Von Linken verschiedener Radikalisierungsgrade kriegt man deutschlandauf und -landab fortwährend das fatalistische Gejammer zu hören, dass wir in nicht-revolutionären Zeiten lebten. Diese resignierte Leier vermehrte sich dann nochmals als sich die revolutionäre Phase von 1917ff. hundertjährte. In der Vergangenheit oder an anderen Orten werden Bezugspunkte für revolutionäre Aktivitäten gesucht – und das mit gutem Grund, denn ein historisches und globales Bewusstsein ist wesentlich, um die Bedingungen jeweils spezifischer Kontexte verstehen und verändern zu können. Schwierig wird es allerdings, wenn darunter ein vergängliches und entferntes Ereignis verstanden wird, nicht aber ein potenziell zukünftiger und unmittelbarer Prozess. Oder gar eine Erfahrung des eigenen historisch-gesellschaftlichen Kontextes, mit welchem aus diesem revolutionäre Momente und Tendenzen herausgeschält werden. Diese präfigurative und immanente Herangehensweise erlaubt uns die Aussage: „Die Revolution wird hier und heute sein oder sie wird nie stattfinden“.

Den Revolutionbegriff einfach lebensweltlich herunterzubrechen und sich von kurzfristigen, exzessiven Erlebnissen blenden zu lassen, wird dem nicht gerecht, worum es geht. Selbstverständlich meint „Revolution“ eine anhaltende, umfassende und radikale Gesellschaftstransformation in allen Dimensionen. Dies bedeutet, dass die gesellschaftlichen Bedingungen unseres Zusammenlebens von vielen Menschen dauerhaft verändert werden. Wenn wir uns anschauen, wie träge die Masse der Leute ist und wie gefangen in Lohnarbeit, kapitalistischem Konsum, persistenter Untertänigkeit und zäher Lethargie, liegt der Schluss allerdings nahe, dass unsere Zeiten nicht besonders revolutionär sein könnten. Demgegenüber steht erschreckender Weise, dass die Gesellschaftsform, in welcher wir heute leben, sich ohnehin in einem massiven Veränderungsprozess befindet. Die umfassenden Krisen des Systems werden sich sehr bitter für Viele auswirken, welche aktuell noch einen relativ abgesicherten Status haben.
Die Frage für Anarchist*innen ist, wie sie sich zu diesen beiden Tatsachen verhalten: Der Trägheit der Masse, sowie der massiven Zerstörung, Ausbeutung, Unterdrückung und Entfremdung, welche der kapitalistische Staat produziert. Denn die Verelendungstheorie ist komplett falsch, wie seinerzeit Rudolf Rocker argumentierte: Aus der Verschlechterung der sozialen Lage von Menschen, also der Prekarisierung von weiteren sozialen Klassen, geht weder automatisch eine revolutionärere Gesinnung, noch ein verantwortliches, selbständiges und emanzipatorisches Handeln von Menschen einher. Wer fatalistisch ist, wird auf dem Dogma beharren, nach welchem verunsicherte, verarmte und entwurzelte Menschen sich autoritären Führern anschließen, umso mehr den starken Staat fordern und ihren – durch die eigene Entwürdigung entstandenen – Hass an Minderheiten ausleben. Und das ist nicht die schlechteste Haltung zu den Dingen. Dass Leute die Revolution eben nicht wollen würden und man sie ihnen deswegen bringen – gar aufzwingen – müsste, ist die merkwürdige voluntaristische Kehrtwende, die der historische Determinismus dann einschlägt.
Wer realistisch ist, weiß hingegen, dass Menschen ihre Einstellungen und Handlungen immer nur daran orientieren können, was sie gelehrt bekommen, wie sie in ihrem Umfeld geprägt werden, welche Medien sie konsumieren, welche Selbstwirksamkeitserfahrungen sie machen und so weiter. Deswegen ist die Aufgabe von Anarchist*innen unbedingt, heute sozial-revolutionär zu werden. Das bedeutet 1) die vorangehende Umwälzung der Gesellschaftsform insgesamt zu begreifen, 2) die Widersprüche der Herrschaftsordnung herauszuarbeiten und darin anzugreifen, 3) Organisationen zu schaffen, in denen unterschiedliche Menschen sich aufeinander beziehen, gemeinsam ermächtigen, kämpfen und ihr Bewusstsein bilden können, 4) eine gemeinsame Vision zu spinnen, wie die Verhältnisse grundlegend anders geregelt werden können und sie experimentell vorweg zu nehmen, 5) Fähigkeiten für Selbstorganisation und Autonomie in größerem Maßstab zu erlernen und herauszustellen, dass dies heißt demokratisch gegen den Staat und solidarisch gegen den Kapitalismus zu sein.
Gut, wen juckt es, wenn ich diese Phrasen hier herunter schreibe? Letztendlich sind schon viele Menschen an solcherlei Ansprüchen gescheitert. Doch das macht die Ansprüche nicht schlechter. Durch die Erfahrung des Scheiterns selbst-bewusst hindurch zu gehen, ermöglicht uns aber einen anderen Umgang mit ihnen. Mit anderen Worten: Was Anarchist*innen und ähnlich gesinnte Menschen tun, ist häufig (längst nicht immer!) schon intuitiv das richtige und keineswegs sinnlose Zeitverschwendung oder bloßer Lebensabschnittsaktivismus. Deswegen sollten sie umso mehr daran interessiert sein, dass ihre Praktiken, Stile und Organisationen nicht zu Selbstzwecken, sondern in einen sozial-revolutionären Zusammenhang gestellt werden. Damit wird nicht alles verändert, was wir tun. Aber somit verschieben wir die Perspektive darauf, wie wir es tun.
Es war übrigens die erneute Lektüre von Verónica Gago Für eine feministische Internationale, die mich wieder darin bestärkt hat, wie absurd und Bewegungs-fern der Irrglaube an die vermeintlich nicht-revolutionären Zeiten wirklich ist. Zu einem guten Teil steckt dahinter die sowohl abgehoben-intellektuelle, als auch die exklusiv-linksradikale Angst davor, unterschiedliche Menschen könnten tatsächlich anfangen, ihre Leben in die eigenen Hände zu nehmen, ohne Führung zu rebellieren und sich selbst zu organisieren. Durch wirklich revolutionäre Prozesse werden auch linksradikale (ja, auch anarchistische) Vorstellungen von Revolution erschreckend hinterfragt. Wer diese Vorgänge nicht rechthaberisch und distanziert betrachten, sondern eingreifen und mitgestalten möchte, kommt nicht umhin, sich heute sozial-revolutionär zu orientieren und zu lernen, in Widersprüchen zu agieren. Dazu gehören auch Mut, Wille, Selbst-Bewusstsein, Erfahrung und – das ist wohl das Wichtigste – das Vertrauen in einen Kreis von Genoss*innen, die sich gegenseitig stützen, tragen, reflektieren und motivieren.Zum Irrglauben, wir lebten in nicht-revolutionären Zeiten