„We are all victims of the plastic world“ (Teil 2)

Lesedauer: 3 Minuten

Ausflug in den Einrichtungsgroßhandel

(Erster Teil)

Interessant war auch, dass mein Neffe zu jeder doppelten Tür lief, die mit einem runden Glasfenster versehen war. An den Ecken des Gebäudes ermöglichten diese jeweils Blicke in die Außenwelt des Gewerbegebietes. Sie waren mit einem Notausgangsschild versehen. Ich rief ihn zurück und sagte, dass wir jetzt weitergehen. Doch bevor er zurückkam verharrte er irritiert in seinem Blick nach außen. Handelte es sich dabei um eine Art natürlichem Fluchtinstinkt?, fragte ich mich. Wissen schon kleine Menschen, dass sie hier in einer Fake-Welt gefangen sind und üblicherweise nicht eher aus ihr entkommen können, bis sie den Ausgang von IKEA gefunden hatten? Aber selbst wenn man ging, nahm man ja in der Regel etwas von hier mit, um sich zu Hause damit einzurichten.

Möbel in Massenware sind seit den 50er oder 60er Jahren in so gut wie allen Wohnungen westeuropäischer aufgestiegener Proletarierer*innen und abgestiegener Bürger*innen zu finden. Dies ist die Gleichheit, welche der Kapitalismus uns verspricht, reduziert auf den Preis, welchen dann wiederum nur einige bezahlen können, beziehungsweise je nach Klasse zahlen können. Ein flüchtiger Blick in die Außenwelt lässt kurz den Gedanken aufblitzen, dass es etwas anderes geben könnte. Und sei es nur das graue Gewerbegebiet, welches sich in seiner Tristheit in einiger Hinsicht realer anfühlt, als die Wohnungen derjenigen, welche voll und ganz auf das vorgefertigte Programm – inklusive nichtssagendem Wandschmuck – setzen.

eigene Aufnahme

In der Hast der sich voranschleppenden Konsument*innen, wird man weitergetrieben. Ob jemand jemals durch die Notausgangstür gegangen ist, weil die Person es einfach nicht mehr ausgehalten hat bei IKEA?, fragte ich mich. Natürlich veranlagt scheint dieser Fluchtinstinkt offenbar zu sein, auch wenn ich nicht von einem einzelnen Zweijährigen, auf die Bedingung des Menschen an sich schließen will. Und was war eigentlich mit den Mitarbeiter*innen des Möbelgiganten? Waren sie möglicherweise zwangsverpflichtet, hier zu arbeiten? Konnten sie diese Hallen denn überhaupt verlassen? Denn ich sah sie hin und her laufen, nicht aber zum Ausgang, sondern ihre jeweiligen Stationen umkreisend. Ob von ihnen jemals jemand den Notausgang gewählt hat, um diesen Albtraum der Konsumgesellschaft und ihrer Lohnarbeit zu verlassen? Ich nahm an einer Stelle fünf der kurzen, sechseckigen Bleistifte mit und erinnerte mich unmittelbar an einen IKEA-Ausflug in meiner Kindheit, bei dem ich mir die Taschen damit geizig vollgepackt hatte.

Wir liefen weiter und vor uns fiel ein Glas herunter. Ein Mitarbeiter mit hellgelben Hemd kam vorbei und kehrte dieses auf. Der Kunde, der es fallen gelassen hatte, scherte sich darum kaum, obwohl es offensichtlich ziemlich dumm ist, in einem Einkaufswagen acht Gläser übereinander zu stapeln. Aber ist ja egal: Massenwaren. Wir entdeckten eine Abteilung mit Kerzen und sahen sie uns an. Da gab es grüne Kerzen und rosa Kerzen und rote Kerzen. Doch wo waren die blauen? Also suchten wir blaue Kerzen und geriete in Duftwolken, wie sie direkt an die Chemiefabrik erinnern. Auch toll, so an den Produktionsprozess erinnert zu werden.

Dann all die Plastikboxen, von denen meine Schwester eigentlich welche kaufen wollten. Wer braucht sie? Doch weil IKEA damit rechnet, dass seine Kund*innen nicht so klug sind beziehungsweise keine Zeit haben, ihre Gehirnkapazitäten für Details zu verschwenden, erhält man dankenswerterweise überall mehr oder weniger suggestive Hinweise darauf, wofür und wieso man einen bestimmten Gegenstand braucht. Die Plastikboxen beispielsweise beenden das „Chaos“, steht auf einem Schild. Alles in die Box – und aufgeräumt ist. Weil sie durchsichtig sind, siehst du ja trotzdem, was drin ist. Das gibt Sinn. Da hat jemand drüber nachgedacht. Das ist praktisch. Danke für den Hinweis darauf, das die Sonne tags am Himmel steht, ein Tisch zum Abstellen von Dingen dient und ich mich auf mein Konsumenten-Dasein reduzieren und nicht zu viele blöde Fragen stellen soll. Heimlich dachte ich aber in diesem Zusammenhang an den Spruch, welchen jemand an die Klotür in einem autonomen Raum geschrieben hatte: „We are all victims of the plastic world“. – So fehl am Platz ich mich in dieser Fake-Welt auch fühlen mag, der Dominanz in der Lebenswelt eines großen Teils der Menschen kann ich mich nicht wirklich entziehen, selbst wenn ich hier nichts einkaufe.

Scheiße, war das alles viel. Der Kleine kackte ab. Also nicht direkt in die Windel, ich meine energetisch. Als zum vierten oder fünften Mal Kuschelwölfe und -katzen an uns vorbeizogen und er nur noch reflexhaft auf sie reagieren konnte, die müden Augen angestrengt offen haltend, nahm ich ihn auf die Schultern, damit wir noch ein paar Meter vorankamen.