Bisher sah meine Literaturliste ziemlich stümperhaft aus. Deswegen versuche ich jetzt noch mal einen anderen Zugang zu schaffen. Nicht alle Leute lesen gerne. Das ist völlig okay. Nicht alle Leute, die sich für das Thema interessieren, lesen gern sehr theoretische Schriften oder solche des historischen Anarchismus. Das ist auch in Ordnung oder verständlich. Denn so eine Beschäftigung ist eben nur ein Teil und eine Möglichkeit, einen Zugang zu anarchistischem Denken zu finden und zu untermauern. Und zur Anarchist*in wird mensch auch nicht deswegen. Gut ist es vor allem, wenn wir uns gemeinsam darüber austauschen, was wir wahrnehmen und interpretieren.
Aus eigener Leidenschaft und um zur (Selbst-)Verständigung beizutragen, habe ich mich viele Jahre anarchistische Bücher gelesen und möchte sie zugänglich machen. Sie helfen mir, die bestehende Gesellschaftsform zu begreifen, Alternativen zu ihr aufzuzeigen, soziale Kämpfe gezielter zu führen, mich selbst in all dem zu reflektieren und in einen größeren Kontext wahrzunehmen. Deswegen empfehle ich hier eine Auswahl an Werken, die dabei meiner Ansicht nach helfen können. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass ich immer mit allem, was darin geschrieben ist, mitgehe oder die Inhalte für absolute Wahrheiten ansehe. Aber sie haben dazu beigetragen, dass ich meine eigenen Postionen entwickelt – und auch wieder hinterfragt und weiterentwickelt – habe. Freilich habe ich auch noch andere Bücher gelesen – aber das tut hier nichts zur Sache… (Übrigens bin ich mir bewusst, dass die Liste sehr Typen-lastig und weiß ist. Ich denke aber auch, es kommt darauf an, was mensch daraus macht.). Wahlweise verlinke ich Verlagsseiten, wikipedia oder anderes.
Zunächst gibt es unterschiedliche gängige Orientierungswerke. Darunter zum Beispiel von Anarchismus zur Einführung (Daniel Loick 2017), Der Anarchismus und seine Ideale (Cindy Milstein) oder Demanding the Impossible. A History of Anarchism (Peter Marshall 1993). Ein benanntes Buch auf deutsch ist auch Freiheit pur. Die Idee der Anarchie (Horst Stowasser 1995). Kurz und knapp ist – wie der Name schon sagt – Anarchismus. A Very Short Introduction (Ward 2004), Anarchismus. Begriff und Praxis (Daniel Guérin 1969) oder Hier und Jetzt. Anarchistische Theorie und Praxis (Uri Gordon 2010). Ein Ziegelstein neueren anarchistischen Denkens ist The Palgrave Handbook of Anarchism (Carl Lewy/Matthew Adams 2018). Ebenfalls auf englisch wurden zahlreiche historische Texte des Anarchismus in drei Bänden auf englisch zusammengestellt in Anarchism. A Documentary History of Libertarian Ideas (Robert Graham 2005, 2009, 2013).
Inspiriert, tiefer in die anarchistische Theorie einzusteigen, haben mich dann vor allem neuere englischsprachige Bücher. Darunter zum Beispiel Schulden. Die ersten 5000 Jahre (David Graeber 2011), Direkte Aktion. Ein Handbuch (Graeber 2013) und Possibilities. Essays on Hierarchy, Rebellion, and Desire (Graeber 2007), The Politics of Postanarchism (Saul Newman 2010), Gramsci is dead. Anarchist currents of the Newest Social Movements (Richard Day 2005), The Impossible Community. Realizing Communitarian Anarchism (Clark 2013), Lifestyle Politics and Radical Activism (Laura Portwood-Stacer 2013) oder An Anarchist Critique of Radical Democracy (Marcus Lundström 2018).
Weiterhin auch Weniger Staat – mehr Gesellschaft (Rolf Canzen 1987), Die Neugestaltung der Gesellschaft (Murray Bookchin 1992), Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation (Christoph Spehr 2003), Freiheit, Individualität und Subjektivität (Jürgen Mümken 2003), Jenseits von Staat und Individuum. Individualität und autonome Politik (Gabriel Kuhn 2007), From Democracy to Freedom (CrimethInc 2018), Die Mühlen der Zivilisation (James C. Schott 2020), Die Welt und wir. Politik im Anthropozän (Jerediah Purdy 2020) und Für einen Umweltschutz der 99% (Milo Probst 2021).
Von den nach wie vor lesenswerten Schriften des „klassischen“ Anarchismus, muss ich eine knappe Auswahl treffen. Die Worte eines Rebellen (Peter Kropotkin 2021), Die Eroberung des Brotes (Kropotkin 1892), Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt und Ethik (Kropotkin 2013) eines bekannten Autor sind zum Beispiel gehaltvoll. Davor noch Die Reaction in Deutschland (Michael Bakunin 1842) und Staatlichkeit und Anarchie (Michael Bakunin 1999). Dann folgt die anarch@-kommunistische Linie in meiner Vorstellung den drei „M“: Anarchistische Interventionen (Malatesta 2014), Anarchismus in einer Nußschale (Johann Most 2006) und Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat (Mühsam 1933).
Weiterhin zu erwähnen sind Anarchismus und andere Essays (Emma Goldman 2013), Selected Works of Voltairine de Cleyre (2021) und Anarchy, Geography, Modernity (Élisée Reclus 2013). Von dort aus geht eine Linie hin zum kommunitären Aufruf zum Sozialismus (Landauer 1967), zur Anti-Politik (Gustav Landauer 2010), Pfade in Utopia (Martin Buber 1950) und eine andere zum syndikalistischen Texten (Rudolf Rocker 1900, Rocker 1924, Rocker 2009) oder Die Revolution ist Alltagssache (Émile Pouget 2014). Ansonsten auch die individualistischen Anarchist*innen wie An Enquiry Concerning Political Justice (William Godwin 2013), Der Einzige und sein Eigentum (Max Stirner 2008) oder Über die Pflicht zum Ungehorsam gegenüber dem Staat (Henry David Thoreau 2010).
Wichtig finde ich auch Die anarchistische Synthese (Sebastien Faure 1928), Über die Gewalt (George Sorel 1969), Sozialismus gegen Politik (Pierre-Joseph Proudhon ~1848) und The Revolutionary Question (Joseph Déjacque 1854).
Einige anarchafeministische Standardwerke sind Anarchism: The Feminist Connection (Peggy Kornegger 1975), Rethinking Ecofeminist Politics (Janet Biehl 1991), AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie (Lohschelder 2009) und anarchismus queeren (Shannon 2017).
Für den Schwarzen Anarchismus stehen Anarchism and the Black Revolution (Lorenzo Kom’boa Ervin 1979), Black Anarchism (Ashanti Omowali Alston 2003) und der Sammelband Schwarze Saat (Elany 2021).
Einige außer-europäische Werke sind Anarchism in Latin America (Ángel J. Cappelletti 2017), African Anarchism. The History of a Movement (Sam Mbah 1997), Decolonizing Anarchism: An Antiautorithorian History of India’s Liberation Struggle (Maia Ramnath 2011) und Anarchism in Korea Independence, Transnationalism, and the Question of National Development (Dongyuon Hwang 2016).
Dann gibt es diverse historische Studien zum Anarchismus, die hilfreich sein können. Darunter Unter sticht Ober. Eine Sozialgeschichte der bayrischen Revolution (Roman Danyluk 2022), Anarchistische Uhrmacher in der Schweiz (Florian Eitel 2018), Immigrants against the State (Kenyon Zimmer 2015), Black Flag Boricuas. Anarchism, Antiauthoritarianism, and the Left in Puerto Rico (Kirwin R. Shaffer 2013), Errico Malatesta’s Experiments with Revolution (Davide Turcato 2012) oder Anarchismus und Bürgerkrieg. Zur Geschichte der Sozialen Revolution in Spanien (Bernecker, Walter L. 2006).
Auch in (Auto-)Biografien von Anarchist*innen lässt sich vieles lernen. Auch wenn hierbei die Gefahr besteht, den Fokus wieder auf prominente Figuren zu richten, statt den Blick auf soziale Bewegungen zu weiten, sind subjektive Perspektiven für das anarchistische Denken wichtig. Empfehlen würde ich z.B. jene von Emma Goldman, Errico Malatesta, Peter Kropotkin, Rudolf Rocker, Voltarine de Cleyre, Victor Serge, Lucio Urtubia und Stuart Christie.
Doch Anarchismus wird nicht nur als Gegenstand in den Geschichtswissenschaften behandelt. Für die Ökonomie stehen Leben nach dem Kapitalismus (Michel Albert 2006) und How Cooperation Triumphs Over Self-Interest (Yochai Benkler 2011). In der Pädagogik sind der Sammelband Anarchist Pedagogies. Collective Actions, Theories, and Critical Reflections on Education (Robert H. Hworth 2012), Anarchism and Education. A philosophical perspective (Judith Suissa 2006) und auf deutsch Anarchisten als Pädagogen (Ulrich Klemm 2002) zu nennen. In der Humangeographie gibt es z.B. The Practice of Freedom. Anarchism, Geography, and the Spirit of Revolt (Richard J. White et. al. 2016), Historical Geographies of Anarchism Early Critical Geographers and Present-Day Scientific Challenges (Federico Ferretti et al. 2018) und schließlich den ersten Sammelband auf deutsch zu anarchistische geographien (germaine spoerri et. al. 2021). Für die Ethnologie/Anthropologie stehen Fragments of an Anarchist Anthropology (David Graeber 2004), Herrschaftsfreie Institutionen. Texte zur Stabilisierung staatsloser egalitärer Gesellschaften (Rüdiger Haude et. al. 2019) und The Art of Not Being Governd. An Anarchist History of Upland Southest Asia (James C. Scott 2009).
Darüber hinaus gibt es auch Beiträge von antiautoritären, undogmatischen Denker*innen, die ich empfehlen kann, weil sie mich mit geprägt haben. Etwas unzusammenhängend so zum Beispiel eher „aktivistisch“: Der Sozialismus und die Seele des Menschen (Oscar Wilde 1891), Dialekt der Aufklärung (Max Horkheimer / Theodor Adorno 1944), Gesellschaft als imaginäre Institution (Castoriadis 1990), Der eindimensionale Mensch (Marcuse 1964), Die Transformation der Demokratie (Johannes Angoli 1968), Handbuch der Lebenskunst für die junge Generation (Raoul Vaneigem 2008), Pädagogik der Unterdrückten (Paolo Freire 1987), Abschied vom Proletariat (André Gorz 1988), Der Mensch in der Revolte (Albert Camus 1996), Empire (Michael Hardt/Antonio Negri 2002), Der kommende Aufstand (Unsichtbares Komitee 2007), Kapitalismus aufbrechen (Holloway 2010), Die Bedeutung von Klasse (bell hooks 2020), Für eine feministische Internationale (Verónica Gago 2021), Beziehungsweise Revolution (Bini Adamczak 2017) und Revolution für das Leben (Eva von Redecker 2020) und Die Kraft des Handelns (Alicia Garza 2021).
Außerdem eher „wissenschaftlich“: Staatsfeinde. Studien zur politischen Anthropologie (Pierre Clastres 1976), Das Unbehagen der Geschlechter (Judith Butler 1990), Erlösung und Utopie. Jüdischer Messianismus und libertäres Denken (Michael Löwy 2021), Kritik des Regierens (Michel Foucault 2010), Herrschaft und Herrlichkeit (Giorgio Agamben 2010), Die Erfindung der Nation: Zur Karriere eines erfolgreichen Konzepts (Benedict Anderson 2005), Unendlich fordernd. Ethik der Verpflichtung, Politik des Widerstands (Critchley 2008), Die männliche Herrschaft (Pierre Bourdieu 2014), Gleichfreiheit. Politische Essays (Étienne Balibar 2012), Das unmögliche Objekt (Oliver Marchart 2013), Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung (Hartmut Rosa 2013), Fundamente der Subversion. Über die Grundlagen materialistischer Herrschaftskritik (Hendrik Wallat 2015), Gute Hirten führen sanft. Über Menschenregierungskünste (Ulrich Bröckling 2017), Reale Utopien (Eric Olin Wright 2017) und Abolutionismus. Ein Reader (Vanessa Thompson/Daniel Loick 2022).
Schließlich habe ich auch diverse eigene wissenschaftliche Beiträge geschrieben. Neben meiner Broschürenreihe Für ein neues anarchistisches Bewusstsein (2018), den vielen Rezension und sonstigen Beiträgen unter „Texte“ unter anderem auch Folgendes (mit, wie ich feststelle, sehr langen Titeln…):
- Das anarchistische Konzept der sozialen Revolution (2021)
- Im Spannungsfeld von Politik und Anti-Politik. Überlegungen zu einem zeitgemäßem anarchistischen Politikverständnis (2021)
- Von der apokalyptischen zur prophetischen Eschatologie. Anarchistische Vorstellungen von Zeitlichkeit und revolutionärer gesellschaftlicher Entwicklung (2021)
- Die soziale Revolution beschreiben! Eine Kritik an Florian Grossers Ausführungen zu anarchistischen Vorstellungen von Revolutionen in einem Einführungsband zur Revolutionstheorie (2020)
- Die Kunst freiwillig gemeinsam zu sein. Das Spannungsfeld zwischen Kollektivität und Individualität als Indiz für eine grundlegend paradoxe Form anarchistischen Denkens (2019)
- „Whose streets, whose power – which streets, what power“. Ein postanarchistische Ansatz zur Untersuchung sozialer Bewegungen (2019)
- Vom Inhalt und Nutzen postanarchistischer politischer Theorien (2018)
- Aber wie können und sollen sie denn nun sonst sein, eure Menschen? – Über paradoxe Möglichkeiten emanzipatorischer Subjektivierung (2018)
einige Sammelbandbeiträge als pdf: