkte in verschiedenen Ausprägungen des Anarchismus können die Individuen (Individualanarchismus), die Gesellschaft (anarchistischer Kommunismus), die Ökonomie (Anarch@-Syndikalismus) und eine Projektion von ultimativer »Freiheit« (Insurrektionalismus) beschrieben werden. Für die Lesenden der CONTRASTE scheinen mir dabei die Vorstellungen, die auf das Soziale abzielen (Mutualismus) und Ansätze, die auf die Gemeinschaft (Kommunitarismus) fokussieren am bedeutendsten zu sein. Letztendlich vermischen sich diese verschiedenen Ansätze und damit verbundenen Praktiken und Stile in anarchistisch beeinflussten Szenen häufig.

Mutualismus bedeutet »Gegenseitigkeit« und zielt darauf ab, mit freien Vereinbarung zwischen Einzelnen oder Gruppen kooperative Beziehungen herzustellen, statt sich in aufgezwungene Ausbeutungs- und Rechtsverhältnissen zu begeben. Trotz berechtigter Kritik an seinem Sexismus und Antisemitismus ist Pierre-Joseph Proudhon als Vordenker dieses Konzepts zu nennen. Michael Albert kann zum Beispiel als ein zeitgenössischer Vertreter gelten. Auch wenn die vereinzelnde Massengesellschaft es ihnen erschwert, sozial eingebunden zu sein, befinden sich die meisten Menschen in unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen. Diese sozialen Beziehungen sind nicht in jedem Fall für alle Beteiligten gelingend, wohltuend oder genügen emanzipatorischen Ansprüchen. Dennoch lässt sich hier ansetzen, damit Menschen sich selbst organisieren und aktiv den sozialen Raum gestalten, in den sie eingebunden sind.

Gedanken zum kommunitären Anarchismus wurden insbesondere von Gustav Landauer formuliert und werden aktuell von John P. Clark weitergedacht. Im Sinne der Lebensreformbewegungen geht es darum, mit jenen anzufangen, welche einen Drang nach Veränderung der Gesellschaft und ihres eigenen Lebens spüren. In alternativen Gemeinschaften werden sozialistische Organisationsformen und Beziehungen vorweggenommen, um so auf experimentelle Weise und mit offenem Ausgang ein neues Beginnen zu wagen. Diese Gemeinschaften können Kommune-Projekte sein, wo die Mitglieder ihr gesamtes Leben teilen, sich aber genauso in Gegen-Kulturen finden, in denen sich Menschen durch ihren Protest, eigene Stile und utopische Vorstellungen verbunden fühlen. Wenn die entsprechenden Gruppen nach außen wirksam werden, geben sie damit wichtige Impulse in ihre Umgebung, ohne anderen ihre Vorstellungen aufzuzwingen.

Der anarchistische Mutualismus und Kommunitarismus gehen tatsächlich häufig ineinander über. Ihre Befürworter*innen interessieren sich nicht besonders für »die« Revolution im Sinne eines großen »Umsturzes«. Wenn es zu einer spürbaren Veränderung des derzeitigen Gesellschaftssystems kommt, gehen mutualistisch und kommunitär eingestellte Anarchist*innen nicht davon aus, dass sie dies großartig beeinflussen könnten oder darauf hinwirken müssten. Was sie aber durchaus tun, ist neue soziale und gemeinschaftliche Institutionen und Beziehungen zu entwickeln. Denn je umfassender Menschen im Sozialen selbst organisiert sind, in Gemeinschaften ihre Leben teilen und dabei sozialistische Werte wie Gleichheit, soziale Freiheit, Solidarität, Vielfalt und Selbstbestimmung leben, desto eher unterscheidet sich eine neue Gesellschaftsform von der vorherigen und gewinnt eine andere Qualität. Was wir heute aufbauen, weist bereits die Richtung in eine erstrebenswerte Zukunft und wenn diese eintritt, ist sie nur so schön, wie das, was wir bereits verwirklicht haben.

Stärker als bei anderen anarchistischen Ansätzen liegt hinter dieser Herangehensweise ein Vertrauen in die soziale Evolution der Gesellschaft. Das bedeutet, dass Menschen, die selbstorganisiertes Soziales und rebellische Gemeinschaften stiften, pflegen und gestalten, auf lange Sicht grundlegende Veränderungen bewirken können. Es stimmt dabei, dass dem eine Herrschaftsordnung entgegensteht, in welche viele Menschen zutiefst verstrickt und verhaftet sind, die sie vereinzelt, ihre Vorstellungskraft beschränkt, ihre Hoffnung zerstört, welche in vielerlei Hinsicht auf Gewalt beruht und gewaltsam aufrecht erhalten wird. Aber letztendlich stellt sich für uns die Frage, wie wir leben wollen und was wir im Rahmen unserer Möglichkeiten tun können, um grundlegende Veränderungen zu bewirken.

In Distanz zur herrschenden Politik andere Wege gehen

Anarchist*innen gehen dabei davon aus, dass erstrebenswerte solidarische, gleiche und freiheitliche Verhältnisse parallel zu jenen der dominanten Herrschaftsverhältnisse bestehen und ausgeweitet werden können. Statt dem Staat können sich Menschen in Föderationen freiwilliger, autonomer Kommunen organisieren; statt dem Kapitalismus dezentrale sozialistische Wirtschaftsformen wie Kollektivbetriebe, Genossenschaften, regionalen Wirtschaftskreisläufe etc. einrichten. Auch zu Patriarchat, weißer Vorherrschaft und Naturbeherrschung gibt es lebenswerte Alternativen.

Ein theoretischer Baustein, um dies zu denken, besteht darin, eine kritische Distanz zu dem aufzubauen, was alltagsweltlich und fachgemäß unter »Politik« verstanden wird. Damit geht es darum, außerhalb vorgefertigter Bahnen zu denken, sich auf die Vielen zu beziehen, welche gar nicht im politischen Prozess repräsentiert oder mitgedacht werden, und zu hinterfragen, was uns als effektiv, wirksam und sinnvoll präsentiert wird. »Politik« ist ein Begriff, der mit allen möglichen Bedeutungen aufgeladen und in seiner Definition hochgradig umstritten ist. Viele Anarchist*innen beschäftigen sich offensichtlich viel und kritisch mit dem, was politisch geschieht. Wenn wir darüber nachdenken, weisen unsere Vorstellungen und Gefühle in Bezug auf »Politik« allerdings darauf hin, dass oftmals ziemlich unklar ist, was wir tatsächlich meinen, wenn wir von »der« Politik sprechen.

Trotzdem werden wir die Beschäftigung mit Politik nicht ganz los. Und zwar aus dem Grund, weil die zahlreichen kleinen Projekte, welche im mutualistischen und kommunitären Anarchismus hervorgebracht werden, rasch dazu tendieren können, zu Selbstzwecken zu werden. Jede*r die*der in Kollektivbetrieben, Genossenschaften, Hausprojekten etc. involviert war oder ist, kennt das. Wie schnell verlieren wir aus dem Blick, weswegen viele von uns eigentlich darin aktiv sind: Weil wir etwas anderes schaffen und aufbauen wollen – gegen den Trend der Zeit, gegen den Zwang und die Zerstörung, welche mit der Herrschaftsordnung einhergehen. Daher gilt es, dass wir unsere Aktivitäten in den verschiedenen kleinen Projekten auf das große Ziel der Gesellschaftsveränderung insgesamt ausrichten; dass wir uns sozial-revolutionär orientieren. Dies bedeutet, sich nicht in eine Szene zurückzuziehen, sondern selbstbewusst mit den eigenen Sehnsüchten, Vorstellungen und Erfahrungen nach außen zu treten, um andere davon zu überzeugen. Damit können wir auch die Frage aufwerfen, wie eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform politisch organisiert wird. Wir können dabei bereits auf Konzepte der Rätedemokratie, der Gegenmacht und auf eigene Erfahrungen mit kommunaler Selbstorganisation zurückgreifen und durch sie unser Verhältnis zu gegenwärtiger Politik besser bestimmen.

Mit, gegen oder jenseits von Politik?

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Es gibt gute Gründe, die Politik von Regierungen, staatlichen Institutionen, Parteien und NGOs zu kritisieren. Gleichzeitig wollen Menschen in selbstorganisierten Zusammenhängen eigene Politik hervorbringen. Anarchist*innen haben eine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Politikmachen überhaupt. In der politischen Theorie des Anarchismus werden Individuen, das Soziale, die Gesellschaft, die Ökonomie und die Gemeinschaft als Gegenpole zur Politik verstanden, während letztere oftmals dem staatlichen Herrschaftsverhältnis zugeordnet wird.
Ist politisches Handeln überhaupt etwas, was wir verfolgen sollten? Wann, unter welchen Umständen und wie agieren wir auf dem politischen Feld? Gibt es eine autonome Politik und was sind ihre Kriterien?
Wenn wir diesen Fragen nachgehen, können wir andere Praxisformen entdecken, selbstbestimmter und zielgerichteter in gesellschaftlichen Widersprüchen handeln – und den Politikbegriff strategisch mit unseren eigenen Inhalten und Erfahrungen füllen.

Was die Fragen im Nachgang des Vortrags angeht, frage ich mich etwas, ob einige Menschen erwarten, dass ich ihnen die Welt erklären können muss, bevor sie anarchische Überlegungen ernst nehmen. Natürlich habe ich eine Meinung zu verschiedensten Dingen. Interessanter als diese sollte aber die Weise sein, auf die ich anarchistisches Denken darstelle. Deswegen stimmt es trotzdem, dass es anschauliche, anschlussfähige und funktionierende Beispiele braucht, in denen Menschen leben und sich organisieren. Doch kann ich mich nun einmal nicht mit allem beschäftigen und hoffe, die dargestellten Überlegungen inspirieren die eine oder andere Person…

Satanismus als subversive anti-politische Aktionsform?

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In meiner Suche nach Aktionsformen, Stile und Symboliken, an denen Figuren der Anti-Politik veranschaulicht werden können, komme ich naheliegenderweise auch beim Satanismus heraus. Nicht bei irgendwelchem abgedrehten Leuten, die Satan für ein physisches Wesen halten (obwohl ihnen das selbstverständlich nicht zu verbieten wäre), sondern beim politischen Satanismus, der sich gegen die Agenda der christlich-fundamentalistischen Rechten in den USA formierte. Unten finden sich einige Videos von Vice, welche The Satanic Temple interviewen und ihre Aktionen einfangen.

Daraus geht ziemlich klar hervor, dass dieser Satanismus zweifellos als Provokation angelegt ist, jedoch ein berechtigtes Aufbegehren gegen die Ungleichbehandlung von religiösen Vorstellungen darstellt. Hierbei geht es dann auch um handfeste politische Themen, wie das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Im Grunde genommen hat Satan vor allem deswegen Macht, weil Christen an ihn glauben, nicht Satanist*innen. Zumindest dem TST geht es dabei um eine zutiefst humanistische Auslegung des Satanismus mit dem sich die Dominanz christlicher und darin auch fundamentalistischer Gruppierungen angreifen lässt. Genauer wird dies an der Forderung deutlich, vor dem Kongressgebäude in Arkansas eine Statue von Baphomet aufstellen zu lassen, um die Selbstverständlichkeit anzufechten, mit welcher ein Monument mit den Zehn Geboten auf diesem Grund steht.

Dieses Konterkarieren von herrschaftlichen Symboliken, aus einem asymmetrischen Machtverhältnis heraus, scheint eine eminent anarchistische Handlungsweise zu sein. Werfen wir beispielsweise einen Blick in Bakunins Gott und der Staat von 1871, findet sich darin ganz zu Beginn folgende Passage:

„Jehova, von allen Göttern […] [der] Freiheit feindlichste, schuf Adam und Eva aus man weiß nicht was für einer Laune heraus, ohne Zweifel, um seine Langeweile zu vertreiben, die bei seiner ewigen egoistischen Einsamkeit schrecklich sein muss, oder um sich neue Sklaven zu schaffen […] Aber da kam Satan, der ewige Rebell, der erste Freidenker und Weltenbefreier. Er bewirkte, dass der Mensch sich seiner tierischen Unwissenheit und Unterwürfigkeit schämte; er befreit ihn und drückt seiner Stirn das Siegel der Freiheit und Menschlichkeit auf.“

Michael Bakunin, Gott und der Staat, in: Gesammelte Werke (Max Nettlau Hrsg.), hier S. 94.

Der eigentliche Sinne des Schöpfungsmythos bestünde daher darin:

„Der Mensch hat sich befreit, er hat sich von der tierischen Natur getrennt un sich als Mensch gebildet; er begann seine Geschichte und seine eigentlich menschliche Entwicklung mit einem Akt des Ungehorsams und der Erkenntnis, das heißt mit der Empörung und dem Denken.“

Ebd. S. 95.

Statt einfach nur gegen Religion zu pöbeln, bedient sich Bakunin hier selbst des religiösen Mythos, um seine Interpretation in eine der herrschenden Vorstellungswelt widersprechenden Weise auszulegen. Er greift das Christentum also immanent an – und dies wie der TST in einem klar humanistischen Sinne. Die Empörung, der Ungehorsam ist der erste Akt, welcher den Menschen von seiner „tierischen Natur“, also auch von seiner Abhängigkeit von metaphysischen Imaginationen befreit und damit eigentlich zum Mensch werden lässt, der seine eigene Geschichte gestalten, sich also selbst bestimmen kann. (Die Metapher lässt sich kollektiv als auch individuell auslegen.) Eine schöne Sache also, in derem Zusammenhang der anti-politische Move des TST diskutiert werden könnte…