Vermutlich ist es vielen der Lesenden dieses Blogs klar, warum ich von libertärem Sozialismus als Leitmotiv für eine „andere“ Gesellschaftsform spreche und schreibe. Um Unklarheiten zu vermeiden, möchte ich dies an dieser Stelle mein Verständnis noch einmal knapp skizzieren.
Ideengeschichtliche und politisch-theoretische Verortung
In überwiegender Hinsicht sind anarchistische Bewegungen ideengeschichtlich und politisch-theoretisch als Teil des Sozialismus zu begreifen. Neben Sozialdemokratie und Parteikommunismus ist Anarchismus eine der drei sozialistischen Hauptströmungen. Dies lässt ich in Hinblick auf die geteilten ethischen Werte von Solidarität, Gleichheit und Freiheit beschreiben. Es geht jedoch ebenso aus der ideengeschichtlichen Entwicklung hervor, nach welcher Anarchist*innen sich stets zu den „freiheitlicheren“ und selbstorganisierten Konzepten hingezogen fühlten. In den politischen Auseinandersetzungen innerhalb des Sozialismus‘ entwickelten sich „antiautoritäre“ und „libertäre“ Flügel, welche schließlich zur Formierung des expliziten Anarchismus ca. zwischen 1860 und 1880 führten.
Der Sozialismus‘ (Frühsozialismus, Gewerkschaftsbewegungen, religiöser Sozialismus, Sozialdemokratie, Marxismus, Parteikommunismus, Bolschewismus, Rätekommunismus, Gildensozialismus, demokratischer Sozialismus…) insgesamt stellt wiederum eine der drei wesentlichen politisch-weltanschaulichen Lager in der Moderne dar: Mit dem Konservatismus und dem Liberalismus stand er fortwährend in Auseinandersetzung. Nationalismus, Demokratie und soziale Frage stellen dahingehend wesentliche moderne Transformationsanliegen dar. Libertäre Sozialist*innen weisen den Nationalismus entscheiden zurück, verbinden die Forderung nach „sozialer Gerechtigkeit“ mit jener nach der Möglichkeit individueller Lebensgestaltung und haben ein ambivalentes Verhältnis zu Demokratie: Als Form bürgerlicher Herrschaft, lehnen sie diese größtenteils ab, als Weise einer kollektiven und pluralen Selbstorganisation von unten, begrüßen sie diese.
Der libertäre Flügel des Sozialismus wurde von linksliberalen Vorstellungen beeinflusst und zwischen beiden Strömungen gibt es auch Kooperationen – dies zeigt sich beispielsweise am Konzept der „gesellschaftlichen Selbstorganisation“. Trotzdem gehen sie nicht einfach ineinander über. Auf der anderen Seite grenzten sich Anarchist*innen explizit von „staatssozialistischen“ Ansätzen ab – sei es, in der Form, dass konservative Regierungen einige Sozialgesetze zur Befriedung von Unruhen und Steigerung der Arbeitsfähigkeit erlassen; sei es, indem sozialdemokratische Parteien staatliche Logiken und Organisationsprinzipien direkt übernehmen, um die Regierungsmacht übernehmen zu können.
Anarchist*innen wurden von Parteikommunist*innen zum Beispiel in der russischen (1917-1923) und spanischen sozialen Revolution (1936-1939) als vermeintliche Abweichler*innen – d.h. vor allem Konkurrent*innen – propagandistisch verleumdet, schwer verfolgt, eingesperrt und ermordet. Dennoch hatten sie teilweise gemeinsame Zielvorstellungen und ähnliche Methoden der Organisation und des Kampfes, sodass auch einige Schnittpunkte zwischen beiden Strömungen bestehen.
Meiner Ansicht nach kann der Anarchismus als diametraler Gegenspieler zum Faschismus angesehen werden. Der Anarchismus steht für eine herrschaftsfreie und plurale Gesellschaft, der Gleichen, Freien und Solidarischen ohne Staat. Der Faschismus hingegen für eine streng hierarchisch gegliederte und homogene Gesellschaft, in welcher der Staat totalitär ist. Gerade um diese Trennung deutlich ziehen zu können, gilt es sich jedoch mit den Aspekten der sogenannten „Konservativen Revolution“ und der faschistischen Affinität für die syndikalistische Bewegung auseinander zu setzen. Der Faschismus ist ein Produkt des Scheiterns sozial-revolutionärer Bestrebungen und dient herrschenden Klassen zur Konsolidierung ihrer Privilegien in unruhigen Zeiten – aber er ist nicht lediglich die „hässliche Fratze“ bürgerlicher Herrschaft.
Mit der vorgenommen Verortung ist ebenfalls deutlich geworden, dass libertärer Sozialismus als Erscheinung der Moderne zu gelten hat. Diese „Moderne“ ist von früheren Phase menschlicher Vergesellschaftung zu unterscheiden, erscheint jedoch nicht als ein klarer historischer Bruch, sondern als asynchroner, schlingernder Übergangsprozess. Neben der europäisch-westlichen Moderne, entwickelten sich weitere Varianten moderner Gesellschaften, darunter die chinesische, die russische und die lateinamerikanische. Der libertärer Sozialismus steht für eine alternative Moderne (ohne Kapitalismus, zentralisierten Nationalstaat, bürgerlicher Kleinfamilie, Naturbeherrschung etc.), kritisiert die Bedingungen der Moderne grundlegend, ist aber nicht anti-modern.
Konkrete Utopie und sozial-revolutionäre Transformationsprozesse
Die Zeit des Endes der Metanarrative ist vorbei. Rechtspopulistische bis rechtsextreme Bewegungen und Parteien gelang es in den letzten beiden Jahrzehnten eine wirkliche Gegenhegemonie aufzubauen. Linke Bündnisse verwirklichten dieses Vorhaben nicht. Stattdessen gab es seit den 1990ern immer wieder starke und global wirksame soziale Bewegungen, sei es gegen soziale Ungerechtigkeit, Armut, Krieg, Umweltzerstörung, Klimawandel, gegen Überwachung oder für die Rechte und Anerkennung von Indigenen, People of Color, FLTI*-Personen und so weiter. Deren Wirkungsweise sollte nicht unterschätzt, selbstverständlich aber realistisch, eingeschätzt werden.
Dennoch sind die Privilegien der Mächtigen und Besitzenden kaum angekratzt. Die ökonomische, politische und dignitive Ungleichheit verschiedener sozialer Gruppen ist so himmelschreiend wie eh und je, dagegen steht die Menschheit – mit Klimawandel, Kriegsdrohungen und kapitalistischer Aneignung – tatsächlich vor so großen Herausforderungen wie noch nie zuvor. Für diese kann es keine technische Lösung geben. Reformen erscheinen unter diesen Bedingungen kaum mehr möglich oder zielführend. Es bleibt die soziale Revolution als Hoffnung auf ein grundlegend besseres Leben für die meisten Menschen. Die miteinander verwobenen Herrschaftsverhältnisse von Kapitalismus, Staat, Patriarchat, weißer Vorherrschaft und Naturunterwerfung sind insgesamt anzugreifen, abzubauen und durch solidarische, egalitäre und freiwillige Institutionen und Beziehungen zu ersetzen.
Um sich an einen Ort begeben zu können, muss dieser benannt werden können. Ich denke es gibt Sinn, die Vision einer anderen Gesellschaft als libertär-sozialistisch zu bezeichnen. Libertär-sozialistische Ansätze innerhalb der bestehenden Gesellschaft und den vorgefundenen Bedingungen stellen die konkreten utopischen Projekte dar, von denen es auszugehen gilt, um eine gesamtgesellschaftliche Transformation vorstellbar zu machen und anzugehen. Hierbei darf es jedoch nicht einfach um die Verwendung eines neuen alten Labels gehen. Vielmehr bedarf eines grundlegenden Diskussionsprozesses verschiedener Akteure in den verschiedenen sozialen Bewegungen, von interessierten Einzelpersonen und sympathisierenden Intellektuellen – schließlich allem voran von und mit marginalisierten Gruppen. Darauf aufbauend können von libertär-sozialistischen Gruppierungen neue, dezentrale, föderative, horizontale und autonome Organisationsnetzwerke gewebt werden. Libertäre Sozialist*innen sollten nicht weiter davor zurück schrecken, sich Macht anzueignen, eine Vision zu entwickeln, voran zu gehen und Menschen zu ermächtigen.
Gestalt des radikalen emanzipatorischen Meta-Projektes
Wie der bunte Schirm eines libertär-sozialistischen Projektes genauer aussieht, kann und möchte ich an dieser Stelle nicht ausmalen – denn diese Aufgabe wird durch Konzeptionierungen und Aushandlungen zwischen den verschiedenen Akteuren und Gruppen geleistet, welche sich mit einem solchen Vorhaben assoziieren wollen. Das Entwerfen von Hirngespinsten bringt die Organisationsarbeit nicht weiter. Zugleich gehe ich jedoch davon aus, dass es verschiedene Gruppierungen gibt, die an einem libertär-sozialistischen Projekt interessiert sind.
Klar ist auf jeden Fall, dass ich nicht an eine Partei-mäßige Organisation denke, sondern um ein dezentrales Netzwerk libertär-sozialistischer Basisgruppen, welche ein gemeinsames Grundverständnis entwickeln und teilen. Die Organisationsprinzipien der Dezentralität, Freiwilligkeit, Autonomie, Horizontalität und des Föderalismus halte ich dahingehend nicht für irgendwelche wohlklingenden Schlagworte, sondern strategisch sinnvolle Kriterien, anhand deren sich ein libertär-sozialistisches Vorhaben orientieren muss, um diesem Namen zu entsprechen.
Libertäre Sozialist*innen föderieren lokal, regional, überregional und global und veranstalten gemeinsame Kongresse, Festivals und Konferenzen. Sie zeigen sich ansprechbar, arbeiten an ihrer Kommunikation und Außendarstellung, ebenso wie an den Beziehungen ihrer Mitglieder, deren Meinungsbildungsprozesse und Hierarchien nach innen. Es mangelt nicht an Wissen um egalitäre Selbstorganisation, aber an gegenseitiger Verpflichtung, Verbindlichkeit, Kontinuität, Verantwortungsübernahme und Strategien. Diesen Problemen lässt sich zu einem geringen Grad durch die Veränderung individueller Haltungen begegnen. Zum größten Teil handelt es sich jedoch um die Schaffung der Bedingungen, unter denen libertär-sozialistische Organisationen funktionieren können. Libertär-sozialistische Akteure versuchen verschiedene politisierte Gruppen miteinander zu vernetzen, zu verbinden, in Austausch zu bringen, sie zu radikalisieren, ihren emanzipatorischen Gehalt herauszustellen und für ein gemeinsames Meta-Projekt zu begeistern.
So einfach es klingt: Auszugehen ist dabei stets von konkreten Kämpfen und Bedingungen, in denen sich die jeweiligen Gruppen befinden, anstatt von irgendwelchen verkopften Abstraktionen, theoretischen oder ethischen Dogmen.
Rolle der Anarchist*innen
Der überwiegende Teil der Anarchist*innen verstand sich als libertär-sozialistisch. Umgekehrt wäre es jedoch nicht korrekt, den libertären Sozialismus lediglich als ein Synonym für Anarchismus anzusehen. Der libertäre Sozialismus ist breit aufgestellt und die verschiedenen Strömungen in ihm, sollten sich jeweils selbst definieren. Anarchist*innen können innerhalb der libertär-sozialistischen Bewegung jedoch eine aktive und progressive Rolle einnehmen, indem sie beispielsweise ein besonderes Augenmerk auf die eigenen Hierarchien legen und problematischen Machtdynamiken entgegenwirken. Sie können besonders jene mitdenken, welche fern stehen, Perspektiven wechseln und neue Themen einbringen. Anarchist*innen kennen und benennen ihre Feind*innen. Sie versuchen die kleine mit der großen Ebene, dass Nahe und das Ferne zu verbinden, für das Ganze einen sozial-revolutionäre Ausrichtung beizubehalten, zu vermitteln und vorzuleben.
Dies kann nur realisiert werden, wenn auch das anarchistische Lager neu aufgestellt wird. Dazu sind Reflexionen über die geteilten ethischen, organisatorischen und theoretischen Grundlagen erforderlich und ist den Tendenzen des Dogmatismus, der Welt-fliehenden Romantik, des falschen Individualismus, der individuellen Geltungssucht und Organisationsfeindlichkeit entgegen zu wirken. Diese Herausforderungen können in Bezugnahme auf andere und durch Auseinandersetzung mit anderen libertäre Sozialist*innen gelingen.