Wissenswertes vom Anarch@-Nietzscheanismus

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zu Paul Stephan: Links-Nietzscheanismus. Eine Einführung (Stuttgart 2020)

Kürzlich ist der zweite Band von Paul Stephans linker Nietzsche-Einführung beim Schmetterlingsverlag erschienen. Das ist sehr erfreulich, denn eine Beschäftigung mit dem Dynamit-Mann ist immer wieder lohnenswert. Stephans Schwerpunkt liegt dabei auf der Rezeptionsgeschichte Friedrich Nietzsches, womit der nachweist und verdeutlicht, welche ungeheuere Relevanz dieser unkonventionelle, eigensinnige, gekränkte Denker für die Philosophie insgesamt hatte. Nietzsche wurde kurz nach der Erscheinung von Stirners Der Einzige und sein Eigentum geboren und es heißt, dass er sich von diesem hat beeinflussen lassen (wobei Stephan einen direkten „Ideenklau“ für unwahrscheinlich hält.) Als Philosophen narzisstischer Kränkung, aus welcher eine lebensbejahende Einstellung entspringt, liegt die Verbindung auf der Hand. Die Parallelen zwischen beiden „liegen vor allem daran, dass beide von einer ähnlichen psychosozialen Situation ausgehen“ (S. 54).

Das Buch ist in vier Teile untergliedert. Unter Anarchisten, Künstler und sonstige Spinner: Nietzsche bis zum Ersten Weltkrieg findet sich die linke Nietzsche-Rezeption, welche Stephan im zweiten Kapitel jener der Rechten gegenüberstellt, was insbesondere die Neue Rechte und expliziten Faschisten betrifft. Im dritten Kapitel Von Psycho- zu Sozioanalyse: Von Freud nach Frankfurt stellt Stephan Nietzsches Einfluss auf die psychoanalytischen Ansätze sowie auf die Kritische Theorie dar. Im vierten Kapitel Vom fröhlichen Nihilismus: Nietzsche aus Frankreich wird schließlich auf die Rezeption Nietzsches durch die französischen Poststrukturalist*innen eingegangen.

An dieser Stelle gehe ich auf den Abschnitt Nietzsche als Wegbereiter des Anarchismus (S. 51-65) ein. Stephan beschreibt den Anarchismus als jene (häretische) linke Strömung, welche von Nietzsches Denken am stärksten beeinflusst worden sei (S. 51). Dies ist nicht selbstverständlich insofern Nietzsche sich fast ausschließlich negativ auf den Begriff „Anarchie“ bezog. Zuvor bereits nachgewiesen hatte Stephan allerdings, „dass seine Staatskritik gepaart mit seinem auch in diesen Fragmenten anklingenden Individualismus durchaus Affinitäten zum Anarchismus aufweist“ (S. 52). Eine „Fülle“ von Anarchist*innen haben sich auf Nietzsche bezogen, doch Stephan beschränkt sich aus Platzgründen auf Emma Goldman und Gustav Landauer. Stephan stellt nun in Anschluss an Dominique F. Miething die Verbindung zu Stirner her, dessen Egoismus zwar auch unter Anarchist*innen hoch umstritten war, deren Diskussionen jedoch wesentlich beeinflusst hatte. Stephan nimmt dann eine Abgrenzung von beiden vor und schreibt:

Auch Marx spricht vom «Verein freier Menschen» doch der ähnelt bei Stirner eher einem schrankenlosen Kampf aller gegen alle als einem wirklich versöhnten Zustand. Von Nietzsche unterscheidet Stirner insbesondere, dass Nietzsche ja keinen ‹plumpen Egoismus› vertritt, sondern eine Ethik der individuellen und auch kollektiven Selbstvervollkommnung (53f.).

Interessanterweise geriet Stirner in Vergessenheit, wurde jedoch etwa 1890 zeitgleich mit der Bekanntheit Nietzsches wieder entdeckt. Die Verflechtung bestand also weiterhin:

Nietzsche und Stirner wurden, insbesondere, aber nicht nur, in anarchistischen Kreisen in dieser Zeit oft gegenübergestellt und miteinander verglichen. Manche neigten eher Nietzsche zu, andere Stirner. Die Selbstverständlichkeit dieser Gegenüberstellung sagt viel über das Nietzsche-Bild jener Zeit: Denn was Stirner charakterisiert und ihn auch aus heutiger Sicht zu einem Theoretiker von eher sekundärem Interesse macht, ist die fast völlige Abwesenheit psychologischer, physiologischer und soziologischer Reflexionen in seinem Werk. Gerade in dieser Hinsicht hat Nietzsche weitaus mehr zu bieten, selbst wenn man Stirners anarchischem Egoismus gegenüber Nietzsches Elitismus sogar etwas abgewinnen mag (S. 54).

Im Folgenden geht Stephan auf Landauer als „wichtigsten deutschen Theoretiker des Anarchismus“ ein. Max Nettlau bemerkte über Landauer, dieser hätte Nietzsche weit besser gekannt, als alle anderen (ihm bekannten Anarchist*innen. Die Verbindung besteht sehr direkt: Landauers erster Roman Der Totenprediger von 1893 ist eine direkte literarische Aneignung der Philosophie Nietzsches (S. 55). In diesem geht es um den Ausbruch aus dem bürgerlichen Leben, die Erfahrung des Nihilismus und der Langweiligkeit und dem Dogmatismus der marxistischen Sozialdemokratie, welche durch die nietzscheanische Kritik eine undogmatische Form des Sozialismus ermöglicht. Damit deutet Landauer auch seinen eigenen Weg an. In zwei Artikeln beschäftigt sich Landauer ebenfalls mit Nietzsche der ihn offenkundig faszinierend, den er aber zugleich für seine „romantische Rückwärtsgewandtheit“ kritisiert. Auch Landauers Geschichtsphilosophie scheint durch Nietzsche beeinflusst, womit er auch den marxistischen „historischen Materialismus kritisiert und darin „insbesondere den Anspruch, die Geschichte objektiv betrachten zu können sowie die Geschichte als unbestechlichen Richter anzusehen, was auf eine bloße Vergötzung der jeweils bestehenden Macht hinauslaufe“ (S. 58).

Nach Nietzsches Tod würdigt Landauer ihn ausgiebig und betont dessen „Kritik am traditionellen Wahrheitsbegriff und zieht ihn deshalb nun auch gegenüber Stirner vor“ (S. 59). Weiterhin verteidigt er Nietzsche gegen Anschuldigungen, dieser betreibe eine elitistische Philosophie, sondern stünde vielmehr für eine notwendige Kritik von Spießertum und Religion. In seiner sprachphilosophischen Auseinandersetzung mit Fritz Mauthner (Skepsis und Mystik 1903), der von Nietzsche und Stirner stark beeinflusst worden war, kommt er zum Schluss:

Skepsis bedeute eine radikale Befreiung des Geistes, auf deren Grundlage er eine ungeahnte Schöpferkraft entfalten könne – eine Befreiung, die nicht zuletzt, wie Landauer am Ende des Buches betont, auch eine politische ist (S. 60).

Auch Landauers Aufruf zum Sozialismus (1911) ist von der Stilrichtung und den Grundaussagen laut Stephan merklich von Nietzsche geprägt, auch wenn dieser nicht explizit erwähnt werde.

Neben Landauer ist Emma Goldman die vermutlich diejenige Anarchistin, die am ausgiebigsten auf Nietzsche bezog. In den USA gab es kritisch eingestellte, linke Gemeinschaften, oftmals von ausgewanderten Deutschen, mit denen Goldman in Kontakt stand. In ihrer Zeitung Mother Earth schrieb Goldman mehrere Artikel über Nietzsche und bewarb die Gesamtausgabe seiner Werke. Goldman feiert insbesondere die subversiven und ermächtigenden Gedanken, welche sie bei Nietzsche liest. In Hinblick auf direkte Aktionen in einer aufgeschaukelten politischen Situation schreibt Stephan:

Goldman gilt die radikale Militanz solcher Akte des Widerstands gerade als Ausweis eines heroischen Nietzscheanismus. Ebenso verteidigt sie Sabotageaktionen am Arbeitsplatz als klassenkämpferische Subversion. Die reformorientierte Politik der Gewerkschaften, linken Parteien und auch der feministischen Bewegung gilt ihr demgegenüber als Ausdruck einer sklavenmoralischen, konformistischen Haltung. Explizit bezog sich der Goldman-Kreis dabei auf Nietzsches Apologie des Verbrechers als «Herrenmenschen» (S. 64).

Auf den Punkt gebracht schreibt Stephan abschließend:

Der zentrale Zug von Goldmans Anarcho-Nietzscheanismus ist die Betonung der Notwendigkeit der Befreiung des Individuums von moralischen Zwängen – und zwar nicht erst in einer künftigen, sondern bereits in der bestehenden Gesellschaft. Es gehe zuallererst darum, sich von seinem «inneren Tyrannen» freizumachen, um dann erst den äußeren wirklich effektiv bekämpfen zu können. Die Frauen sollten sich dabei zu einer authentischen Weiblichkeit emanzipieren, als deren Inbegriff Goldman mit Nietzsche die Geburt eines Kindes gilt […] Die Menschen müssten sich aus aller Passivität und Hörigkeit, ihrer Zugehörigkeit zur Masse, befreien und schöpferische, lebensbejahende Herrenmenschen im Sinne Nietzsches werden. In diesem Sinne kritisierte sie auch jeden Versuch einer staatsförmigen Verwirklichung der linken Utopie unter Rekurs auf Nietzsches Rede vom Staat als «kältestem Ungeheuer» […] Auch Goldmans für die anarchistische und feministische Debatte äußerst bedeutsamer Anarcho-Nietzscheanismus zeigt deutlich, wie Nietzsches Individualismus in konsistenter Weise zu einer anarchistischen Herrschaftskritik zugespitzt werden kann (S. 65).

Die fokussierte Darstellung Stephans im Abschnitt über die anarchistische Nietzsche-Rezeption, macht auf jeden Fall Lust, das Buch insgesamt zu lesen. Darüber hinaus verdeutlicht und verteidigt sein Autor den Standpunkt einer „linken“ Lesart Nietzsches – ohne deswegen dessen Komplexität und seine Rezeption durch die Neue Rechte zu negieren, welche er ebenfalls abbildet. Selbsterklärend ist allerdings, dass eine Wiedergewinnung Nietzsches für emanzipatorische Kreise nur mit seiner kritischen Lektüre auskommt.