Offenbar in Folge meiner Anregung zu einer KANTINE KROPOTKIN im letzten Jahr hat sich die Orga-Gruppe des in Chemnitz stattfindenden Theorie-Festivals entschieden, sich in ihrer sechsten Aulage mit dem Anarchismus zu beschäftigen.
Die autodidaktischen Intellektuellen sind teilweise in der Kritischen Theorie, in jedem Fall im marxistischen Denken beheimatet. Wünschenswert ist daher, dass die Beschäftigung mit dem Anarchismus so respektvoll, vorurteilsfrei und informiert wie möglich geschieht. Und dies insbesondere, wenn es nicht primär darum gehen soll, ein anachronistisches und weltfremdes Anarchismus-Verständnis zu perpetuieren, sondern eine Aktualisierung anarchistischen Denkens zu wagen. Dafür braucht es Theoretiker*innen, die sich auch als Anarchist*innen begreifen und positionieren. Und es braucht viele Mitdenkende, die ihre eigenen Erfahrungen und das Wissen aus sozialen Bewegungen in den Diskussionsprozess beisteuern. Insofern wünsche ich mir, dass außer mir weitere anarchistische Personen teilnehmen und die Debatte suchen.
Meine fünf Cent zu inner-feministischen Auseinandersetzungen
Im Folgenden plädiere ich dafür, in Abgrenzung zu Queerfeminismus, Radikalfeminismus und liberalem Feminismus einen eigenständigen anarch@feministischen Ansatz zu entwickeln. Dieser müsste eine Erneuerung gegenüber früheren derartigen Ansätzen darstellen, da diese nicht am Puls der Zeit sind.
Mir ist bewusst, dass meine Kompetenz, zu diesem Themenfeld zu sprechen begrenzt ist. Zudem bin ich als männlich sozialisierte Person weniger und anders vom Patriarchat betroffen, als Menschen mit anderen Positionierungen. Deswegen sind diese Überlegungen als ein Versuch anzusehen, meine eigenen Gedanken auf diesem Weg zu äußern. Denn ich möchte dem Thema die Bedeutung zukommen lasse, welche sie tatsächlich für umfassende Emanzipation hat.
-> Wenn du eigene Gedanken zum Thema hast oder dich auch aus einer anderen Positionierung heraus dazu äußern möchtest, schreib mir gern und ich veröffentliche deinen Beitrag, wenn er aus anarchistischer Perspektive geschrieben ist.
Im folgenden Text gehe ich der Frage nach, welches Verhältnis zwischen individualistischen Varianten des Anarchismus zur Politik besteht. In einem vorherigen Beitrag (siehe CONTRASTE Nr. 459, Dezember 2022) habe ich die (Anti-)Politik im mutualistischen und kommunitären Anarchismus betrachtet, während ich an anderer Stelle, das paradoxe Verhältnis zur Politik im anarchistischen Kommunismus und Syndikalismus beleuchtet habe. Ich setze diese Ausführungen fort, um einige Ergebnisse meiner Doktorarbeit zur politischen Theorie des Anarchismus zugänglich zu machen.
Titelbild von contraste von suju-foto/Pixabay – Ein durchaus aufgewecktes Schaf 😉
Neben der Sozialdemokratie und dem Partei-Kommunismus bildet der Anarchismus eine der Hauptströmungen des Sozialismus. Während erstere sich mit den Strategien der politischen Reform und der politischen Revolution auf den Staat beziehen, kritisieren Anarchist*innen das Handeln auf dem politischen Feld und die Bezugnahme auf politische Logiken, Verfahren und Organisationen. Wesentlich sinnvoller, effektiver und emanzipatorischer erscheint dagegen das Handeln in Form von direkten Aktionen, persönliche Überzeugungen und die eigene Lebensführung. Ideengeschichtlich betrachtet adaptierte der Anarchismus Elemente liberaler Theorien. Dies zeigt bei seiner Betonung von Individualität und Subjektivität, ebenso wie in theoretischen Konzepten der »freien Vereinbarung« und »Selbstorganisation«, dem Organisationsprinzip der »Freiwilligkeit«, als auch in der Bezugnahme von Willensfreiheit, Selbstverantwortung, »Selbst-Eigentum« und der zu erringenden Souveränität von Einzelnen. Auch wenn es einigen kommunistischen und syndikalistischen Anarchismus nicht passt, sind individualistische Aspekte wesentliche Bestandteile des anarchistischen Denkens und Handelns insgesamt.
Ausgangspunkte und Stränge des Individualanarchismus
Dabei gibt es nicht »den« Individualanarchismus an sich, sondern verschiedene Stränge. Meiner Ansicht nach unterschieden werden können der aufklärerische Rationalismus (angefangen bei William Godwin), der Egoismus (ausgehend von Max Stirner, Émile Armand und Renzo Novatore), der Transzendentalismus (etwa von Waldo Emerson, Henry David Thoreau oder Lew Tolstoi) und ein Ultra-Liberalismus(von Benjamin Tucker oder John Henry Mackay). Darüber hinaus bezogen auch ausgewiesene kommunistische Anarchist*innen wie Emma Goldman oder Errico Malatesta gelegentlich individualistische Positionen, wenn es darum ging, vor kollektivistischer Gleichmacherei oder parteilichem Gehorsam und Autoritäts-Anmaßungen zu warnen.
Die Befreiung der Einzelnen ist eine wesentliche Orientierung aller Anarchist*innen, wie bereits 1880 der frühe Anarch@-Kommunist Carlo Cafiero feststellte. Was Individualanarchist*innen jedoch kennzeichnet, ist die Bedeutung, welche sie der Befreiung und Ermächtigung der Einzelnen im Hier und Jetzt zuschreiben und der Erkenntnis, dass Emanzipation im Leben von Einzelnen konkret erfahrbar sein müssen, um etwas zu gelten. »Freiheit« kann deswegen nicht allein durch die Schaffung der gesellschaftlichen Bedingungen für eine selbstbestimmte Lebensgestaltung erreicht werden, noch besteht sie vorrangig in der abgekapselten Selbstverwirklichung vereinzelter Personen. Vielmehr misst sie sich an der Möglichkeit der Kritik und Überschreitung jeglicher Zwänge, Normen und Hierarchien, welche in Kollektiven immer wieder entstehen können. Dies bezeichnet Daniel Loick in seinem Einführungsband als »ästhetische Freiheit«, wurde aber tatsächlich bereits 1882 von Michael Bakunin thematisiert.
Individualistische Aspekte sind aus dem Anarchismus insgesamt nicht wegzudenken. Dies zeigt sich auch darin, dass Themen wie die Vielfalt und Selbstbestimmung in Geschlechtsidentität und sexuellem Begehren in unserer Zeit relevant sind. Ebenso spielt der Individualismus eine Rolle in strategischen Fragen danach, wie sich Einzelne für anarchistische Projekte begeistern und motivieren lassen, als auch bei ethischen Überlegungen darüber, wie man in einer Welt voller Herrschaft anarchistischen Vorstellungen entsprechend leben kann und sollte. Wenn Anarchist*innen etwas zum Verständnis, der Kritik und Weiterentwicklung der gegenwärtigen Gesellschaftsform beitragen wollen, ist zu verstehen, wie sie das Spannungsfeld von Kollektivität und Individualität beschreiben und damit produktiv umgehen können.
Massengesellschaft und Pseudo-Individualismus
Gehen wir noch einmal einen Schritt zurück zur Entstehung der anarchistischen Bewegung um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Parallel zur Durchsetzung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, des Modells der patriarchalen Kleinfamilie, der Konstruktion von »Rassen« im Zuge von Kolonialisierung und Versklavung wie auch der systematischen Naturbeherrschung, breitete sich der moderne Nationalstaat aus. Die nationalstaatliche politische Herrschaft regulierte, kontrollierte und regierte immer mehr gesellschaftliche Sphären. Aus Untertanen wurden Bürger*innen und aus Bewohner*innen eine Bevölkerung geformt, welche statistisch erfasst und bürokratisch verwaltet wurde. Zugleich ist der Anbruch der Moderne eine hochgradig ambivalente Angelegenheit. Innovationen in Landwirtschaft, Gesundheitsversorgung, Maschinenarbeit, Bildung und Produktivität ermöglichten einen relativen Wohlstand für einen Teil der Menschen und bildeten somit – verbunden mit einem durch den Humanismus gewandelten Menschenbild – die Voraussetzung für die selbstbestimmte, individuelle Lebensgestaltung.
Die individual-anarchistische Kritik daran lautet erstens, dass Selbstbestimmung und Selbstentfaltung eben nicht für alle gleichermaßen möglich wurde und zweitens, dass der bürgerliche Individualismus ein Pseudo-Individualismus wäre – den Einzelnen sei es eben nur so weit gestattet, ihre Besonderheit zu entwickeln, wie sie damit nicht althergebrachte oder auch neu eingeführte Konventionen und hegemonialen Vorstellungen angriffen oder irritierten. Dies betrifft zum Beispiel die Sexualmoral und nicht-sesshafte Lebensstile, bürgerliche Etikette (»Knigge«) und bestimmte Grenzen zwischen dem, was privat gehalten und was öffentlich gezeigt werden soll.
Es ist kein Widerspruch, dass diese Pseudo-Individualisierung mit dem Aufkommen der Massengesellschaft einhergeht. Durch Fabrikarbeit, standardisierte Wohnviertel und Konsumformen, staatliche Schulen und Militärdienst wurden proletarisierte soziale Gruppen gleich gemacht und individuelle Besonderheiten egal. Diese Homogenisierung, wie auch die Verdrängung vormoderner Lebensformen zugunsten nationaler Mythologie, diente zur Herausbildung eines vermeintlich kohärenten »Volkes«. Standardisierte industrielle Produktion verdrängte Handwerk und Industrielle, monokulturelle Landwirtschaft regional angepasste Anbaumethoden. Mit der Kulturindustrie wurden massentaugliche Ausdrucksformen, Rollenmuster und Narrative vereinheitlicht.
Es liegt mir fern mit dieser Beschreibung vormoderne Vergangenheiten zu idealisieren oder sie als romantisierte Projektionsfläche einer vermeintlich heilen und versöhnten Welt entgegen modernen Gesellschaftsformen zu benutzen – wie kalt, zerstörerisch, vereinzelnd und vermassend letztere tatsächlich auch ist. Wesentlich wichtiger ist es, Orientierung darüber zu gewinnen, wo wir gemeinsam hin wollen – und wie wir bereits Hier und Heute so leben und kämpfen können, um dies zu verwirklichen. Dass alle Einzelnen ihre Leben selbst bestimmen, gestalten und entfalten können, sollte dabei weiterhin die Fluchtlinie emanzipatorischer Gesellschaftsveränderung bleiben. Denn Emanzipation gelingt nur dort, wo sie im Leben konkreter Einzelner erfahrbar und durch sie selbst vollzogen wird. Soziale Freiheit ist kein abstrakter philosophischer Begriff, sondern eine Seinsweise, deren Bedingungen wir schaffen und ausweiten können.
Politik als Nivellierung der Einzelnen und »Politik der ersten Person«
Auch individualistische Anarchist*innen wollen also die gesellschaftlichen Verhältnisse verändern. Dies tun sie angefangen bei ihrem eigenen Leben und ihrer unmittelbaren Umgebung, weil dies nun einmal der Horizont ist, in welchem sie wirksam werden und damit auch Selbstwirksamkeit erfahren können. Damit stellt sich auch die Frage, welches Verhältnis zur Politik sich daraus ableiten lässt.
Grundlegend kritisiert wird, dass politisches Handeln vom modernen Staat vereinnahmt, monopolisiert und diesem häufig zugeordnet wird. In der repräsentativen, parlamentarischen Demokratie wird nur eine äußerst vermittelte Repräsentation individueller Wünsche und Bestrebungen möglich. Mehrheitsentscheidungen führen dazu, dass Minderheiten und somit auch die Forderungen Einzelner systematisch übergangen werden. Die Bürokratie des modernen Staates behandelt seine Bürger*innen nicht als individuelle Menschen mit spezifischen Wünschen, Bedürfnissen, Fähigkeiten und Lebensweisen, sondern als zu zählende und zu berechnende Bevölkerung, ebenso wie sie von kapitalistischen Unternehmen als Arbeitskräfte mit Humankapital betrachtet werden. Interessen von Einzelnen müssen aggregiert (»gesammelt«) und in einer Fachsprache artikuliert werden, damit sie in politischen Prozessen und Verfahren beachtet werden. Politik führt in einer Gesellschaftsform, die durch die politische Herrschaft der modernen Nationalstaatlichkeit dominiert wird, also notwendigerweise zu einer Entfremdung der Einzelnen von ihren unmittelbaren, eigenen Wünschen, Bedürfnissen, Interessen, Vorstellungen und sozialen Beziehungen. Dies gilt für staatliche Institutionen gleichermaßen wie für politische Parteien.
Den Staat interessiert nicht, was Menschen in ihrem Privatleben denken und tun, wobei er definiert, wo die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem verläuft. Liberale betonen diese Grenze, begründen damit aber auch die Notwendigkeit des Staates, welcher erst die bürgerliche Existenzweise – verknüpft mit dem bürgerlichen Rechtssystem und Privateigentum – einrichtet. Anarchist*innen wollen die Selbstbestimmung der Einzelnen entgegen der verstaatlichten Politik ausdehnen, überschreiten damit aber auch die Grenzen dessen, was privatisiert und veröffentlicht wird. Der Slogan der zweiten Welle der Frauenbewegung »Das Private ist politisch« verdeutlicht, worum es geht: Es ist sollte eben keine Privatsache sein, ob zum Beispiel Männer ihre Partnerinnen bevormunden oder befehligen, denn die patriarchale Kleinfamilie ist eine herrschaftsförmige Institution, die es zu kritisieren und zu überwinden gilt. Dies geschieht auf verschiedenen Ebenen, also auch auf jener der sozialen Beziehungen. Feministische Bewegungen waren erfolgreich, weil sie insbesondere auch ins Private abgeschobene Lebensverhältnisse und Verhaltensweisen thematisierten, Alternativen zu ihnen schufen und ihr Umfeld unmittelbar veränderten.
Die Schwerpunkte in den verschiedenen Strängen des Individualanarchismus in Hinblick auf das Politikverständnis werden dabei verschieden gesetzt.
Von Stirner ausgehend findet sich dabei eine Fundamentalkritik am Politikmachen. Mir ihr wird angenommen, Politik unterwerfe, vereinnahme und nivelliere immer die Einzelnen, die stattdessen einfach unmittelbar ihren Bedürfnissen und Leidenschaften folgen sollten. Daher gelte es auch, sozialistischer Politik gegenüber grundlegend skeptisch zu sein, mit welcher die Einzelnen ebenso missachtet werden würden. Als zeitgenössischer Denker steht zum Beispiel der französische Philosoph Michel Onfray in dieser Tradition, die paradoxerweise in eine anti-liberale, Querfront-populistische Tendenz abgleitet.
Thoreau formuliert dagegen eine Haltung der ausgesprochenen Indifferenz gegenüber staatlicher Politik und kritisiert sie gerade deswegen, weil sie in die Angelegenheit der Einzelnen eingreift. Wenn man so will, soll Politik so fern wie möglich gehalten werden, was aber umgekehrt keineswegs ausschließt, sich um seine Gemeinschaft zu kümmern und damit verbunden das eigene Leben bewusst zu gestalten. Von diesem Ansatz wurden vor allem Konzepte des Zivilen Ungehorsams abgeleitet, die sich auf eine höhere »Gerechtigkeit« und damit auf einen imaginären Gesellschaftsvertrag beziehen, der von verstaatlichter Politik gebrochen werde.
Letzteres ist auch bei Godwin der Fall. In seiner Linie lässt sich am ehesten eine individualanarchistische Politik formulieren. Beispielsweise lehnt er das staatliche und kirchliche Schulsystem ab, argumentiert aber, dass es ein öffentliches Schulsystem brauche, damit Menschen sich emanzipieren können. Damit geht er also wie selbstverständlich davon aus, dass es nicht Aufgabe des Staates sei, gesellschaftliche Institutionen zu schaffen oder zu verwalten, denn dieser würde keine Selbstbestimmung der Einzelnen ermöglichen.
Tucker vermischt Aspekte verschiedener anarchistischer Denker und tritt für eine Variante des Sozialismus ein, die vor allem genossenschaftlich und mutualistisch orientiert ist. Dieser könne am ehesten die Selbstbestimmung der Einzelnen ermöglichen, welche sich in freiwilliger Vereinbarung direkt zusammenschließen sollten. Dafür gälte es allerdings der Tendenz zur Monopolisierung und staatlicher Regulierung entgegenzutreten.
Allen Strängen im Individualanarchismus ist gemeinsam, dass sie die Nivellierung der Einzelnen durch verstaatlichte Politik kritisieren und die politischen Institutionen und Verfahren des modernen Staates nicht für geeignet halten, selbstbestimmte Individuen hervorzubringen. Daher richten sie sich auch gegen den autoritären Kommunismus und sind skeptisch gegenüber groß angelegten Gesellschaftsentwürfen und Revolutionsvorstellungen. Außerdem kritisieren sie die Ideologie politischer Herrschaft, welche zum Beispiel durch Schulen, Geschichtsschreibung, staatliche Medien und Nationalfeierlichkeiten produziert wird. Diese Herangehensweisen sind zwar mit linksliberalen Verständnissen verwandt, erweisen sich bei genauerer Kenntnis jedoch als eigenständige Perspektiven, aus denen sich verschiedene Positionen im Umgang mit Politik feststellen lassen. Während Stirner sich ganz auf den anti-politischen Pol stellt und Thoreau eine Indifferenz befürwortet, versuchen Godwin und Tucker, die Politik aus ihrer Verstaatlichung zu lösen und in den Dienst der Selbstbestimmung der Einzelnen stellen wollen.
Von der Befreiung zur Selbstbestimmung der Einzelnen
Ideengeschichtlich und politisch-theoretisch betrachtet ist anarchistischer Individualismus wie dargestellt nicht damit gleichzusetzen, dass Einzelne eben »ihr Ding« machen, ihnen niemand in ihr Denken und Handeln »reinreden« soll, sie lediglich auf das eigene Glück schauen oder gar das Recht des Stärkeren befürworten würden. Mit anderen Worten ist der Individualanarchismus etwas anderes als der bürgerlich-liberale Individualismus und dessen Zuspitzung im wutbürgerlich-rechten »Libertarianismus« oder sogenannten »Anarcho-Kapitalismus«. Deswegen ist die Kritik von Marxist*innen, Leninist*innen und vielen kommunistische und syndikalistische Anarchist*innen an Verfechtern eines individualistischen Anarchismus nicht zutreffend.
Aus dem Individualanarchismus folgt weder eine Befürwortung der kapitalistischen Wirtschaftsweise, noch ein Recht des Stärkeren und nicht einmal zwangsläufig die Desorganisierung sozialer Bewegungen. Im Gegenteil wird argumentiert, dass moderner Staat, Kapitalismus und Patriarchat eben keine echte Individualisierung im anarchistischen Sinne ermöglichen und dulden, diese also gegen die Herrschaftsverhältnisse ausgeweitet werden müsse. Die Betonung der Einzelnen und ihrer Selbstverantwortung kann gerade zur Förderung eines ethischen Lebens beitragen, in welchem Menschen Verantwortung füreinander übernehmen, sich gegenseitig verstehen, unterstützen und miteinander wachsen möchten. Und schließlich stärkt es Gruppen in sozialen Bewegungen gerade, wenn individuelle Ansichten und Positionen gehört und respektiert werden. Gerade dadurch können besonders Einzelne einen freiwilligen Bezug zu einer Kollektivität herstellen, in welcher sie nicht ignoriert oder eingliedert werden.
Zugleich stimmt es aber ebenfalls, dass wir in einer Gesellschaftsform leben, welche auch im 21. Jahrhundert umfassend durch Pseudo-Individualisierung und Massengesellschaft geprägt ist. Die Digitalisierung und Beschleunigung des Lebens hat beide komplementären Phänomene sogar noch weiter verschärft: Zeitgenössische Menschen empfinden häufig einen Zwang zur Selbstdarstellung auf sozialen Medien, zur Herausstellung ihrer vermeintlichen Besonderheiten und Geschmäcker oder auch zur Überbetonung ihrer persönlichen Betroffenheiten. Zugleich werden sie insbesondere von rechtspopulistischen Akteur*innen manipuliert, aufgepeitscht und vereinnahmt. Diese haben keinerlei Interesse an ihrer wirklichen Selbstbestimmung, sondern sich ganz im Gegenteil gegen diese richten, schauen wir uns beispielsweise die Debatten um Abtreibung an.
Derartige Bedingungen wirken sich verständlicherweise auch auf die Organisation sozialer Bewegungen aus: Wer in einer Gruppe permanent auf die Durchsetzung eigener Ansichten pocht, chronisch gekränkt ist und glaubt, nie gehört, verstanden und respektiert zu werden, kann sich kaum dauerhaft und tiefgehend mit anderen verbünden. Wer in seinen Sorgen und Bestrebungen permanent nur um sich selbst kreist, wird nicht begreifen, dass es die Umstände zu verändern gilt, die es uns schwer machen, einen positiven und authentischen Bezug zu unserem Selbst zu finden. Wer dem neoliberalen Glücksversprechen verfällt und kurzfristige Kicks in der Erlebnissucht und Heische nach Aufmerksamkeit sucht – und sei es im Konsum alternativer Subkulturen – wird nicht nur gerade sein Glück verpassen, sondern auch keine rebellische Haltung entwickeln können. Gerade in Bezug auf diese Themen können individual-anarchistische Überlegungen inspirieren, wenn sie als eigenständige Beiträge verstanden werden. Dazu gilt es allerdings vom individualistischen Anti-Reflex zu wirklicher Selbstbestimmung zu gelangen, was manchmal ein schmaler Grad ist. Insofern steht der Individualanarchismus als Ausgangspunkt der Entstehung des Anarchismus, kann aber auch seine Verfallserscheinung darstellen.
Schlussfolgerung für individual-anarchistische (Anti-)Politik
In Bezug auf Politik bedeutet dies erstens: Bei sich selbst und dem eigenen Umfeld anzufangen, Dinge zu verändern. Dort kennen wir uns aus und dort erfahren wir jene Selbstwirksamkeit, die entscheidend dafür ist, das eigene Leben insgesamt zur Veränderung werden zu lassen, welche wir uns für die Welt wünschen. Dafür brauchen wir keine hochtrabenden Überlegungen über Revolutionen anzustellen oder zu behaupten, die Bedingungen für radikale und emanzipatorische Veränderungen wären nicht gegeben – denn sie sind es immer oder nie.
In organisatorischer Hinsicht heißt dies, zweitens, sich möglichst anhand konkreter sozialer Beziehungen zu organisieren. Dies bedeutet keineswegs mit allen Genoss*innen befreundet zu sein, aber Affinitäten zu ihnen zu entwickeln. Es geht also darum, Beziehungen aktiv den eigenen Ansprüchen nach zu gestalten, vernünftig zu kommunizieren und einen respektvollen Umgang miteinander zu pflegen. Selbst große soziale Bewegungen sind nur so stark, wie sich die Einzelnen in ihnen direkt zusammenschließen, vertrauen und miteinander kooperieren – was nicht vom Himmel fällt, sondern aktiv gefördert werden kann.
Drittens lässt sich aus dem individualistischen Anarchismus eine Skepsis gegenüber dem Politikmachen ableiten, die durchaus angebracht ist und gut begründet werden kann. Aktionen sind nicht nur dann »erfolgreich«, wenn mit ihnen Druck auf den Staat ausgeübt werden kann, sodass dieser sich genötigt sieht, Reformen einzuleiten. Direkte Aktionen sprechen für sich und haben unmittelbare Effekte auf die Dinge, welche wir kritisieren und verändern möchten. Dies verlangt, dass die Einzelnen aktiv, freiwillig, reflektiert und bewusst, also selbstbestimmt, handeln. Damit wird vorweggenommen, also bereits praktiziert, was Anarchist*innen insgesamt anstreben: Eine Gesellschaftsform, in welcher alle Menschen die Bedingungen haben, über ihre Leben selbst zu bestimmen und sie selbst zu gestalten – was auch einschließt, dass sie Verantwortung für sich selbst übernehmen können und sollen. Ob daraus resultierendes Handeln dann als »politisch« benannt wird oder gerade nicht, ist dabei nicht wichtig. Entscheidend ist, damit vom verstaatlichten Modus politischen Handelns wegzukommen.
Ein Plädoyer für einen Bewegungsanarchismus und (Anti-)Politik
Diesen Text habe ich für den Debattenblog der Interventionistischen Linken (IL) geschrieben, weil ich – nun ja – damit die Debatte suche. Im konkreten Fall ging es mir auch darum, dass es im Anarchismus durchaus ein theoretisches Denken auf höherem Niveau gibt. Deswegen habe ich den Text so geschrieben, wie ich ihn geschrieben habe. An anderer Stelle wäre er kürzer und einfacher zu fassen.In der Funktion eines Intellektuellen sehe ich es als meine Aufgabe an, mich an Schnittstellen zu bewegen und Gratwanderungen zu vollziehen. In diesem Fall zwischen Menschen, die sich als Anarchist*innen verstehen und solchen, die sich vor allem einer „Bewegungs-Linken“ zurechnen. Und selbstverständlich ist das alles als Diskussionsvorschlag zu begreifen…
Mit dem folgenden Beitrag möchte ich eine kritische Debatte über unser Politikverständnis anregen, über das Verhältnis von Anarchismus und Bewegungslinke reflektieren und auf meine Tätigkeiten hinweisen. Politik aus anarchistischer Perspektive zu verstehen, kann dazu beitragen, die Diskussion über unsere Strategien und Praktiken zu erweitern. Dazu gilt es, sich die ambivalente Ablehnung von Politik und die Bezugnahme auf sie durch Anarchist*innen anzuschauen, welche sich anders gestaltet als bei linksradikalen Strömungen. Seit vielen Jahren verstehe mich selbst als Anarchist und habe an einigen Ereignissen teilgenommen, zu welchen auch die IL mobilisiert hatte. Darunter waren die Proteste gegen den Naziaufmarsch in Dresden, COP15, Castor Schottern, Blockupy und den G20-Gipfel. Auch wenn sich der Schwerpunkt meiner Aktivitäten inzwischen verändert hat, bin ich weiterhin der Ansicht, dass grundlegender Wandel nur durch Druck auf der Straße, vielfältige direkte Aktionen und selbstorganisierte Basisarbeit gelingen kann.
Anarchist*innen und die Bewegungslinke
In bewegungslinken Gruppierungen und Netzwerken finden sich Personen zusammen, welche sich in den drei Hauptströmungen des Sozialismus verorten lassen: Sozialdemokratie, Parteikommunismus und Anarchismus. Statt vorrangig um ideologische Positionen zu ringen, wie in Gruppen, welche sich nach ihrer Gesinnung zusammenfinden, oder um Programme, Posten und die Wähler*innengunst in Parteien, steht in Gruppen der Bewegungslinken die gemeinsame Aktion im Vordergrund. Auch wenn Kontroversen keineswegs ausbleiben, schafft dies die Grundlage für die Zusammenarbeit von Personen, welche von unterschiedlichen Strömungen geprägt sind. Dies ist begrüßenswert, wenn die Einsicht darin besteht, dass umfassende Gesellschaftstransformation zwar nicht durch die anzuführenden Massen gelingen kann, wohl aber der unterschiedlichen Vielen bedarf, die sich verbünden.
Es gibt wenige Personen, die sich als Anarchist*innen verstehen und bei der IL organisiert sind. Häufiger aber kommt es vor, dass anarchistische Zusammenhänge sich an Aktionen der Bewegungslinken beteiligen und dennoch einen gewissen Abstand zu ihr wahren. Und dafür gibt es nachvollziehbare Gründe: Erstens sind Anarchist*innen der Adressierung von Massen gegenüber skeptisch, weil diese oftmals eher lethargisch wirken, als dass sie Spontaneität entstehen lassen. Auch Aktionen, die auf eine große Zahl von Menschen setzen, können demnach nur so gut funktionieren und emanzipatorisch wirken, wie jene, die sich an ihr beteiligen in Bezugsgruppen organisiert sind und sich auch im Alltag organisieren. Zweitens kritisieren Anarchist*innen die Symbolpolitik, welche teilweise in Aktionen zivilen Ungehorsams bedient und gefördert wurden. Vor allem auf die mediale Wirksamkeit zu setzen, erzeugt noch keine Gegenmacht.
Drittens wird eine Kritik an dem Ereignis des Massenprotestes geübt. Wenn dieser vor allem als spektakuläres Erleben schmackhaft gemacht wird, um Menschen dafür zu mobilisieren, kann er nicht nachhaltig und tiefgreifend sein. Ein vierter Punkt betrifft die teilweise intransparente Weise, wie Aktionskonsense zu Stande kommen und kommuniziert werden. Dies verweist auch auf Hierarchien im Hintergrund, wie sie freilich auch in anarchistischen Organisationen bestehen. Fünftens wird das »Bewegungs-Management« als problematisch erachtet, in welchem professionelle Strateg*innen sich beispielsweise anmaßen, bestimmte Ausdrucksformen vorab bestimmen oder an Protesten beteiligte Gruppen wie Schachfiguren platzieren zu wollen. Schließlich können Engagierte in linken Bewegungen, sechstens, auch dazu tendieren, Aktionen von anderen Gruppierungen zu vereinnahmen oder sich gegebenenfalls unsolidarisch von ihnen zu distanzieren.
Diese Kritikpunkte sind nicht neu. Sie werden auch nicht alleine von ausgewiesenen Anarchist*innen vorgetragen. Es handelt sich um beobachtbare Effekte, welche es den eigenen Ansprüchen entsprechend zu reflektieren gilt und auf die es verschiedene Antwortmöglichkeiten gibt. Die anarchistische Perspektive auf die Bewegungslinke ist wichtig, damit diese sich weiter entwickeln kann.
Ein Bewegungs-Anarchismus?
Anarchist*innen organisieren sich – auf den gegenwärtigen Zeitpunkt und den deutschsprachigen Kontext bezogen – nicht als eine Bewegung, sondern in verschiedenen, sich mehr oder weniger überschneidenden Szenen. Spätestens seit dem Wirken der Anti-Globalisierungsbewegung stehen sie dabei vor dem Phänomen, dass zahlreiche Praktiken, Stile, Organisations- und Aktionsformen, als auch einige theoretische Überlegungen in linken Bewegungen aus der anarchistischen Tradition stammen, während es zugleich nur wenige explizit anarchistische Gruppen gibt. Gerade die Erfahrungen, welche Menschen in radikalen Kämpfen an Hotspots machen, bringen neue Einsichten und Handlungsweisen hervor, welche dann häufig adaptiert und im schlimmsten Fall von der Herrschaftsordnung vereinnahmt werden. Über die ideologischen Positionierungen hinaus sind Anarchist*innen diesen Prozessen gegenüber skeptischer als viele linke Akteur*innen. Sie werfen ihnen teilweise vor, im gegebenen politischen Rahmen zu verharren.
Es ist keineswegs selbstverständlich, dass Anarchist*innen sich dennoch an linken Bewegungen beteiligen. Manche finden sich vorrangig in Gesinnungsgruppen zusammen, andere konzentrieren sich vollständig auf Basisgewerkschaften und einige bevorzugen autonom agierende Affinitätsgruppen. Darüber hinaus lässt sich aber ebenso das Vorhandensein eines »Bewegungs-Anarchismus« feststellen, der sich zeitgenössisch insbesondere in der radikalen Ökologiebewegung und queerfeministischen Kontexten zeigt. Historisch können zum Beispiel Errico Malatesta, Johann Most, Emma Goldman und Christiaan Cornelissen als bewegungslinke Anarchist*innen bezeichnet werden. Als Anarch@-Kommunist*innen verstanden sie sich als libertär-sozialistischer Flügel innerhalb von sozialen Bewegungen, insbesondere in der Arbeiterbewegung, der Genossenschaftsbewegung, anti-militaristischen, anti-klerikalen und feministischen Bewegungen.
Ein Selbstverständnis als libertär-sozialistischer Flügel innerhalb von Bewegungen wäre für jene Anarchist*innen, die sich gegenwärtig in sozialistischen Gruppen und Protesten beteiligen, sinnvoll. Es würde aber auch der Bewegungslinken insgesamt gut tun. Allerdings umfasst dies auch eine Perspektive gegen und jenseits parlamentarischer Politik und geht damit über die bloße außerparlamentarische Opposition hinaus. Damit tritt der libertär-sozialistische Flügel innerhalb der Bewegungslinken auch für eine kritische Distanz zur Linkspartei ein, die sich auch über dogmatische Abgrenzungsreflexe hinaus stichhaltig begründen lässt. Wie erwähnt ist ein Bewegungs-Anarchismus heute keine Realität. Um ihn zu organisieren, bedürfte es strategischer Diskussionsprozesse innerhalb und außerhalb der Bewegungslinken, die sich meiner Ansicht nach lohnen.
Transformationsansätze
Ausgangspunkt dafür sind unterschiedliche Transformationsverständnisse, welche es zu diskutieren gilt. Eine Voraussetzung bei der Entstehung des Anarchismus als eigenständige sozialistische Strömung war die Verwerfung der politischen Reform, als Ausdruck der Sozialdemokratie einerseits und der politischen Revolution als Horizont des Parteikommunismus, andererseits. Statt ersterer wurden Ansätze entwickelt, in welchen auf mutualistische Selbststorganisation gesetzt wird, um die Gesellschaft graswurzelartig zu verändern. Die Ablehnung letzterer mündete in die Befürwortung von Aufstand und alltäglicher Subversion. Darüber hinaus entstanden das Transformationskonzept des autonomen Protestes, mit welchem auf die Radikalisierung und Selbstorganisation in sozialen Bewegungen gesetzt wurde, und schließlich jenes der sozialen Revolution. Bei sozialer Revolution geht es nicht um die Übernahme der Staatsmacht, sondern um die grundlegende Transformation politischer Strukturen hin zu Föderationen dezentraler autonomer Kommunen. Die Vergesellschaftung von Privateigentum und Produktionsmitteln soll durch die Arbeiter*innen selbst und direkt geschehen.
Darüber hinaus sollen mit sozialer Revolution die verschiedenen Dimensionen der Herrschaftsordnung (z.B. Geschlechter- und Naturverhältnisse, Kultur und Ethik) zugleich überwunden werden. Und sie geschieht prozesshaft, entwickelt konstruktiv neue Organisations- und Gemeinschaftsformen und orientiert sich präfigurativ an konkreten Utopien. Im Bewegungs-Anarchismus wird insbesondere auf die beiden letzten Konzepte Bezug genommen. Wenn Simon Sutterlütti die Transformation als »Konstruktion« befürwortet, welche zur »Aufhebung« führe, meint er damit (implizit und unbegriffen) das Nachdenken über anarchistische Transformationsstrategien. In der Vorstellung der »Keimformtheorie« wird dies sogar dem Wort nach aus dem Anarchismus entlehnt. Leider geschieht dies aber verkürzt, weil komischerweise darauf insistiert wird, das Rad mit den Commons-Ansätzen auf idealistische Weise neu zu erfinden, statt konsequenterweise einen Beitrag zu formulieren, um den Anarchismus theoretisch zu erneuern. Den anarchistischen Kern dieser Theoriestränge zu verdecken, bringt für die Debatte über zeitgemäße, sinnvolle Transformationsansätze nicht weiter.
Für die Bewegungslinke hilfreich ist in diesem Zusammenhang eher ein Denken wie jenes von John Holloway (2010) oder Eric Olin Wright. Letzterer versucht dabei die Transformation durch Bruch (Parteikommunismus), durch Freiräume (Anarchismus) und durch Symbiose (Sozialdemokratie) zu verbinden, um ein gemeinsames sozialistisches Projekt denkbar zu machen (Wright 2017: 375-485). Dabei argumentiert Wright, echte Gesellschaftstransformation könne nur ermöglicht werden, wenn alle drei Ansätze zusammengeführt werden. Mit seiner Betonung konkreter Utopien, der Annahme, dass der Sozialismus nicht aus dem Kapitalismus herauswächst, dass es eine gesellschaftliche Ermächtigung braucht und mehrere Strategien für eine grundlegende Gesellschaftstransformation zusammenwirken müssen, wirkt insbesondere der Schluss seines Buches direkt anarchistisch (Wright 2017: 486-496), ist es sein Transformationskonzept nur teilweise. Und eben darin liegt die Stärke einer Konzeption, welche unterschiedliche Ansätze zusammen denkt. Dies setzt allerdings voraus, dass die Anhänger*innen der jeweiligen Strömungen, Flügel oder Spektren, ihre eigenen Grundlagen, Fähigkeiten und Schwierigkeiten kennenlernen und weiter entwickeln. Im Übrigen ist dies auch die Voraussetzung für Streit, der solidarisch und konstruktiv geführt wird, statt dogmatisch und spalterisch. Letzteres bedeutet aber nicht, auf radikalen Zweifel zu verzichten, wo er notwendig ist…
Kritik der Politik und (Anti-)Politik im Anarchismus
Die Besonderheit des Anarchismus innerhalb der Bewegungslinken besteht in seiner Betonung der Autonomie, Dezentralität und Selbstorganisation sozialer Bewegungen, statt Vorfeldorganisationen von Parteien oder gar künstlich geschaffene Pseudo-Bewegungen zu sein. Mit dem Anarchismus wird auch die Präfiguration stark gemacht, also das Anliegen, mit den eigenen Organisations- und Aktionsformen bereits die Gesellschaftsform zu verkörpern, welche angestrebt und verallgemeinert werden soll. Auch die eigene Ethik und die soziale Dimension unter den Aktiven gewinnt damit einen wichtigen Stellenwert: Die eigene Bewegung soll konkret emanzipierend wirken. Darüber wird die Konfrontation mit den Strukturen der Herrschaft gesucht, statt diese nur provokativ einzusetzen, um in Verhandlungen mit den politisch Machthabenden zu treten. Und es soll sich Initiative angeeignet werden, anstatt lediglich dem Tagesgeschäft der politischen Agenda gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen bzw. deren Rahmung durch Regierungspolitik hinterher zu eilen.
Zu dieser Sichtweise gelangen Anarchist*innen durch eine spezifische Kritik der Politik. Um zu begründen, weswegen Anarchist*innen zu dieser Haltung gelangen, ist der Begriff »Politik« zu definieren. Denn seine Verwendung im alltäglichen Sprachgebrauch ist sehr diffus. Weiterhin ist die Definition von »Politik« hochgradig umstritten – und damit selbst ein politischer Akt: Entsprechend der Weise, wie wir »Politik« erfassen, ergibt sich unser Umgang mit ihr. Darüber lohnt es sich, genauer nachzudenken, damit wir selbstbestimmt Inhalte und Positionen entwickeln können. Im konservativen Denken hat Politik vor allem die Aufgabe des Erhalts einer »guten« (d.h. beständigen) gesellschaftlichen Ordnung. Verkürzte staatssozialistische Ansätze sehen in der Politik lediglich das Ergebnis von ökonomischen Konstellationen. Das liberal-demokratische Denken erfasst die politische Sphäre in einem Spannungsfeld zwischen Staat und Gesellschaft und nimmt an, dass verschiedene Prozesse zur Öffnung oder Schließung von Politik führen. Dagegen richtet sich die radikal-demokratische Tradition, in welcher der verfestigten Politik, »das Politische« gegenüber gestellt wird. Letzteres ist die prozesshafte Infragestellung von Herrschaftsordnungen durch selbstorganisierte Gruppen, etwa in den Platzbesetzungsbewegungen.
Dagegen beziehe ich mich an dieser Stelle aus strategischen Gründen auf ein bestimmtes anarchistisches Verständnis, mit welchem Politik stets an das Regieren gekoppelt ist (»gouvernemental«). Politik ist dieser Definition nach immer mit Konflikt verbunden (»konfliktorientiert«), aber es wird bezweifelt, dass sie vor allem die Herstellung einer »guten Ordnung« (für alle) zum Ziel hat (»negativ-normativ«). Schließlich kann Politik auch so verstanden werden, dass es in ihr immer um oft blutige und intrigante Machtkämpfe und Machterhalt zwischen meist äußerst ungleichen Akteur*innen geht (»ultra-realistisch«). Selbstverständlich ist Politik nicht nur dies. In ihr geht es auch um Verhandlungen, manchmal erscheint sie unumgänglich, vor allem, wenn wir den Anspruch erheben, die Gesellschaftsform insgesamt zu verändern – und damit auch die Gestalt dessen, was Politik in einer bestimmten Herrschaftsordnung ist. Aber wenn wir diese Definition annehmen (und es gibt zahlreiche Menschen weltweit und in der Geschichte, denen Politik so erscheint), lässt sich von einem emanzipatorischen Standpunkt zurecht in Frage stellen, ob sich das Politikmachen lohnt. Wie gesagt geht es hierbei nicht um vermeintlich richtige oder falsche Begriffe, sondern um die lohnenswerte Hinterfragung und Verschiebung unserer Sichtweise.
Anarchist*innen haben also eine größere Skepsis gegenüber dem Politikmachen, als sie in anderen sozialistischen Strömungen vorhanden ist, welche dieser Ansicht nach unterschätzen, wie stark Staatlichkeit politisches Handeln vereinnahmt und monopolisiert. Weiterhin sind es aber auch Aktive in anderen Strömungen sozialer Bewegungen, welche ihr politisches Handeln dem Staat zuordnen (indem sie bspw. ganz bestimmte Gesetze vorschlagen und als unrealistisch erachtete Anliegen zurückstellen). Zum Beispiel neigen Mitglieder von Parteien dazu, die Autonomie einer sozialen Bewegung zu beschränken, um sie ihren eigenen Interessen zuzuführen. Ähnliches gilt für NGOs, welche durch neue Regierungstechniken (»neoliberale Gouvernementalität«) teilweise eine sehr staatstragende Funktion übernehmen. Doch auch Menschen, die sich wie bei Fridays for Future neu politisieren, glauben häufig daran, dass »die Politik« doch angesichts eindeutiger Erkenntnisse endlich handeln sollte und appellieren daher an sie. Linksradikale Gruppen gehen dagegen nicht davon aus, dass sie mit ihrem Handeln Regierungspolitik beeinflussen können, bleiben aber häufig dennoch an Rudimenten des Schemas von politischer Revolution orientiert.
Als libertär-sozialistischer Flügel nach Autonomie streben
Doch das anarchistische Denken funktioniert anders, als einen Widerspruch zwischen »Reform« und »Revolution« zu konstatieren, welcher durch »radikale Realpolitik« zu überbrücken wäre – und sei es im Verständnis von Rosa Luxemburg. Wie bereits angedeutet, wird dagegen angestrebt, diesen Gegensatz mit dem Verständnis von sozialer Revolution zu überwinden. Damit wird das Terrain der durch die herrschende Ordnung definierten Politik bewusst verlassen. Politik muss deswegen aber nicht als »schlecht« oder »böse« angesehen werden. Es reicht, sich vor Augen zu führen, dass wir in vielen anderen Sphären mindestens ebenso wirkmächtig handeln können, wenn wir die Gesellschaft grundlegend verändern wollen. Diese anderen Sphären, in denen in einer Doppelbewegung von Herrschaftsverhältnissen weg und nach Autonomie gestrebt wird, findet sich in vielen Aspekten, welche uns aus linken Szenen und Lebenswelten bekannt sind. Sie haben ihre Bezugspunkte in den Individuen (Die Selbstbestimmung und -entfaltung aller Einzelnen), im Sozialen (z.B. Nachbarschaftsversammlungen), in »der« Gesellschaft (z.B. Gegenmacht von unten aufbauen), in der Ökonomie (autonome Gewerkschaften) und der Gemeinschaft (Kommunen und Alternativszenen). Darüber hinaus werden Kunst, Ethik und Utopie als Gegenpole zur politischen Sphäre verstanden.
Dies führt Anarchist*innen jedoch nicht zu einer apolitischen oder unpolitischen Haltung, sondern zu einem gelebten Widerspruch mit dem politischen Feld, welches sich unter Bedingungen der bestehenden Herrschaftsordnung als staatliches Herrschaftsverhältnis konstituiert. Auch die Anrufung der sogenannten »Zivilgesellschaft« und die Bezugnahme auf sie gilt es demnach zu hinterfragen, weil sie – mit Gramsci – der dem Staat vorgelagerte Raum ist. Dies schließt keineswegs aus, mit verschiedenen Personen zusammen zu arbeiten, welche keine dezidiert »linken« Überzeugungen und Hintergründe haben. Mehr Menschen als wir glauben durchschauen die »politische Illusion«, also die Vorstellung, dass es sinnvoll ist, seine Energie und Zeit mit Tätigkeiten auf dem eingehegten politischen Terrain zu verbringen. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht auch danach streben können, die Gesellschaft grundlegend zu verändern.
Wenn sich die Bewegungslinke stärker an ihrem (potenziellen) libertär-sozialistischen Flügel ausrichten würde, müsste sie sich konsequenter danach orientieren, was sie wirklich verändern und vorleben, wo sie hin will. Ein Ansatzpunkt dafür ist, nicht in die »Falle der Politik« zu tappen – wie sie Emma Goldman nannte –, sondern die eigenen Perspektiven, Handlungsansätze und Gruppen zu stärken und zu vermitteln. Beispiele dafür sind bekannte Projekte wie die Autonomiebestrebungen in Rojava und Chiapas, ebenso wie die historische Selbstorganisation der Arbeiter*innen, die autonome Bewegung der 70er/80er Jahre oder munizipalistische/kommunalistische Bewegungen heute. Dabei geht es nicht darum, z.B. diese Bewegungen zu verklären oder als besser darzustellen, sondern die Unterschiede in den Politikverständnissen herauszuarbeiten, um sie weiter zu diskutieren. Wie immer gibt es dazu verschiedene Positionen und gilt es die Auseinandersetzungen und Debatten darum weiterzuführen.
Im Folgenden Beitrag wird der von manchen Journalist*innen gelegentlich aufgeworfenen Frage nachgegangen, ob sich der rechte Mob anarchistischen Praktiken und Motiven bedient und es sich damit um eine Anti-Politik im anarchistischen Sinne handeln würde.
Am 09.01. stürmten tausende aufgebrachte Anhänger*innen von Jair Bolsonaro das Kongress-Gebäude in Brasilia. Sein Rivale Lula da Silva, der bereits 2003 bis 2011 Präsident war, hatte den Faschisten im zweiten Wahlgang mit äußerst knappem Vorsprung abgelöst. Bolsonaro – beziehungsweise seinem politischen Netzwerk – war es in den Jahren zuvor wie nur Trump gelungen, ein Bündnis aus Unternehmern, Militärs und Evangelikalen zu schmieden. Insbesondere Letztere waren entscheidend dafür, die Aufmerksamkeit armer Favela-Bewohner*innen vom sozialen Elend auf jenseitige Heilsversprechen zu lenken und damit Stimmen für die Reaktionären generieren. Auch der Wahlkampf verlief äußerst schmutzig, wobei die Polarisierung der Gesellschaft das größte südamerikanische Land zu einem Pulverfass werden ließ. So blockierten etwa unzählige LKW-Fahrer, die Bolsonaro unterstützen, den Verkehr – ein spürbarerer und kostspieligerer Protest als jede Latschdemo, auf der noch so viel Unmut herausgerufen wird…
Abgesehen davon, dass die Einsetzung der neuen Regierung in Brasilien am 01.01. geschah, wiederholt der aufgebrachte Mob gewissermaßen den Sturm auf das Kapitol in Washington DC, der zwei Jahre zuvor, am 06.01.2021 stattgefunden hatte. Wer sich erinnert: Irgendwie hatte es die Polizei nicht wirklich geschafft, die wütenden Rechtsradikalen davon abzubringen, in das Regierungsgebäude zu stürmen, dort Einrichtungsgegenstände zu zertrümmern und die heiligen Symbole des Staates zu schänden. Selbiges geschah in Brasilien, nur eben nicht unter blau-rot-weißen Farben, sondern mit grün-gelben.
Wer erinnert sich noch an den seltsamen Q-Anon-Schamenen „Jake Angeli“? Was uns in besseren Zeiten ein lautes Lachen aus dem Hals locken sollte, verbreitet sich via Internet wie Gift in die Rest-Herzen und -Hirne verängstigter und verblödeter politischer Idiot*innen. Und das auch in der BRD. So haben auch wir unsere paranoiden und narzisstischen Propagandist*innen des Wahnsinnes, wie Attila Hildmann und den von ihm mitgetragenen „Sturm auf den Reichstag“ am 29.08.2020 gegen die vermeintliche „Corona-Diktatur“.
Ein Beitrag zur politischen Theorie des Anarchismus
zuerst veröffentlicht in drei Teilen am 03., 10. und 17.09.2022 auf: Direkte Aktion
m Folgenden werde ich einige Erkenntnisse wiedergeben, welche ich durch meine intensive Beschäftigung mit der politischen Theorie des Anarchismus gewonnen habe. Die Grundüberlegung lautet, dass es im anarchistischen Syndikalismus ein Unbehagen mit Politik gibt und eine bestimmte Kritik an ihr besteht, während zugleich eine Bezugnahme auf Politik geschieht und auch unvermeidlich ist. Gerade aus diesem Spannungsverhältnis entspringen direkte Aktionen, dynamische Organisationen und eine konstruktive sozial-revolutionäre Perspektive. Die im Beitrag formulierte Herangehensweise ist keineswegs an sich „richtig“, sondern ein Vorschlag, um anarch@-syndikalistische Praxis zu interpretieren und zu reflektieren. Der Wahrheitsgehalt dieses theoretischen Inputs erweist sich letztendlich in Erfahrungen, Diskussionen und sozialen Kämpfen. Mit meinem Text verfolge ich vier Ziele: Erstens möchte ich Interessierten Wissen vermitteln, zweitens Genoss*innen anregen, sich ein Bewusstsein über ihre Tradition und Position, ihre Organisations- und Aktionsformen zu bilden, drittens das theoretische Denken im Anarchismus weitergeben und erneuern und viertens auf meine Tätigkeiten hinweisen.
Zur Kritik der Politik im anarchistischen Syndikalismus
Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts differenzierte sich die sozialistische Bewegung in drei Hauptrichtungen aus. So entstanden die Sozialdemokratie, der Parteikommunismus und der Anarchismus. Während erstere beiden sich auf die politische Reform und die politische Revolution als wesentliche Transformationsstrategien bezogen, stand unter anderem die Ablehnung dessen, was in dieser Zeit unter „Politik“ verstanden wurde, im Zentrum des Anarchismus. Anarchist*innen bezogen sich auf das Konzept der sozialen Revolution, mit der sie radikale und umfassende Gesellschaftstransformation nicht durch die Beeinflussung oder Übernahme des Staates, sondern durch dezentrale, autonome, freiwillige und föderierte soziale Bewegungen und selbstorganisierte Kommunen erreichen wollten.
Der Anarchismus ist pluralistisch. Interessant ist, dass alle seine Tendenzen – individualistischer, mutualistischer, kommunistischer, insurrektionalistischer, syndikalistischer und kommunitärer Anarchismus – eine ausgeprägte Kritik an der Politik beinhalten. Aus dieser Kritik geht eine skeptische Grundhaltung gegenüber Politik hervor. Und daraus leitet sich ein Streben nach Autonomie ab, dass von allen anarchistischen Strömungen geteilt wird, aber in verschiedene Praktiken, Stilen, Organisations- und Aktionsformen mündet. An dieser Stelle gehe ich aus naheliegenden Gründen vor allem auf den Anarch@-Syndikalismus ein.
Eine Abwehrhaltung gegen die Politisierung des Sozialismus
Der europäische Anarchismus entstand wie erwähnt in einer historischen Phase, als die sozialistischen Graswurzelbewegungen politisiert wurden. Statt hierarchische Parteien zu gründen und innerhalb bzw. mit Hilfe des bürgerlich-kapitalistischen Staates Reformen anzustreben oder politisch-revolutionäre Avantgarde-Gruppen zu bilden, um die Staatsmacht zu übernehmen und eine „Diktatur des Proletariats“ zu errichten, setzten Anarchist*innen weiterhin auf dezentrale und autonome Selbstorganisation. Sie verwarfen den Parlamentarismus als herrschaftsförmige Vermittlung gesellschaftlicher Konflikte und wollten soziale Kämpfe außerhalb des Rahmens der institutionalisierten politischen Herrschaft führen. Damit lehnten sie den moderne Nationalstaat – mit seiner Bürokratie, seinen Bildungsinstitutionen, seinem Militärapparat, seinem neu entstanden Sozialstaat und der ihm dienenden Staatskirchen – insgesamt ab und wollten suchten nach anderen Formen, um egalitäre, freiheitliche und solidarische Gemeinwesen zu organisieren.
Während Marxist*innen aus ihrer Kritik an der Politik die Schlussfolgerung zogen, dass es eine sozialistische Politik brauche, um einen „sozialistischen Volksstaat“ zu errichten, teilten Anarchist*innen diese Ansicht nicht. Sie gingen davon aus, dass Herrschaftsverhältnisse nur gleichzeitig miteinander überwunden werden konnten. Dass also der Kapitalismus nicht mit, sondern nur gegen den Staat überwunden werden kann. Statt eine umfassende Entwicklung von staatlichen und kapitalistischen Verhältnissen als Voraussetzung für eine sozialistische Gesellschaftsform anzusehen, nahmen sie an, dass erstrebenswerte gesellschaftliche Verhältnisse parallel zu den dominierenden Herrschaftsverhältnissen bestehen. Dies ist der Grund, warum syndikalistische Anarchist*innen nicht ausschließlich oder hauptsächlich für höhere Löhne, sondern für weniger Arbeitszeit, Demokratisierung und Selbstverwaltung von Produktionsstätten, die Vergesellschaftung von Privateigentum und schließlich für die Abschaffung von Lohnarbeit zugunsten von freiwilligen, selbstbestimmten und sinnhaften Tätigkeiten kämpfen.
Die Sogkraft des Staates und die Verstaatlichung von Politik
Ein weiteres grundlegendes Problem mit dem, was wir gemeinhin unter Politik verstehen, ist, dass der Staat selbstorganisierte soziale Bewegungen, die nach Autonomie streben, vereinnahmt. Politik ist nicht gleich staatlich. Aber in sehr vielen Fällen wird Politik verstaatlicht. Dies beginnt dort, wo Demonstrationen angemeldet werden müssen, bestimmte Handlungsweisen nicht als legitim gelten und dämonisiert werden, bestimmte Perspektiven aus dem politischen Diskurs völlig verzerrt und ausgegrenzt werden, politische Streiks in der BRD illegal sind usw.. Soziale Bewegungen kennzeichnet, dass sie aus verschiedenen Strömungen bestehen. Manche davon zielen regelrecht darauf ab, mit ihren Anliegen Gehör bei Politiker*innen zu finden, Anteil am politischen Diskurs zu haben, in Entscheidungsprozesse der verstaatlichten Politik einbezogen zu werden, politische Organisationsformen zu entwickeln und z.B. Parteien oder sogenannte Nicht-Regierungs-Organisationen zu gründen.
Der Anarch@-Syndikalismus ist dagegen eine Strömung innerhalb der sozialistischen Gewerkschaftsbewegung, welche sich entschieden gegen diese Vereinnahmung durch den Staat und die Zuordnung zu ihm wehrt und stattdessen für Autonomie und Selbstorganisation eintritt. Anarchistische Syndikalist*innen lehnen sozialdemokratisch und parteikommunistisch geprägte Gewerkschaftsverbände ab. Denn diese bezahlen Funktionär*innen, beruhen auf internen Hierarchien, zielen auf Sozialpartnerschaft und mit Unternehmern ausgehandelte Kompromisse ab, verbünden sich mit politischen Parteien, nehmen eine verrechtlichte und damit tragende Funktion im Staatsgefüge ein, unterbinden deswegen autonome Streiks und unabhängige Organisierung und geben letztendlich den Anspruch auf, den Kapitalismus grundlegend überwinden zu wollen.
Die Ökonomie als anti-politischer Bezugspunkt
Im Anarchismus wird insgesamt die Effektivität und Sinnhaftigkeit des Handelns auf dem politischen Feld in Frage gestellt. Mit dem Anarch@-Syndikalismus wird von einem grundlegenden Klassenantagonismus ausgegangen und das Primat auf die Ökonomie gelegt, um Arbeiter*innenmacht herzustellen. Die ökonomische Sphäre wird damit der politischen Sphäre entgegengesetzt. Es gilt sich vor allem im wirtschaftlichen Bereich, also an Arbeitsplätzen, anhand ökonomischer Interessen und den Lebenswirklichkeiten von Arbeiter*innen zu organisieren, um die bestehende Herrschaftsordnung effektiv angreifen und im selben Zuge die Keimzellen einer neuen Gesellschaft hervorbringen zu können. Im anarchistischen Syndikalismus wird die Ökonomie als anti-politischer Gegenpol zur verstaatlichten Politik verstanden. Und dies ist keine abstrakte theoretische Einsicht, sondern beruht auf der sich wiederholenden Erfahrung, dass Gewerkschaften durch politische Parteien instrumentalisiert wurden, dass die politische Vermittlung von Arbeitskonflikten zu faulen Kompromissen führt sowie ihre Dynamik und Schlagkraft lähmt. Politiker*innen lehnen zumeist direkte Aktionen und wilde Streiks ab, welche starke Waffen selbstorganisierter Arbeiter*innen darstellen – eben weil sie nicht politisch eingehegt sind.
Begründete Politikverdrossenheit und der anarch@-syndikalistische Weg
Schließlich spielt die sogenannte „Politikverdrossenheit“ dem anarchistischen Syndikalismus in die Hände. Trotz dem Wechsel von Regierungen oder sogar der Staatsformen gehen die Anhänger*innen des Anarch@-Syndikalismus davon aus, dass es innerhalb der politischen Herrschaftsordnung keine grundlegende Veränderung der Klassengesellschaft und keine Perspektive auf die Entstehung einer libertär-sozialistischen Gesellschaft geben kann. Und diesen Eindruck teilen sie mit ziemlich vielen anderen Menschen, die keine überzeugten, radikalen Sozialist*innen sind. Tatsächlich wirken das Wahlspektakel und die mediale Darstellung, mit der Politik präsentiert wird, regelrecht auf die Entpolitisierung, Apathie und Verängstigung der Bevölkerung hin. Die Folgen sind affirmative Staatsgläubigkeit, der Rückzug ins Privatleben und reaktionäre Kompensation der vereinzelten Staatsbürger*innen (z.B. Rassismus, Sexismus, Antisemitismus, Verschwörungsmythologien).
Dagegen richtet sich der anarch@-syndikalistische Weg. Mit ihm sollen proletarisierte Menschen organisiert werden. In den Syndikaten synthetisieren sie ihre gemeinsamen Interessen, entwickeln sie ein Klassenbewusstsein, lernen sie selbstbestimmt, direkt und kollektiv zu handeln und ermächtigen sich dadurch als ausgebeutete und unterdrückte Klasse(n). In diesem Prozess bringen die Beteiligten zugleich genossenschaftliche Beziehungen und Organisationsformen hervor, welche als Modelle für eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform dienen können. Diese Aspekte des anarch@-syndikalistischen Ansatzes wurden aus einer grundlegenden Kritik am Politikmachen heraus entwickelt. Hier geht es eben zur Abwechslung mal um die eigenen Interessen – und zwar in einem durchaus kollektiven Sinne.
Zwischenbetrachtung
Es gibt also nachvollziehbare historische, begründete theoretische und auf umfassenden Erfahrungen basierende Gründe, weswegen im anarchistischen Syndikalismus „Politik“ kritisiert und teilweise regelrecht abgelehnt wird. Was schon lange von Arbeiter*innen indirekt verstanden wurde, welche wilde Streiks durchführten und sich lose organisierten, mündete in eine zweite Phase, in welcher autonome Gewerkschaftsaktivist*innen, enttäuschte Parteisozialist*innen und bewegungsorientierte Anarchist*innen zusammenkamen und zwischen 1895 und 1919 anarch@-syndikalistische Gewerkschaften in vielen Ländern gründeten. Im Unterschied zu Menschen in anderen sozialistischen Strömungen gehen Anarch@-Syndikalist*innen von einer Heterogenität der Arbeiter*innenklasse aus, positionieren sich entschieden anti-national und denken transnational, finden das Engagement von Einzelnen wichtig (‘subjektiver Faktor’) und halten am Motto der Ersten Internationalen fest, welches lautet: „Die Befreiung der Arbeiter*innenklasse kann nur das Werk der Arbeiter*innen selbst sein!“.
Seit dieser Zeit hat sich das allgemein verbreitete Verständnis von Politik in mancherlei Hinsicht gewandelt. Abgesehen davon bestehen weiterhin unterschiedliche Verständnisse davon, was „Politik“ eigentlich ist. Darüber kann man nach Lust und Laune in alltagsweltlicher oder politisch-theoretischer Sprache ausgiebig streiten. Dies ändert meiner Ansicht nach aber nichts daran, wie wir uns zum Grundproblem verhalten: Dass Politik innerhalb der bestehenden Herrschaftsordnung letztendlich ein Herrschaftsverhältnis zwischen Regierenden und Regierten darstellt. Es ist analog zum Kapitalismus als ökonomischen Herrschaftsverhältnis; zum Patriarchat, als jenem der Geschlechter; zur weißen Vorherrschaft, bei der Herkunft und Zuschreibung von Ethnie; und zur anthropozentrischen Naturbeherrschung zu sehen und kann nur gemeinsam mit diesen überwunden werden. Aus taktischen Gründen und um die Debatte darüber aufzumachen, meine ich, dass es sich lohnt „der“ Politik gegenüber mindestens skeptisch zu bleiben und sich einen kritischen Begriff von ihr zu bilden.
Das politische Spiel
In meinem Nachdenken über ein anarchistisches Politikverständnis habe ich mich dafür entschieden, eine gouvernementale, konfliktorientierte und ultra-realistische Definition zu verwenden, die ich hier knapp illustrieren möchte: Meinem Verständnis nach besteht Politik in der Verhandlung widerstreitender Interessen, die durch verschiedene Akteur*innen repräsentiert werden. Durch diese Repräsentation fallen schon einmal sehr viele soziale Gruppen weg, bspw. jene ohne Staatsbürgerschaft in einem bestimmten Land. Weiterhin geschieht eine Einhegung der jeweiligen Interessen und Handlungsweisen, damit sie überhaupt als politisch akzeptabel und verhandelbar gelten. Wer dann am Verhandlungstisch sitzt, vertritt also – insbesondere wenn wir global denken – normalerweise schon eine relativ privilegierte Minderheit, während über ausgeschlossene soziale Gruppe und Klassen direkt geherrscht wird – selbst wenn ihre Interessen aus strategischen Gründen mitgedacht werden sollten.
Wenngleich wir uns zumindest in einer demokratischen Herrschaftsordnung einen runden Tisch vorstellen können, um den die Politiker*innen herum sitzen, verfügen sie tatsächlich über sehr unterschiedliche Machtressourcen. Im Bild eines Kartenspiels besitzen manche etliche Trümpfe und ranghohe Karten, während andere hauptsächlich Nieten haben. Manchen werden Karten von ihren Diener*innen zugespielt. Es kann auch sein, dass mächtige Akteur*innen den Verhandlungsraum verlassen, in einen Nebenraum gehen und dann eine Entscheidung präsentieren, die nicht mehr abgestimmt werden kann. Und natürlich können mächtige Akteur*innen andere bestechen, ihnen drohen, sie aus dem Raum zu werfen und sie damit zu ihrem Entscheidungsvorschlag zwingen. Werden dann Entscheidungen erarbeitet, welche bestimmten Beteiligten zu weit gehen (z.B. weil sie ihnen zu viel sozialen Ausgleich bedeuten), können diese immer noch ein Veto einlegen, während dies anderen nicht möglich ist. Schließlich kommt nach einer Partie in mehreren Verarbeitungsstufen ein schwammiger Kompromiss zu Stande. Wird diesem Widerstand entgegengesetzt, werden Zwang und Gewalt angewendet, um die Entscheidung durchzusetzen. Schlussendlich diente die ganze Prozedur dazu, an den vorhandenen Klassenverhältnissen nichts zu verändern. Der durch Ausbeutung angeeigneten ungeheurem Reichtum der ökonomischen und politischen Elite wurde damit nicht angetastet, sondern häufig vergrößert und abgesichert. Einige möglichst geringe Anpassungen werden vorgenommen oder innovative Projekte gefördert, wenn sie verwertbar sind. Bei der Verkündung der getroffenen Entscheidung vor der Versammlungshalle wird dem Staatsvolk erklärt, hierbei handele es sich um den Ausdruck ihres Willens. Das Spiel selbst wird an keiner Stelle in Frage gestellt, sondern als Notwendigkeit dargestellt.
Mit dieser Beschreibung möchte ich ausdrücken, dass das politische Terrain hochgradig von der politischen Herrschaftsordnung geformt ist und von mächtigen politischen Spieler*innen dominiert wird. Politik ist gouvernemental, weil sie auf das Regieren bezogen wird. Dass es ‘komplexe’ Gemeinwesen gab und geben kann, die nicht regiert werden und in denen Menschen sich ganz gut selbst organisieren können, ist eine anarchistische Grundannahme. Konfliktorientiert ist Politik, weil es in ihr im Wesentlichen um die Durchsetzung von Interessen, statt um die gleichberechtigte Vermittlung der Anliegen und Bedürfnisse aller Beteiligten geht. Und der hier verwendete Politikbegriff ist ultra-realistisch, womit gesagt wird, dass Politik nicht nur, nicht immer und nicht in jedem Fall diese brutale, ‘machiavellistische’ Form annimmt. Wir sollten uns aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gerade dies den Kern von (verstaatlichter) Politik ausmacht – und sie deswegen grundlegend kritisieren. Die sozialdemokratische Antwort auf das politische Spiel ist, die Spielregeln zu akzeptieren und so gut es geht mitzuspielen, um das Beste für das eigene Klientel herauszuholen. Die autoritär-kommunistische Antwort lautet: Wir spielen das Spiel mit, um es auszunutzen und dann den anderen unsere Regeln aufzuzwingen. Die anarchistische Antwort besteht dagegen darin, dass das Spiel scheiße ist, aber auch keine Notwendigkeit besteht, es mitzuspielen. Auch wenn uns sehr eindringlich vermittelt wird, wir könnten dort etwas erreichen, lohnt es sich viel mehr, vor die Tür zu gehen und festzustellen, dass dort ganz viele Menschen sind, die ihre Leben meistern, sich in Gruppen zusammenfinden, nicht vor allem politische Interessen haben und manchmal sogar in alternativen Gemeinwesen organisiert sind.
Das Problem vieler Linker ist, dass sie sich viel zu viel vom Politikmachen erhoffen – und das trifft auch auf die außerparlamentarische Bewegungslinke und teilweise auch auf um sich selbst kreisende Szenepolitik zu. Mit dem Glaube daran, dass das politische Spiel so wichtig wäre, dass wir eigene Erfolge in politischen Kategorien messen, dass wir meinen, nur politische Organisationen seien effektiv oder unsere Kampagne nur dann sinnvoll, wenn Politiker*innen sie aufgreifen, tappen wir in die „Falle die Politik“, wie Emma Goldman sie nannte. Erst wenn wir uns aus dieser herausarbeiten und anfangen nach Autonomie zu streben, gelangen wir zu einem selbstbestimmtem und sozial-revolutionärem Handeln. Im Anarchismus insgesamt werden damit alternative Denkweisen und Handlungsmöglichkeiten zu ‘linker’, ‘demokratischer’, ‘basisdemokratischer’, ‘radikaler’, ‘radikal-realer’ oder sogar zu ‘revolutionärer’ Politik aufgezeigt.
Die politische Leerstelle: Realität politischer Macht, politische Dominanz …
Nun könnten wir also sagen, Anarch@-Syndikalist*innen lehnen das Politikmachen ab, wofür sie gute Gründe anführen können. Sie organisieren sich in Syndikaten, führen Arbeitskämpfe, richten keine Appelle an die Politik, verbreiten ihre Ideen von Selbstorganisation, Autonomie etc. und damit hat sich die ganze Angelegenheit. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie mit dieser Herangehensweise handlungsfähiger und wirkmächtiger werden, als Menschen, die auf herkömmliche Parteipolitik setzen und sich wundern, warum die „richtigen“ Politiker*innen dauernd ihre Wahlversprechen brechen. So etwas desillusioniert Leute, die ohne kritisches Politikverständnis häufig aufgeben, überhaupt noch etwas verändern zu wollen. Selbstorganisation, direkte Aktion, emanzipierende Bewusstseinsbildung – das geschieht doch alles schon in den Syndikaten. Politik erscheint dagegen suspekt, langwierig, langweilig, hemmt die Initiative, ist bürokratisch, hierarchisch, nicht authentisch… Lassen wir sie doch einfach hinter uns! Leider gibt es fünf Probleme, die es zumindest schwierig machen und vielleicht auch strategisch nicht sinnvoll erscheinen lassen, dass sich Anarch@-Syndikalist*innen die Politik völlig egal sein lassen.
Erstens: Die meisten Menschen können sich kaum vorstellen, dass sie sich – entgegen der Politik in ihrer Form unter der bestehenden Herrschaftsordnung – in ‘komplexen’ Gesellschaftsformen selbst organisieren können. Dies liegt aber (der verwendeten Definition nach) nicht daran, dass Menschen an sich ‘politische Wesen’ seien und dass sich der moderne Nationalstaat quasi als unliebsame, aber doch logische Konsequenz aus dieser angeblich anthropologischen Veranlagung nach Autorität, Hierarchie und Zentralisierung mehr oder weniger automatisch herausgebildet hätte. Er ist eine mit kapitalistischen Klasseninteressen verbundene, meist brutal aufgezwungene und durchgesetzte Form politischer Herrschaft, welche den Rahmen und die Funktionsweise des politischen Terrains bestimmt. Mit dem Anarch@-Syndikalismus soll außerhalb und gegen Politik gehandelt werden. Die Bedeutung der verstaatlichten Politik für die Herstellung von Öffentlichkeit, gemeinsamen Entscheidungen und ihrer Umsetzung ist daher teilweise eine ideologische Fiktion (Wie es auch eine Fiktion ist, dass die politische Macht im Parlament läge, statt in den Ministerialbürokratien). Die Verstaatlichung von Politik ist aber zugleich manifestiert. Viele Menschen müssen notwendigerweise im Glauben an die Notwendigkeit staatlicher Politik verhaftet bleiben, weil andere Organisationsformen marginalisiert, also klein gehalten und an den Rand gedrängt werden. Dies geschieht bspw. mit anarch@-syndikalistischen Gewerkschaften, weil sie nicht in der dominanten politischen Logik vorkommen. Wenn sie als (potenziell) sozial-revolutionäre Minderheiten mehr werden wollen, gilt es bisweilen auch beim politischen Bewusstsein von Menschen anzudocken, um plausible Erklärungen dafür anzubieten, warum „die“ Politik permanent versagt, nicht die eigenen Interessen vertritt und welche alternativen Formen es zu ihr gibt.
Zweitens kam und kommt es immer wieder durch eine Vereinnahmung von anarch@-syndikalistischen Gewerkschaften durch politische Akteur*innen. Dies können z.B. auch heute auf lokaler Ebene sozialdemokratische, leninistische oder trotzkistische Gruppen sein, welche sich offen oder verdeckt als politische Vertretung anbieten und wenn sie mit ihren Führungsansprüchen auf Ablehnung stoßen von „Spaltung“ sprechen. Historisch ging es bei der Formierung der Dritten Internationalen Arbeiterassoziation darum, alle Gewerkschaftsverbände der bolschewistischen Parteidoktrin zu unterwerfen. Anarch@-Syndikalist*innen gründeten deswegen 1922 ihre eigene Internationale Arbeiter-Assoziation – womit sie sich explizit den anti-politischen Zielsetzungen der Ersten Internationalen verpflichtet fühlten. Die basisgewerkschaftlichen Erfahrungen mit der politischen Dimension waren jedenfalls immer wieder schlechte. Das Problem ist aber, dass dies teilweise auch der Nichtbeschäftigung mit der Politik und gelegentlich einer bornierten Fokussierung auf die Ökonomie geschuldet ist. Ob es deswegen eine Doppelstruktur von ökonomischen und politischen Organisationen geben kann und sollte wird unten diskutiert.
… Innere Konflikte, andere Kampffelder und Präfiguration
Drittens gibt es innerhalb von Syndikaten gelegentlich auch politische Konflikte. Dies liegt an den verschiedenen ökonomischen Positionen und Situationen ihrer Mitglieder, als auch an ihrer unterschiedlichen politisch-weltanschaulichen Prägung. Der Grundgedanke ist zwar, dass diese durch die Synthetisierung des gemeinsamen Interesses hinten angestellt werden sollen. Tatsächlich ist dieses aber nicht einfach ‘objektiv’ definierbar und es gibt abweichende Vorstellungen davon, mit welchen Strategien es hergestellt werden kann. Unterschiedliche Ansichten führen regelmäßig zu Konflikten. Und in einigen Fällen bedeutet dies auch, diese als politische Konflikte zu verstehen und zu handhaben. Wie man sich gegenüber linken Parteien, bewegungslinken Gruppen oder anderen sozialistischen Gruppierungen anhand konkreter Themen verhalten soll (z.B. Beteiligung an Demos) ist eine politische Frage, die nicht im Fokus stehen sollte, aber auch nicht permanent ausgeblendet werden kann.
Viertens kommt in verschiedenen Syndikaten in unterschiedlicher Ausprägung immer wieder die Frage auf, welchen Stellenwert andere Kampffelder für die eigene Praxis haben. Arbeitskämpfe und gewerkschaftliche Organisierung stehen in der anarch@-syndikalistischen Tätigkeit im Vordergrund – das ist eindeutig. Wie aber sollen sich Anarch@-Syndikalist*innen zu den Themen und Kampffeldern Feminismus, Anti-Rassismus, Ökologie und zu weiteren sozialen Kämpfen, z.B. Mieter*innen-Initiativen verhalten? Argumentiert wird, dass es andere politische Gruppen gibt, welche sich diesen Themen widmen, kaum aber selbstorganisierte Gewerkschaftsarbeit. Dieses Feld effektiv bearbeiten zu können, verlange eine Fokussierung und ein erkennbares Profil. Wenngleich das Argument nachvollziehbar ist ändert es nichts daran, dass FLINTA und Migrant*innen systematisch stärker ausgebeutet werden, schlechtere Jobs erhalten und an ihren Arbeitsplätzen diskriminiert werden. Es ändert nichts daran, dass die ökologische Zerstörung auch eine Klassenfrage ist und dass steigende Mieten insbesondere jene sozialen Klassen und Milieus betreffen, welche Anarch@-Syndikalist*innen erreichen wollen. Meine Antwort darauf wäre die Bezugnahme auf eine intersektionales Verständnis von ökonomischen Kämpfen. Die anderen Themenfelder sollten nicht von Basisgewerkschaften mit bearbeitet werden, aber mitgedacht und mit in die Analyse und – wo es sich anbietet – in die eigene Kommunikation einbezogen werden. Dazu gälte es zumindest in größeren Abständen eine grundsätzliche politische Debatte zu führen.
Schließlich stellt sich abschließend auch im Anarch@-Syndikalismus die Frage nach der Präfiguration einer erstrebenswerten Gesellschaft. Das bedeutet: Wie lässt sich ein libertärer Sozialismus als konkrete Utopie denken und in unsere heute angewandten Praktiken einbeziehen, sodass wir ihn bereits verwirklichen? In ökonomischer Hinsicht sollen dem Anspruch nach das Privateigentum vergesellschaftet und Unternehmen in Selbstverwaltung überführt werden. Die Arbeit soll nach den jeweiligen Fähigkeiten möglichst ähnlich verteilt sein, sich sinnvoll anfühlen und freiwillig getan werden. Um dies realisieren zu können, braucht es auch für die anarch@-syndikalistische Perspektive zumindest eine Grundvorstellung davon, wie Gemeinwesen organisiert werden. Hierbei geht es um ihre Organisationsformen, die Schaffung einer geteilten Öffentlichkeit, gemeinsame Entscheidungsprozessen etc. angefangen bei den Nachbarschaften. Ob wir diese Angelegenheiten letztendlich als politische Dimension bezeichnen, ist wenig bedeutend, wenn es libertär-sozialistischen Kräften gelingen sollte, tatsächlich einen qualitativ anderen Modus in der Selbstorganisation autonomer und dezentraler Gemeinwesen zu realisieren. Wenn Anarch@-Syndikalist*innen ihrem Anspruch treu bleiben wollen, Keimzellen der kommenden Gesellschaft zu sein (mit allen Widersprüchen und Unzulänglichkeiten, die das mit sich bringt, was den Anspruch nicht weniger richtig macht), scheint mir die Herausbildung eines geteilten Grundverständnisses in Hinblick auf alternative Gemeinwesen sinnvoll zu sein.
Die vier anarch@-syndikalistischen Wege im Umgang mit der Politik
Im Umgang mit der politischen Sphäre haben sich im anarchistischen Syndikalismus im Wesentlichen vier verschiedene Richtungen herausgebildet. Gruppen, die sich so bezeichnen, letztendlich aber tatsächlich bloß wie linke politische Gruppen agieren (also z.B. nur Propaganda machen, sich im Plenum organisieren, vor allem an linken Demos teilnehmen, keine Arbeitskämpfe führen usw.), sind tatsächlich nicht dazu zu zählen.
Ein Strang bezieht sich darauf, eine Gewerkschaft für alles sein zu wollen. Dahinter liegt die Vorstellung, dass in den ökonomischen Fragen die politischen letztendlich enthalten wären. Wenn die Produktionsstätten übernommen und das Privateigentum durch Arbeitskämpfe vergesellschaftet werden, wäre dies die grundlegende Voraussetzung für eine Reorganisation der gesamten Gesellschaft, die dann ebenfalls nach anarch@-syndikalistischen Vorstellungen umstrukturiert werden könnte. Émile Pouget trat z.B. als prominenter Vordenker der Anarch@-Syndikalismus für diese Herangehensweise ein. Mit dieser Fokussierung lässt sich auch ein gewisses Selbstbewusstsein und eine Schlagkraft erzeugen. Meiner Ansicht nach ist sie aber verkürzt. Es ist berechtigt, gewerkschaftliche Fragen etc. in den Vordergrund zu stellen. Die Transformation der Gesellschaft in Richtung eines libertären Sozialismus muss aber auf verschiedenen Ebenen und mit verschiedenen Mitteln stattfinden.
Ein anderer Strang bezieht sich auf den organisatorischen Dualismus, wie ihn bspw. Michael Schmidt und Lucien van der Walt befürworten. Sprich, neben den anarch@-syndikalistischen Gewerkschaften soll es politische anarchistische Netzwerke geben, welche insbesondere Propaganda, Bewusstseinsbildung und öffentlichkeitswirksame Aktionen betreiben. Erstere sollen Massenorganisationen sein, während letztere durch überzeugte, militante Aktivist*innen gebildet werden. Während der sozialen Revolution in Spanien wurde dieses Verhältnis anhand der CNT und der FAI (bis zu ihrem Regierungseintritt) relativ erfolgreich praktiziert, was im Deutschland der Weimarer Republik zwischen FAUD und FKAD (Föderation Kommunistischer Anarchisten Deutschlands) nicht wirklich funktionierte. In jüngster Zeit wurde die „Plattform“ gegründet, welche in einem solchen Verhältnis gesehen werden könnte. Aus bestimmten Gründen glaube ich allerdings nicht, dass damit perspektivisch ein organisatorischer Dualismus im eigentlichen Sinne gelingen kann. Vor allem in der BRD sehen Menschen oft bewegungslinke Netzwerke aus einer eher kommunistischen Tradition wie die Interventionistische Linke als Partner*innen-Organisation auf dem politischen Gebiet an. Meiner Ansicht nach besteht aber weiterhin eine politische Leerstelle, die von Anarchist*innen offenbar nicht (adäquat) gefüllt wird.
Die dritte Richtung lässt sich in einer Tradition verorten, die Christiaan Cornelissen vorgedacht hat. Ihm ging es darum, die ökonomischen Kämpfe des Anarch@-Syndikalismus im Verhältnis zu bestimmten politischen Kämpfen zu sehen, wobei er sich in seiner Zeit und seinem Kontext vor allem auf den Anti-Militarismus, den Anti-Klerikalismus und die Genossenschaftsbewegung bezieht. Hierbei geht es um mehr als außerparlamentarische Politik, sondern – wenn man so will – um antiparlamentarische sozialistische Politik „auf der Straße“. Im Unterschied zum organisatorischen Dualismus wäre es demnach nicht eine explizit anarchistische Organisation (oder ihr Ersatz), welche die politischen Fragen bearbeiten soll, sondern verschiedene, voneinander unabhängige soziale Bewegungen, die oftmals ineinander übergehen. Trotzdem geht es in den Basisgewerkschaften weiterhin hauptsächlich um das ökonomische Gebiet. Diskutiert werden könnte, ob dieser Ansatz mit dem vergleichbar ist, was ich oben als „intersektionalen Klassenkampf“ beschrieben habe.
Einen vierten Strang sehe ich in den Vorstellungen von Rudolf Rocker. Ich nenne sie Gelegenheitspolitik. Rocker betont, dass der Vorwurf, Anarch@-Syndikalist*innen seien „unpolitisch“, völlig falsch ist. Vielmehr würden sie aus politischen Gründen nicht wählen, weil die politische Sphäre des bürgerlich-kapitalistischen Staates gepresst werde. Der Fokus liegt selbstverständlich auch hier auf Arbeitskämpfen und gewerkschaftlicher Organisierung. Aber wo es Sinn ergibt, sollten sich anarchistische Syndikalist*innen z.B. auch an Demos aktiv beteiligen, die herrschende Politik differenziert kritisieren oder über alternative politische Modelle nachdenken und für sie werben. Deswegen trat Rocker auch aktiv für die Rätedemokratie ein und bezeichnete sie als adäquate politische Organisationsform für eine libertär-sozialistische Gesellschaft. (Das Rätemodell wurde in der Russischen Revolution 1905 erstmalig entwickelt. Im Grunde genommen handelt es sich hierbei um die Fortsetzung und Erneuerung des Konzeptes dezentraler autonomer Kommunen seit 1870).
Wie aus der Darstellung hervorgeht, halte ich den ersten Ansatz der einen Gewerkschaft für alles zwar für nachvollziehbar, aber insgesamt für zu kurz gedacht. Der organisatorische Dualismus ist in meinen Augen schon plausibler, ändert aber nichts an den Gründen dafür, dass es eine politische Leerstelle gibt und kann auch sehr schematisch und dogmatisch gedacht werden. Sympathien habe ich eher für ein gutes Verhältnis von anarch@-syndikalistischen Gewerkschaften zur selbstorganisierten sozialistischen Politik in verschiedenen Bereichen und für den Ansatz der Gelegenheitspolitik. Damit verstehe ich den anarchistischen Syndikalismus vor allem als soziale Bewegung. Inwiefern diese sich mit anderen Bewegungen überschneidet oder kooperieren kann, hängt davon ab, ob bei diesen ein ähnliches Politikverständnis, und ein Streben nach Autonomie und Selbstorganisation ausgeprägt sind. Letztendlich ist dies aber eine einzelne Position, die nicht an sich richtiger als andere ist. Wie gesagt ging es mir in diesem Beitrag vor allem darum, Grundüberlegungen im anarchistischen Syndikalismus abzubilden, zu reflektieren und diskutierbar zu machen.
Das (anti-)politische Spannungsfeld im anarchistischen Syndikalismus
Es ist deutlich geworden, dass ich in Widersprüchen argumentiert habe. Auf der einen Seite habe ich festgestellt, dass eine radikale Kritik an der Politik, eine Distanzierung zu ihr, die Entgegensetzung der ökonomischen Sphäre und die Bezugnahme auf diese, charakteristische Merkmale des anarchistischen Syndikalismus sind. Andererseits habe ich herausgearbeitet, dass sich beim alleinigen Fokus auf die Ökonomie und der völligen Ausblendung der politischen Sphäre eine Leerstelle entsteht, welche die Anliegen von Anarch@-Syndikalist*innen langfristig untergraben kann. Dies gilt insbesondere, wenn sie weder die vergangene anarch@-syndikalistische Tradition fetischisieren, noch bloß eine Spartengewerkschaft bleiben, sondern tatsächlich eine konstruktive sozial-revolutionäre Perspektive herausarbeiten wollen. Der Widerspruch zwischen Politik und anti-politischen Bezugspunkten und Momenten ist kein logisches Problem, sondern ergibt sich aus der Tatsache, dass Politik sich in der gegenwärtigen Gesellschaftsform als Herrschaftsverhältnis des Regierens konstituiert, häufig dem Staat zugeordnet und von diesem vereinnahmt wird.
Meinem Argumentationsgang nach ist der Anarch@-Syndikalismus deswegen nicht apolitisch oder unpolitisch. In theoretischen Begriffen ist er vielmehr als (anti-)politisch zu verstehen. Das heißt, Politik sollte weiterhin kontinuierlich skeptisch beäugt und kritisiert werden. Es lohnt sich selbstkritisch im Umgang mit unseren Vorstellungen von „Politik“ zu sein und uns die Frage zu stellen, welche anderen Handlungsmöglichkeiten es gibt oder welche wir bereits praktizieren (auch über anarch@-syndikalistische Aktivitäten hinaus…). Das Problem mit der Politik lässt sich nur in dem Maße überwinden, wie die dominanten kapitalistischen und staatlichen Herrschaftsverhältnisse (sowie jenen der Herkunft/zugeschriebenen Ethnie, in den Geschlechter- und den Naturverhältnissen) prozesshaft durch libertär-sozialistische gesellschaftliche Verhältnisse ersetzt werden. Prinzipiell lassen sich die uns auferlegten Bedingungen des politischen Feldes und der enormen Ungleichheit politischer Macht immer weiter abbauen und verringern – was allerdings keine Frage guter Konzepte, sondern von Gegen-Macht ist. Die Verwobenheit von ökonomischen und (anti-)politischen Kämpfen lässt sich im Anarch@-Syndikalismus nicht einfach auflösen. Und der Grund dafür ist, dass er sowohl historisch wie ebenso heute aus der Fusion von Basisgewerkschaftsaktivist*innen, enttäuschten Parteisozialist*innen und bewegungsorientierten Anarchist*innen hervorgeht. Nur weil bspw. Pouget, Cornelissen, Rocker und andere Anarchist*innen waren, die sich dann der Gewerkschaftsarbeit zuwandten, unterscheiden sich anarch@-syndikalistische Gewerkschaften von Spartengewerkschaften – was sie interessant macht. Wie gesagt kommen meiner Vorstellung nach auch Anarch@-Syndikalist*innen nie ganz um die Politik herum, so problematisch sie auch ist. Dass sich das Spannungsfeld zu ihr nicht einfach auflösen lässt ermöglicht andere Einsichten und Praktiken.
Direkte Aktion, soziale Revolution und libertärer Sozialismus
So wurde und wird die direkte Aktion entwickelt, um Unternehmer*innen direkt zu konfrontieren, anstatt über die durch Politiker*innen geleitete und vorgeprägte Verhandlung zu gehen oder vom Staat Sozialpolitik zu fordern. Wenn soziale Gesetze erlassen werden, welche für viele Menschen eine Verbesserung ihrer Lebenssituation darstellen, dann kann und soll dies nicht durch politische Forderungen (egal ob parteimäßig oder außerparlamentarisch) geschehen, sondern durch den Druck einer autonomen Selbstorganisation von unten. Statt auf sozialere Gesetze zu vertrauen, ist es entscheidend, dass diese lebenspraktisch Realität werden. So nutzt bspw. ein Mindestlohn all jenen nichts, die in Schwarzarbeit gedrückt werden, bringen Arbeitsrechte nichts, wenn sie durch Unternehmer*innen dauernd unterlaufen werden, ist eine gesetzliche Gewerkschaftsfreiheit wenig wert, wenn sie nur für ganz bestimmte Gewerkschaften gilt oder durch Repression verunmöglicht wird. Hinter der hier dargestellten Position und Denkweise steht weiterhin die Bezugnahme auf eine sozial-revolutionäre Perspektive. Damit geht es nicht darum, immer mehr, aktiver oder ernsthafter zu handeln und zu kämpfen. Stattdessen stellt sich die Frage, wie anarch@-syndikalistische Praxis verstanden und mit welchem Anliegen sie umgesetzt wird. Auch wenn die konkrete Utopie einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform weit entfernt scheint, lohnt sich auch in unseren Alltagskämpfen die Orientierung auf sie. Denn es sollte ums Ganze und die grundlegende Veränderung der Rahmenbedingungen unseres Handelns gehen. Wenn mit dem anarchistischen Syndikalismus eine konstruktive Herangehensweise verbunden wird, lohnt es sich ebenfalls, die Vision einer libertär-sozialistischen Gesellschaftsform zur Orientierung zu nehmen. Dass wir von ihrer umfassenden Realisierung gefühlte Lichtjahre entfernt sind, ändert meines Erachtens nach nichts an der Sinnhaftigkeit und dem Wert einer solchen Orientierung. Dies bedeutet aber zumindest einige der erstrebenswerten Rahmenbedingungen einer erstrebenswerten Gesellschaftsform konkreter zu benennen (hinsichtlich Vergesellschaftung, Kollektivbetriebe, syndikalistischer Organisationsformen usw.). Ihre Umsetzung bleibt eine Frage der Kräfteverhältnisse und ihrer Änderung, bleibt also eine Frage der Organisation, Bewusstseinsbildung und Aktion libertär-sozialistischer Kräfte – genau dafür dient aber eine geteilte, als machbar und realistisch angenommene, Vision. Um diese herausarbeiten zu können, gilt es das Spannungsfeld der (Anti-)Politik, aus welchem auch der Anarch@-Syndikalismus nicht ganz herauskommen kann, besser zu verstehen und einen produktiven Umgang mit ihm zu finden.
zwischen militanter Demonstration, moderner Schule, Picknick-für-Alle, libertärer Presse und Gegen-Kulturverein
Erst kürzlich entdeckte ich das sozialgeschichtliche Buch Der libertäre Atlantik . Unsere Heimat ist die ganze Welt von Tim Wätzold, welches schon 2015 veröffentlicht wurde. Darin beschreibt er den proletarischen Kosmopolitismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay auf der lateinamerikanischen und Italien, Spanien und Portugal auf der europäischen Seite des Atlantiks. Anschaulich und mit detaillierten Quellen unterfüttert arbeitet der Autor heraus, dass es eine gelebte transnationale libertäre Arbeiter*innenkultur gab, bevor diese von den bolschewistischen kommunistischen Parteien im Anschluss an die Russische Revolution von 1917 vereinnahmt und instrumentalisiert wurde.
Dieser geteilte Wertehorizont fußte auf sozialstrukturellen Bedingungen, wie der globalen Industrialisierung und der damit verbundenen internationalen Arbeitsteilung, der (teilweise stark geförderten) Massenimmigration von proletarisierten Europäer*innen in die amerikanischen Länder und der offensichtlichen Realität der Klassengesellschaft. Das gemeinsame Bewusstsein und die damit verbundene Subjektivierung ergab sich daraus jedoch keineswegs von selbst, sondern wurde durch die strategische Erzeugung einer libertären proletarischen Kultur geschaffen. Hierbei spielten soziale Zentren, libertäre Schulen, Theateraufführungen, Zeitungen und Picknicks eine große Rolle. Daher ist der Untertitel des Buches vom bekannten Lied „Nostra Patria il Mondo Intero“ entnommen, das vom bekannten Anarchisten Pietro Gori gedichtet wurde.
Wätzold hat jedenfalls eine gute Möglichkeit ergriffen, den Inhalt einer Dissertation in ein allgemein verständlicheres Format zu bringen. Sozialgeschichtliche Untersuchungen sind dahingehend allerdings auch unverfänglicher als solche der politischen Theorie.
Es folgen noch einige Auszüge aus der Einleitung, um einen Eindruck zu vermitteln:
Direkt nach dem Erscheinen versuchte ich an den vermutlich ersten Sammelband zum schwarzen und indigenen Anarchismus auf deutscher Sprache zu kommen. Leider dauerte es doch eine Weile, bis ich dazu kam, ihn zu lesen.
zuerst veröffentlicht auf: untergrund-blättle.ch
Unter mir unbekannten Umständen wurden die Herausgeberin Elany und eine Gefährtin kürzlich in der Schweiz verhaftet.[1] Da es müssig und unsinnig ist, über die Hintergründe zu spekulieren, konzentriere ich mich im Folgenden auf den Eindruck, den ich vom Sammelband gewonnen habe. Die aktuellen Ereignisse sind aber zu erwähnen, da mit ihnen deutlich wird, dass es noch Leute gibt, die leben und tun, wovon sie schreiben. Unabhängig von ihren konkreten inhaltlichen Positionen – die freilich auch mit unseren jeweiligen Positionierungen und Erfahrungen in der herrschaftsförmigen Gesellschaft zu tun haben – ist es dieses Engagement anzuerkennen, wertzuschätzen und inspirierend.
In Schwarze Saat sind ganze 85, meist kurze, Texte aus der Perspektive eines schwarzen und indigenen Anarchismus, deren Autor:innen auch den entsprechenden Hintergrund haben.[2] Dass es sich um ein Buch ohne weisse Europäer:innen handelt ist sehr wichtig, um die Ansprüche auf Selbstbestimmung und eigene Organisierung von rassistisch diskriminierten sozialen Gruppen zu unterstreichen. Kein weisser, europäischer Anarchist sollte je wieder das billige Argument der „Spaltungsbestrebungen“ anbringen, wenn sich People of Color oder auch FLINTA (Frauen, Lesben, Inter-, Nonbinary-, Trans-, Agender-Personen) in eigenen Untergruppen oder auch autonomen Gruppen zusammenschliessen, um aus ihrer spezifischen Perspektive heraus herrschaftsfeindliche Praktiken hervorzubringen. Und dies beinhaltet notwendigerweise immer auch eine Kritik an vorgetragenen anarchistischen Ansprüchen von Genoss:innen. Diese hat nicht immer konstruktiv und solidarisch zu sein. Ankommen wird sie vermutlich dennoch meistens, wenn sie so vorgetragen wird.
Ich bin sehr dankbar für die Herausgabe dieses Sammelbands, von dem ein Grossteil der Beiträge übrigens auch einzeln vorab auf der Seite schwarzerpfeil.de[3] veröffentlicht wurde. Und zwar deswegen, weil mit ihm andere Stimmen festgehalten werden, denen ich selbst zu selten Gehör schenke. So wusste ich beispielsweise bisher nicht, dass der ehemalige Black Panther Aktivist Lorenzo Kom’boa Ervin sich offenbar als einer der ersten Anarchists of Color bezeichnete und seine Schrift Anarchism and the Black Revolution, die 1979 erschien, eine unheimlich weite Verbreitung gefunden hat.[4]
Wenn mir die anarchistische Gewerkschaftsaktivistin Lucy Parsons selbstverständlich bekannt war, so nicht die Gruppe Afrofuturist Abolitionists of the America, deren Erklärung zur Selbstbezeichnung „Anarkata“ (ein angeeignetes Schimpfwort für widerständige, eigenwillige Katzen) sehr inspirierend ist. „Intersektionalität“ und „Identitätspolitik“ ist hierbei kein liberaler Rahmen, innerhalb dessen es für mehr „Diversität“ oder „Sensibilität“ einzutreten gälte, sondern eine klare Kampfansage gegen die multiplen, verwobenen Herrschaftsverhältnisse aus Perspektive der von ihnen Betroffenen.
Dass der ungeheure Reichtum der europäischen Post-Kolonialstaaten auf Sklavenarbeit beruht; dass die Kolonialisierung der Amerikas die brutale Unterdrückung der Native People voraussetzte; dass die weisse Arbeiter:innenklasse gegen die schwarze und indigene Bevölkerung ausgespielt wurde und wird, um erstere durch propagierten Rassismus in die Herrschaftsordnung zu integrieren; ja, dass die Entwicklung einer angeblich überlegenen, „weissen Rasse“, erst selbst als ein Produkt dieser krankhaft-zivilisatorischen Unterwerfung ist – dies und anderes war mir auch vorher bekannt. Kapitalistische Ausbeutung in der Klassengesellschaft, staatliche Unterwerfung und Unterdrückung, nationalistische Eingliederung, Naturbeherrschung, patriarchale Dominanz und weisse Vorherrschaft, sind zweifellos miteinander verwobene Herrschaftsverhältnisse von denen wir alle – aber eben alle auch unterschiedlich – betroffen sind.
Wer davor die Augen verschliesst, muss anfangen, Mythen und Rechtfertigungsmuster zu stricken, um sich erklären zu können, warum Menschen irgendeiner Gestalt und Seinsweise, eine unterschiedliche Wertigkeit und Würde zugeschrieben wird – die sich dementsprechend auch materialisiert findet. Die Geschichte zu kennen, ist eine entscheidende Voraussetzung, um in sie eingreifen zu können. Etwas anderes ist es dennoch, Geschichten von Menschen zu hören, die sich der Herrschaftsordnung und ihrer konkreten Auswirkungen widersetzen und gegen sie rebellieren.
Dies führt auch zur schwierigen und prinzipiell nicht abschliessbaren Definition von Schwarzem Anarchismus. Verstanden werden können darunter alle Gruppen von schwarzen anarchistischen Radikalen, seien sie Anarchist:innen in Afrika, schwarze Anarchist:innen oder Autonome in den USA, die antiautoritäre Strömung, die aus den Black Panthers hervorging, die Nachkommen geflohener Sklaven in Brasilien, den Quilombo, sowie die Maroon-Gemeinschaften, beispielsweise auf Jamaika, oder schliesslich die queeren Anarkatas. So herausfordernd die Zusammenkunft von Menschen aus verschiedenen Hintergründen auch sein kann, so viel Potenzial beinhaltet ein heterogenes und unabgeschlossenes Kollektivsubjekt wie der schwarze Anarchismus aber auch.
Zwar gab es hierbei auch die Wiederentdeckung bekannter europäischer Anarchisten. Der Ex-Panther Ashanti Alston schreibt beispielsweise davon, im Knast mit Bakunin, Kropoktin und im Briefverkehr mit anderen anarchistischen Denker:innen Kontakt gekommen zu sein. Zugleich ist sehr verständlich, dass diese nur bedingt etwas zu sagen haben für die Situation und den Erfahrungshintergrund, in dem sich beispielsweise militante schwarze Anarchist:innen in den USA der 70er Jahre befanden. Darüber hinaus inspirierend wurde deswegen die Wiederentdeckung und Wiederaneignung der zu weiten Teilen verschütteten afrikanischen Geschichte, in der lange Zeit in vielen Gebieten egalitäre Gesellschaftsformen bestanden. Weit entfernt davon, diese zu idealisieren, verweisen sie dennoch auf die Möglichkeiten, andere Formen des Zusammenlebens schaffen zu können, als wiederum auch darauf, dass die nationalstaatlich-kapitalistische Herrschaftsordnung ganz wesentlich von Europäer:innen aufgezwungen wurde.
Die Auseinandersetzung mit dem Konzept der „Nation“ spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Denn der phasenweise stark gemachte „schwarze Nationalismus“ ist anders zu bewerten als jener, welcher mit dem Nationalstaat verbunden ist. Unter ersterem konnte sich ein unterdrücktes und in sich heterogenes Subjekt versammeln, um gemeinsam aufzustehen, widerständig zu sein und sich selbst zu organisieren. Davon zu unterscheiden und in vielerlei Hinsicht problematisch ist die von Schwarzen gebildete „Nation of Islam“ – deren Existenz aber unter anderem den Anstoss gab, das Konzept einer (auch als Gemeinschaft verstandenen) Nation zu hinterfragen. Anti-Nationalismus und andere Themen sind allerdings nichts, was weisse Anarchist:innen (vor allem wenn sie einen bürgerlichen Hintergrund haben) anderen erklären müssten, sondern von den jeweiligen Positionen ausgehend entdeckt werden kann.
Vor allem die Autor:innen Aragorn!, zig und Elany selbst schreiben aus einer dezidiert zivilisationsfeindlichen, technologiekritischen und „insurrektionistischen“ Perspektive. Darin haben sie meines Erachtens nach einige Argumente. Denn technologische Entwicklungen werden die ökologische Zerstörung, welche das Kapital unweigerlich hervorbringt und seine Verwertungsschwierigkeiten, mit welchen Arbeiter:innen immer weitere Krisenerscheinungen aushalten müssen, keineswegs abmildern, noch aufhalten. Führen wir uns vor Augen, wie stark im Anthropozän Menschen die lebendige Mitwelt dezimiert und durch eine tote Technosphäre ersetzt haben[5], ergibt sich meiner Ansicht nach von selbst, dass es zu einem umfassenden Bruch mit der bestehenden Gesellschaftsordnung kommen muss.
Abgesehen davon, dass der Nihilismus mehr philosophische Gedankenspielerei ist und Weltschmerz ausdrückt, als brauchbares emanzipatorisches Potenzial aufzuweisen, sind allerdings einige Schlussfolgerungen zu problematisieren, welche in dieser Strömung – noch mal beschleunigt durch die Pandemie – bisweilen gezogen werden.[6] Dies ist aber eine andere Geschichte und ergibt sich nicht aus dem schwarzen und indigenen Anarchismus per se. Eine offene Debatte um Fragen nach der Rolle von Zivilisation, Technologie, Individualismus, europäischer Rationalität im Gefüge der bestehenden Herrschaftsordnung bleibt weiter zu führen.
In jedem Fall hilft die Textsammlung in Schwarze Saat, das Selbstverständnis von Anarchist:innen im deutschsprachigen Raum zu hinterfragen und damit zu erweitern.
Jonathan
Elany (Hrsg.): Schwarze Saat. Gesammelte Schrift zum Schwarzen und Indigien Anarchismus. Selbstverlag, 2021.
Die letzte Ausgabe der Analyse und Kritik fragt, ob die Zeit der Utopien vorbei ist. Der Cosmonaut-Blog fragt: Was tun in Zeiten der Schwäche? Mal wieder scheint eine Welle der Beschäftigung mit dem realen oder imaginierten „scheitern“ der linken Bewegung stattzufinden. Daran anknüpfend haben wir Jonathan eingeladen, um aus anarchistischer Perspektive über die derzeitigen Herausforderungen und Perspektive für linksradikale Bewegungen zu sprechen. Jonathan schreibt, kommentiert und empfiehlt Texte zu Anarchismus auf sein Blog paradox-a.de und hat selber eine Schriftenreihe zu anarchistischer Synthese, Theorie, Organisierung und Ethik herausgegeben. Das komplette Gespräch könnt ihr nun hier hören.
„Man nehme von jeder Zutat etwas und werfe es dann blindlings zusammen“ – So könnten die oftmals diffusen Gedankenströme, wackeligen Positionen, schwachen Verbindlichkeiten und unsteten Praktiken in linken Szenen beschrieben werden, in die Anarchist*innen sich hineinziehen lassen; von denen sie immer auch ein Teil waren und sind.
„Nach Jahren der Verunsicherung habe ich einen wahren Massstab gefunden, an dem die Welt sich messen lassen muss“ – So klingen in meinen Ohren all die Äusserungen der Rechthaber*innen der verschiedenen Fraktionen, ob sie sich marxistisch oder feministisch, egoistisch oder kommunistisch, syndikalistisch, plattformistisch, insurrektionalistisch oder gewaltfrei nennen. Die Verworrenheit, Positionslosigkeit, Unverbindlichkeit und Umtriebigkeit einerseits und der problematische Wahrheits-anspruch, das autoritäre Gebaren und Platzhirschgehabe, die vernichtende Kritik andererseits, sind zwei Seiten der selben Medaille.
Beide Kehrseiten waren im Anarchismus schon früher vorhanden. Beide sind aber auch Reaktionen auf die bestimmten Bedingungen genau unserer Zeit. In dieser gibt es starke emanzipatorische sozialen Bewegungen, denen aber die Fluchtlinien zur Gesellschaftsveränderung insgesamt fehlen. Es gibt zahlreiche, auch neue, Gruppierungen, die etwas verändern wollen und damit unmittelbar in ihrer Umgebung beginnen. Doch ihnen fehlt eine geteilte Vision als Orientierung, auf die sie ihre wichtigen Alltagskämpfe und ihre Kommunikation hin ausrichten können.
Die Krisen und Probleme dieser Welt drängen jedoch. Ja, dies haben Radikale schon immer gesagt. Wer immer beisst, wird ungefährlich, weil ihre Zähne sich abnutzen. Dennoch stimmt es auch: Die Gesellschaftsform in der wir leben, wird sich in den nächsten Jahrzehnten grundlegend verändern und darum werden heute Auseinandersetzungen geführt. Die Frage ist, ob wir zuschauen, kritisieren, reflexhaft reagieren und aktionistisch herumdoktorn wollen – oder ob wir uns sozial-revolutionär ausrichten wollen.
Dies betrifft nicht zuerst das, was wir tun – denn da ist schon viel Richtiges, Gutes, Wertvolles dabei – sondern wie und warum wir es tun. Es geht nicht zuerst darum, ob und welche Macht wir haben – denn wir sind zugleich ohnmächtig und handlungsfähig – sondern, ob wir die Mächtigen entmachten wollen – und wie wir dies tun können. Und: Ob und wie wir mit Vielen zusammen eine libertär-sozialistische Gesellschaftsform, entgegen der gewohnten, gewaltsamen, verfestigten und klebrigen Herrschaftsordnung aufbauen können.
Eine libertär-sozialistische Gesellschaft, bestehend aus Millionen von Föderationen dezentraler, autonomer Kommunen und freiwilligen Zusammenschlüssen, in welcher soziale Freiheit realisiert und anarchistische Ethik praktiziert wird, in welcher Menschen in ihrer Vielfalt koexistieren können und die Einzelnen sich selbst bestimmen und zwanglos gemeinschaftlich sein können. Dort sind die Klassen überwunden, die Produktionsmittel vergesellschaftet und selbst verwaltet; wird die gesellschaftliche Arbeitsleistung auf das notwendige reduziert.
Dort bilden materielle und soziale Sicherheit, gleicher Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Kultur, die Grundlage für selbstorganisierte Gemeinwesen, in welchen alle bei allen Angelegenheiten, die sie betreffen, in der Aushandlung und Umsetzung von Vereinbarungen partizipieren und ihre Konflikte auf gute Weise lösen können. Die Hierarchisierung von Geschlechtern wird überwunden, ebenso wie der Zustand übler Entfremdung und eine Regeneration der Mitwelt einsetzen.
Und noch einiges mehr liesse sich sagen, von der libertär-sozialistischen Gesellschaft – Wer sagt, dies sei eine langweilige Utopie, die hat recht. Sie ist so langweilig, wie das gute, schöne, reiche und erfüllte Leben, wenn wir die Bedingungen erkämpfen und erschaffen wollen, um es bedingungslos allen Menschen möglich zu machen. Und sie ist so utopisch, weil ihr Anspruch so gross und das Ziel so weit entfernt zu sein scheint. „Unrealistisch“ ist jedoch nicht diese Konzeption, sondern unmöglich ist es, dass sie vom Himmel fällt und die Starrheit, Gewalt und Tiefe der bestehenden Herrschaftsverhältnisse einfach davon fegt.
Doch bei der Konkretisierung anarchistischer Utopien geht nicht darum, irgendwelche Ideale zu entwerfen und Traumschlösser zu bauen. Es geht darum, Vorstellungen zu haben, nicht allein wogegen, sondern wonach wie uns sehnen, wofür wir streiten, worum es eigentlich geht.
Daran können wir unser alltägliches Denken orientieren und davon erzählen. Daran können wir unsere wichtigen, oftmals kleinen, unsichtbaren, radikalen, richtigen Handlungen sozial-revolutionär ausrichten. Mit ihnen gehen wir die Konfrontation ein, führen Auseinandersetzungen in ungleichen Kräfteverhältnisse, in denen wir immer David und nie Goliath sein werden.
Die neue, erstrebenswerte Gesellschaftsform reift wie all ihre reaktionären Konkurrent*innen parallel zur bestehenden Herrschaftsordnung der kapitalistischen und patriarchalen Staatlichkeit heran. Sollte sie eines Tages tatsächlich geboren werden, so wissen wir sehr gut, dass die Anarchie auch sie in Frage stellen und in Bewegung bringen wird…
Es lohnt sich, für die Anarchie einzutreten und sie zu leben. Deswegen gibt es Sinn, den Anarchismus in seiner Pluralität stärker werden und wachsen zu lassen. Wie aber kann dies gelingen? Weil unser Meta-Projekt, der libertäre Sozialismus, heterogen und kunterbunt ist, können wir selbst keine Eindimensionalität vertreten. – Es gibt viele Formen, wie sich Anarchist*innen organisieren können, sei es als soziale Bezugsgruppe oder informelle Aktionsgruppe, in offenen Gesinnungsgruppen oder autonomen Syndikaten, in Bewegungs-Netzwerken, Kommuneprojekten oder Stadtteilläden.
Wichtig ist, sich bewusst für derartige Organisationsformen zu entscheiden, sie zu gestalten und sich ihrer jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen bewusst zu sein. Viele Möglichkeiten gibt es auch, welche Praktiken und Taktiken als sinnvoll und brauchbar erscheinen. Auch sie sind so vielfältig wie das Leben. Sie sollten in Verbindung mit unseren eigenen Erfahrungen und Wünschen stehen, uns jedoch stets auch anregen, die gewohnten Wege zu verlassen und Neues auszuprobieren. Es gibt weder eine an sich richtige Praxis und in den allermeisten Fällen verschiedene Optionen, was sinnvollerweise getan werden kann.
Es ist wichtig, darüber miteinander im Gespräch zu sein, um der problematischen Entwicklung entgegen zu wirken, dass sich viele anarchistische Organisationsformen und Praktiken verselbständigt haben und zu Selbstzwecken geworden sind. Dies hängt wiederum mit der verbreiteten Orientierungslosigkeit von Anarchist*innen (und auch anderen Strömungen) zusammen. Es ist darüber hinaus damit verknüpft, dass sie – zurecht – der Vorstellung anhängen, dass ihre Tätigkeiten etwas mit ihnen zu tun haben, sie nicht noch weiter entfremden, sondern Entfremdung abbauen sollen. Dies kommt zum Kampf gegen Unterdrückung und Ausbeutung hinzu.
Wenn aber keine Überprüfung des Verhältnisses von Mitteln und Zielen stattfindet, wenn alte Glaubenssätze aufrechterhalten werden, obwohl die Rahmenbedingungen sich geändert haben, wenn die Traditionen und Prinzipien Überlegungen, was zu tun gilt und was getan werden kann, unterdrücken – dann ist es Zeit, aufzubrechen und etwas Neues zu wagen.
Dies gelingt nur, wenn wir Dogmatik, Romantik und Pragmatik in ein gutes Verhältnis bringen. Es ist nichts Verkehrtes daran, Glaubenssätze zu haben und von Wahrheiten auszugehen. Wer abstreitet, dass es eine Klassengesellschaft, Patriarchat, den Klimawandel oder Pandemien gibt, dass der Nationalstaat systematische Ausschlüsse von sozialen Gruppen produziert und sie mittels Anerkennungspolitik und Rassismus teilt und über sie herrscht, mit denen haben wir keine Diskussionsgrundlage auf Augenhöhe. Wenn unsere Dogmen zu einem abgeschlossenen System zusammengefügt werden, wenn sie eine dogmatische Lehre bilden, an der wir die ganze Welt messen, wird es jedoch schwierig. Es gibt immer auch andere Vorstellungen und unsere eigene Position ist immer zugleich subjektiv und historisch-spezifisch.
Ebenso sieht es mit der Romantik aus. Es ist wichtig, dass Emotionalität in all unseren Tätigkeiten eine Rolle spielen kann, dass wir unsere Gefühle von unserem Tun nicht abspalten und kalt werden wie kommunistische Politkader. Romantisch – weil in letzter Hinsicht unbegründbar – sind auch unsere Wertvorstellungen. Der Glauben an die prinzipiell gleiche Würde aller Menschen, der Skandal, dass sie entwürdigt werden, die Tatsache, dass wir gemeinsam für unsere Würde kämpfen können – dies sind Überzeugungen, welche aus unseren eigenen Erfahrungen hervorgehen. Die wir im Übrigen mit vielen Menschen überall auf der Welt teilen. Schwierig ist es aber, wenn wir aus dem Anarchismus romantisierte Identitäten, Ideale oder Praktiken erschaffen, deren Begründung sich dann einfach erübrigen würde.
Der Dogmatik und der Romantik steht, drittens, die Pragmatik gegenüber: Einer Orientierung nicht an Wahrheiten und Begehren, sondern an den Dingen an sich – eine materialistische Sache also. Anarchist*innen sind bekanntlich praktisch-pragmatisch veranlagt und versuchen sich auf greifbare Projekte zu konzentrieren, mit denen sich sichtbare Erfolge erzielen lassen. Zum Beispiel einen Arbeitskampf, die Verschönerung des Stadtviertels, eine Massenaktion zivilen Ungehorsams, einer direkten Aktion oder ein Ladenprojekt. Diese Herangehensweise ergibt viel Sinn. Darin liegt jedoch trotzdem die Gefahr, bestimmte Tätigkeiten wiederum zum Selbstzweck zu betreiben und uns darin zu verlieren. Gegen den verbreiteten Dogmatismus und den grassierenden Romantizismus, tun wir krampfhaft so, als wenn die Dinge für sich selbst sprächen. Aber Dinge können nicht sprechen, nicht denken und nicht handeln – das tun wir mit ihnen. Und wir sollten es reflektiert, in Abgleich mit unserem Verstand und mit unserem Gefühl tun.
Schliesslich können wir damit in den Streit über verschiedene ideologisch-weltanschauliche, inhaltliche und strategische Fragen eintreten. Im besten Fall sind wir endlich soweit, statt der Harmoniesuppe und dem Durchboxen der eigenen „Wahrheit“, in konstruktive und produktive Auseinandersetzungen einzutreten. Heute gibt es wie vor hundert Jahren anarch@-kommunistische, -syndikalistische und -individualistische Gruppen, Menschen und Ansätze. Darüber hinaus gibt es gewaltfreie und insurrektionalistische Anarchist*innen, Öko-Anarchist*innen und wieder eine stärkere Formulierung anarchafeministischer Positionen.
Sie haben alle ihre Wahrheiten und etwas zu sagen. Es geht hierbei nicht um Identitäten und Kategorisierungen, sondern um die Benennung verschiedener Stränge, Traditionen, Ansätze, Erfahrungshintergründe und Netzwerke. In der Realität treten sie oftmals in unterschiedlicher Gestalt vermischt miteinander auf und das ist gut so. Wichtig ist jedoch, sich der eigenen Standpunkte bewusst zu werden und sie aktiv – in Auseinandersetzung mit den Anderen – weiterzuentwickeln.
Dies bedeutet nicht, die eigenen Überzeugungen zu relativieren oder keinerlei eigene Urteilskriterien zu haben. Im Gegenteil. Es bedeutet, die anarchistische Pluralität anzuerkennen und zu bejahen, weil wir in einer komplexen Gesellschaft leben, weil soziale Gruppen darin auf unterschiedliche Weisen von Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung betroffen sind und weil eine vielfältige Gesellschaftsform unsere Zielsetzung ist. Nur mit einem Verständnis füreinander können wir zu einem Verstehen unserer eigenen Prägung und Perspektiven gelangen, Differenzen benennen und gemeinsam agieren, wo immer es uns möglich und erstrebenswert erscheint.
Es bedeutet selbstverständlich auch die eigenen Grenzen klar zu haben und deutlich zu machen, worauf wir uns nicht einlassen können – in manchen Fällen auch, was wir nicht gelten lassen wollen. Nur aufeinander bezogen, können wir gemeinsam stärker und durch unsere vielfältigen Fähigkeiten und Perspektiven ein relevanter und gestaltender Faktor in den Kämpfen für egalitäre, solidarische und freiheitliche gesellschaftlichen Verhältnissen werden.
Schön und gut. Doch das ist eine privilegierte Sichtweise, mit all diesem schöngeistigen Hippie-Intellektuellen-Geschwätz, könnte man sagen. Und das stimmt auch. Wer Ausbeutung und Unterdrückung sehr direkt zu spüren kommt, hat einen berechtigten Bedarf an klaren Antworten, an konkreten Ansatzpunkten, wie Veränderungen gelingen können, die uns selbst etwas bringen. Wer entfremdet ist, kann nicht eben mal, aus den falschen Verhältnissen wie aus der Höhle zum Licht heraustreten.
Diese Fragen sind zu stellen. Doch hier geht es um jene, wie wir unnötige Spaltungen, problematischen Dogmatismus und romantische Selbstverständnisses hinter uns lassen und auf konstruktive und produktive Weise mit den Konflikten zwischen uns umgehen. Das tut uns erstens besser und ermöglicht uns, zweitens, statt uns selbst zu zerfleischen, gemeinsam gegen die Herrschaftsordnung vorzugehen.
Also machen alle das, was sie ohnehin schon machen und hören etwas besser hin, fragen mal nach, diskutieren miteinander? O k a y . Aber worum geht es jetzt bei der anarchistischen Synthese selbst bitteschön? Wie gesagt, erstens um die Anerkennung der Pluralität und das Vertrauen darauf, dass gerade in ihr das Potenzial liegt, stärker zu werden und emanzipierende Aktionen hervorzubringen.
Zweitens geht es um ein Selbst-Bewusstsein davon, was Anarchismus ist: Dass wir unsere Perspektiven erklären können, für unsere Positionen einstehen und sie selbstbewusst vertreten. Dieser Anarchismus hat zu den meisten gesellschaftlichen Problemen und Fragen etwas zu sagen. Wir haben etwas mit ihm anzubieten.
Drittens können Anarchist*innen, welche die Synthese begrüssen, dazu beitragen, dass sie innerhalb der anarchistischen Szenen, aber auch darüber hinaus, hergestellt wird. Durch Diskussionen, Vermittlungen und Positionierungen versuchen sie zusammen zu denken, was gemeinsam wirksam werden kann – ohne es unter einen Hut zu bringen.
Viertens strebt der synthetische Anarchismus danach, seine Vorstellungen ganz praktisch in weiteren Kreisen zu verbreiten. Dies bedeutet auch immer wieder, die Komfortzone des Szene-Sumpfes zu verlassen. Es bedeutet allerdings nicht, auf Aktionen zu verzichten, die unbeliebt sind oder Repression nach sich ziehen könnten.
Fünftens werden sich Gruppen, die sich entscheiden, die anarchistische Synthese zu praktizieren, dennoch auf bestimmte Kampffelder, Orte, Organisations- und Aktionsformen konzentrieren – weil Konzentration erforderlich ist, um gelingenden und kontinuierlichen Tätigkeiten nachzugehen und ebenso, weil wir uns offenbar immer wieder in ihnen verstricken. Hier ist die Frage, ob es uns gelingt, über unseren Tellerrand hinaus zu blicken und unsere jeweiligen Tätigkeiten und Themen miteinander in Zusammenhang bringen.
Dies ist sie also, die anarchistische Synthese in einer Nussschale. Wieder mal eine ziemlich grosse Nuss.