Der Anlass diese Zeilen zu schreiben war ursprünglich, dass ein paar Trolle aus dem egoistischen Lager drei Fake-Heftchen herausgegeben haben. Darin greifen sie die Plattform, anarchismus.de und das Institut für Syndikalismusforschung an. Kritik ist wichtig und auch im vorliegenden Fall völlig legitim. Die Weise, wie die Autor*innen sie formulieren jedoch für mich inakzeptabel und selbstzerstörerisch.
Darüber hinaus ist ihre Argumentation scholastisch. Das heißt, die Autor*innen der Hefte denken nicht, sondern konstruieren sich ihre Gegner*innen so zurecht, dass es in ihr vorgepresstes Schema passt. Dazu arbeiten sie mit einem Haufen Unterstellungen, anstatt sich einfach mit den Gruppen und Leuten zu beschäftigen, welche sie kritisieren. Der Sinn dieses Unterfangens scheint in einer reinen Selbstbespiegelung zu bestehen. Jedenfalls werde ich an dieser Stelle nur knapp inhaltlich auf diese Broschüren eingehen, sondern vielmehr einige Gedanken dazu formulieren, inwiefern Egoismus und Plattformismus zwei Seiten derselben Medaille sind.

In einem Heft drucken die Autor*innen den Text „Zehn Thesen zum Aufstieg des Egokraten“ (von 1977) ab. Lächerlich daran ist, dass sie damit genau eine Projektion ihres eigenen Anti-Autoritarismus auf die Anhänger*innen der Plattform betreiben – Während sie jenen vorwerfen, sich anzumaßen zu definieren, was Anarchismus sei, tun sie dasselbe. In ihrem dogmatischen, also wortgläubigen, Glaubenssystem spiegeln die Egoist*innen daher lediglich den Dogmatismus der Plattform wieder. Haben letztere ihre spanische Revolution oder Machno-Bewegung, so sind es für erstere ihre „Träume“ von denen sie sich leiten lassen wollen. Doch auf dem Grund des vermeintlich „freien“ und „wilden“ Individuums ihrer Traumwelt verbirgt sich nicht mehr als das bürgerliche Subjekt.
Es ist (leider) zutreffend, dass sich einzelne Personen, die sich als Anarch@-Kommunisten verstehen, als arrogante Chefs aufspielen und damit anarchistische Prozesse unterlaufen. Warum fühlen sich die Egoist*innen aber dadurch denn dermaßen provoziert, dass sie sich den Aufwand machen, diese Fake-Broschüren zu produzieren? Meine Annahme ist, dass sie einem unreifen anti-autoritären Reflex erliegen. Mit diesem scheuen sie sich nicht die Argumente ihrer Konkurrent*innen zu verdrehen, um ihre eigenen Glaubenssätze zu bestätigen. Man kann es nicht anders sagen: Max Stirner würde sich bei solch dogmatisch-religiösem Gebaren im Grab herumdrehen.
In ihrer Fälschung mit dem Titel „Wie anarchistisch ist die Plattform?“ veröffentlichen die Autor*innen einen Text von Errico Malatesta, in welchem dieser Nestor Machno kritisiert. Es ist nicht besonders konsistent einen synthetischen anarchistischen Kommunisten gegen einen plattformistischen kommunistischen Anarchisten ausspielen zu wollen. Zumal Malatesta sich ja wiederholt gegen die idiotischen Fehlschlüsse und Auswüchse des Egoismus gewandt hat. Dies ist den Autor*innen aber egal. Sie bedienen sich einer ahistorischen, scholastischen Konstruktion, ebenso, wie sie es genau der Plattform vorwerfen.
So weit, so unlogisch, könnte man meinen. Doch im phrasenhaften Gepöbel der Autor*innen kommt noch mehr zum Ausdruck. Es wirkt, wie der krampfhafte Wunsch, Beachtung zu finden, was sie wiederum den exponierten Anarch@-Kommunist*innen unterstellen. Viel Selbst-Bewusstsein, also eine Reflexion über die eigene soziale Rolle und geformte Seinsweise, scheint dort nicht vorhanden zu sein. Im Stil kommt hingegen eine tiefsitzende Kränkung zum Ausdruck, welche wohl eher darauf verweist, dass sich die Egoist*innen für die eigentlich tonangebenden Personen ansehen. Dies können sie aber nur in lächerlicher Abgrenzung und Erniedrigung von konkurrierenden Standpunkten, statt diese einfach stehen zu lassen oder mit ihnen zu kooperieren, wo sich gegebenenfalls die Möglichkeit dazu auftut.
Es zeigt sich, dass die Egoist*innen keine eigenen plausiblen Positionen hervorbringen können und wollen. Ähnlich wie die Allzudeutschen fristen sie ein Zombie-Dasein, mit welchem sie sich genüsslich von den echten oder unterstellten Fehltritten ihrer Konkurrent*innen ernähren. Das wird insbesondere deswegen fatal, weil die Leere, in welche sie sich mit ihrer Pseudo-Kritik hineinfressen nur zum Nihilismus führt, aus dem nichts erwachsen kann. Man kann sich auch mit der Rolle der Ausgegrenzten überidentifizieren. Für manche scheint es der einzige Weg zu sein, mit ihrer bürgerlichen Prägung zu brechen, ohne sie zu wirklich zu überwinden.
Umgekehrt ist es bei einigen Anarch@-Kommunist*innen ebenfalls üblich, über existierende oder vermeintliche Auswüchse bei den Individualanarchist*innen zu sprechen – die dann gerne auch mal alle über einen Kamm geschert werden. Von den Betreibenden von anarchismus.de, über eine ganze Reihe aufgeblasender anarch@syndikalistischer Chef-Typen heult man rum, dass „die“ Individualanarchist*innen ihre schönen, reinen und zurechtgezimmerten Fetische der tollen Organisation, Strategie und dem Selbstbewusstsein kaputt machen.
Wer mit so viel Abwehrreflexen auf etwas Kritik reagiert, wie ich es gelegentlich schon erlebt habe, kann sich seiner Sache ja auch nicht ganz sicher sein. Auf dieser Seite also das Gleiche: Wie seit 160 Jahren disst man die Konkurrenz, statt die Unterschiede begreifen, die Differenzen anerkennen zu wollen und dies als Ausgangspunkt für die Weiterentwicklung und Stärkung gemeinsamer anarchistischer Vorhaben zu begreifen, die stets mehr sind, als die Summe ihrer Einzelaktionen.
Abschließend: Es ist nachvollziehbar, dass sich die Anhänger*innen unterschiedlicher anarchistischer Strömungen auch in Abgrenzung zueinander definieren. Dies ist an sich auch verständlich, denn so funktioniert soziales Lernen. Hierbei finde ich den Begriff der Schismosgenese den Wengrow und Graeber verwenden auch hilfreich: Gerade Gruppen, die eigentlich nahe beieinander liegen, entwickeln umso mehr Stile um unterscheidbar von den Anderen zu sein und sich selbst integrieren zu können. Diese Differenzierung kann aber auf verschiedene Weise geschehen. Sie muss eben nicht mit einer Abwertung, Ausgrenzung und Konstruktion der Anderen einhergehen. Bzw. sollte mensch sich zumindest bewusst machen, dass solche Effekte eintreten können, sie verstehen und anders mit ihnen umgehen.
Steckt hinter meinem Appell eigentlich nur ein Hippie-mäßiges Harmoniebedürfnis? Ich denke nicht, sondern, dass ich zu solidarischem und konstruktiven Streit herausfordern möchte, weil ich meine, dass die Sache größer ist, als ein paar (ja meistens schon) Typen, die sich gegenseitig behaken. Man kann sich auf dogmatische Standpunkte stellen oder in romantische Traumwelten flüchten. Selbstbewusster fände ich es hingehen, sich wirklich auseinanderzusetzen.
So unverständlich und uninteressant sie für die allermeisten Menschen und vermutlich selbst Anarchist*innen auch ist, will ich die Debatte „Egoismus vs. Plattformismus“ trotzdem ernst nehmen. Denn im Hintergrund steht tatsächlich ein Streit darüber, was Anarchismus „eigentlich“ ist. Das Wesen des Anarchismus lässt sich aber nun mal nicht nach inhaltlichen Positionen oder apologetischen Lehrsätzen ergründen, sondern nur in der Erfahrung, welche Personen mit ihm machen. Diese wiederum drücken sie in teils verschiedenen Begriffen aus. Da es ohnehin schwer ist, sie zu beschreiben, müssen jene notwendigerweise unzulänglich bleiben. Dennoch käme es zumindest auf den Versuch an, einander verstehen zu wollen.
Im Streit zwischen Plattformist*innen und Egoist*innen über das „Wesen“ des Anarchismus erweisen sich beide Lager jedoch auch noch in anderer Hinsicht als zwei Seiten derselben Medaille: In ihrem Verständnis bzw. ihrem jeweiligen Umgang mit „Politik“. Während die egoistischen Individualanarchist*innen in ihren Ansichten und Herangehensweisen konsequent anti-politisch sein wollen, kippt der plattformistische Anarch@-Kommunismus in eine ultra-politische Richtung um. Bei ersterem wird der Anspruch aufgegeben, Gesellschaft umfassend begreifen und verändern zu wollen und sich dabei auf den Mythos der Wahrheit subjektiven Erlebens bezogen, mit dem die bestehende Herrschaftsordnung nie radikal angefochten werden kann. Bei zweiterem ist zurecht zu fragen, ab welchem Punkt der anarchistische Kommunismus sich denn wirklich noch von autoritär-kommunistischen Gruppierungen unterscheidet.
Wie ich nicht müde werde zu betonen, liegt die Wahrheit des Anarchismus – wenn mit ihm die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen radikal und umfassend verändert werden sollen – dazwischen. Erst mit dem Verstehen der (Anti-)Politik im Anarchismus wird eine anarchistische Politik der Autonomie möglich, welche sich gleichermaßen von Plattformismus, wie von Egoismus unterscheidet.