Wahlen – ein gewohnt-befremdliches Spektakel

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Vielleicht ist es der einen oder anderen Person aufgefallen. Draußen in der Welt bahnt sich ein Ereignis an, um welches gerade viel Wirbel gemacht wird. Nein, ich meine nicht den Protest gegen die Klassengesellschaft und der Beginn der Umverteilung des gesellschaftlich produzierten Reichtums, auch nicht den konsequenten Umschwung in der ökologisch zerstörerische Wirtschafts- und Lebensweise oder die Entstehung selbstverwalteter föderierter kommunalistischer Gegenstrukturen.

Was ich meine sind die Bundestagswahlen. Alle Jahre wieder, so heißt es ja. Alle Jahre wieder ein Kreuz machen und seine Stimme abgeben – im doppelten Sinne. Die anarchistische Grundsatzkritik an der repräsentativen Demokratie und dem Wahlvorgang ist weithin bekannt: Wahlen entfremden und entmündigen, Repräsentanten verselbständigen sich und Mehrheitsentscheide stellen sich bei näherer Betrachtung oftmals als von privilegierten Minderheiten gesteuert heraus, werden aber dennoch gesetzlich durchgesetzt.

Mit den Wahlen wird die Illusion einer echten Partizipation genährt, die so faktisch nicht vorhanden ist. Darüber hinaus können politische Parteien aus strukturellen Gründen nicht an die ökonomische Macht der Besitzenden heranreichen. Dass es schlimmeres gibt als die bestehende politische Herrschaftsform, ist dabei selbsterklärend. Ebenso wie die Tatsache, dass es zumindest für Staatsbürger*innen durchaus die Möglichkeit der Partizipation gibt – bzw. jene, vieles andere zu schaffen, ohne, dass sie direkt kriminalisiert werden. Sprich, eine bestimmte Gesellschaftsform und Herrschaftsordnung kann Wege zum libertären Sozialismus versperren oder in Ansätzen ermöglichen – dass sie eingeschlagen werden, ist kein Selbstläufer, sondern eine Frage von Organisation, Bewusstseinsbildung und, ja, auch der Willensentscheidung.

Der Emma Goldman zugeschriebene Slogan „Wenn Wahlen etwas ändern würden, wären sie verboten“, hat in jedem Fall seine Berechtigung. Und dennoch verfolge ich selbst, mangels Begeisterung für sportliche Wettkämpfe, immer wieder die Wahlumfragen. Und dahingehend muss ich überrascht feststellen, dass meine Aussage, dass es ohnehin zu einer schwarz-grünen Bundesregierung kommen würde, sich als falsche Behauptung herausgestellt hat. Seit dem ich das herausposaunt habe, hat sich offenbar noch einiges getan, mit Skandalen und Wählerschaftsmobilisierungen, möglicherweise auch wiederum mit der erstarken Hoffnung darauf, dass irgendwas mal wieder anders wird, in dem Moment, wo die Vormachtsstellung der CDU tatsächlich ins Wanken gekommen ist.

Was mir wichtig ist: Ich habe meine Prinzipien, bin aber anti-fundamentalistisch eingestellt. Ich möchte mich in fortwährend in Frage stellen lassen. Deswegen war ich beispielsweise bei einer Rede von Olaf Scholz, dem alten G20-Protest-Zerschmetterer und Bonzen-Stiefel-Lecker. Früher habe ich mal Sozialdemokraten (= Die Linke) gewählt. Den neoliberalen Reformern (SPD) kann ich dagegen doch nichts abgewinnen, auch wenn mich die Kunst der Rhetorik immer wieder beeindruckt. Da war aber nicht mal sowas wie Zorn. Einfach nur Fatalismus. An grüne New Deals glaube ich nicht. Und auch dort: Viel zu viel Angebiedere an die Kreise der wirklich Mächtigen. Das ist einfach abstoßend.

Um mir nicht vorwerfen zu lassen, ich hätte mich nicht informiert, habe ich mich zumindest etwas informiert. Mensch möchte ja zumindest wissen, was einem als Bürger*in geboten wird. Daneben spiegeln politische Parteien auch gesamtgesellschaftliche Entwicklungen ab. Deswegen habe ich auch die kleineren Parteien angeschaut. Sie lassen sich in den Kategorien Satire (Die Partei), Faschisten (III. Weg, NPD), Esoteriker/Verschwörungsmythologen (Die Basis, DM), Fundi-Christen (Bündnis C), Krypto-Kommunisten (MLPD, DKP, SGP), Ökologen (V-Partei, ÖDP, Klimaliste) und Liberale (LKR, LD, Die Humanisten, Piratenpartei) sortieren. Das ist schon erst mal interessant, da es ein (wenn auch stark verzerrtes) Spiegelbild für die Organisierung verschiedener sozio-kultureller Gruppen darstellt und überhaupt auf die Pluralität von Ansichten und Meinungen, wie auch auf deren Vermischung verweist.

Gerade Volt, die paneuropäische linke Partei, stößt in meinem weiteren Umfeld auf einige Aufmerksamkeit. Ich kann ihr aber leider ebenso wenig abgewinnen, wie dem Einzelgänger Todenhöfer auf der anderen Seite des Spektrums, der jetzt alles gleich anders, anders gleich machen will. Interessiert hatte mich die Partei der Humanisten, welche in den letzten vier Jahren offenbar an Zuspruch gewonnen haben. Dies vor allem wegen ihrer philosophischen Grundlage des evolutionären Humanismus, bei dem ich viele Überschneidungen mit dem Denken Kropotkins sehe. Aber leider ist ihre Fortschrittsgläubigkeit paradoxerweise anarchronistisch; der von ihnen vertretende Transhumanismus für mich ein Schreckensbild, ein Verständnis von Klassenverhältnissen nicht vorhanden.

Also doch mal DIE PARTEI wählen? Damit wäre ich auf jeden Fall nicht allein, denn sie erhielt zuletzt 1% der abgegebenen Stimmen und damit knapp weniger als die „freien Wähler“, 2,5 mal mehr als NPD und Piratenpartei, 3 mal so viele wie die ÖDP. Das ist schon beachtlich.

Wenn es mit der Identifizierung aufgrund der ausgeprägten Anspruchshaltung scheitert, dann gibt es immer noch verschiedene Möglichkeiten, mit dem Ereignis umzugehen. Es muss nicht allein die Wahl des geringsten Übels oder die fanatische Unterstützung einer Partei sein, sonder glücklicherweise denken viele Leute, machen sich eben so ihre Gedanken. Und dann flackert dann doch auch bei mir kurz der Gedanke auf: Könnte es eine sozial-revolutionäre Partei geben, die meinen Vorstellungen entspricht? Schnell lasse ich diese Idee aus verschiedenen Gründen wieder fallen. So oder so aber bräuchte es die Benennung und Ausformulierung eines libertär-sozialistischen Projektes. Und zwar nicht als blumige Absichtserklärung oder Versprechungen ins Blaue hinein, sondern anknüpfend, bei den emanzipatorischen Alternativen, die da sind und ausgehend von deren konkreten Erfahrungen usw…

Doch diese Überlegung führt wohl wiederum zum Grundproblem zurück. Es liegt doch nicht an den politischen Parteien oder die Inhalte ihrer Programme, die mich mehr oder weniger ansprechen, die ich von meiner gesellschaftlichen Position aus als Verbündete, Kontrahent*innen oder Feind*innen wahrnehme. Auch aus anarchistischer Perspektive kann man argumentieren, dass es Unterschiede für emanzipatorische Bestrebungen macht, welche Regierung zu Stande kommt oder wie stark die jeweiligen Parteien vertreten sind.

Doch das ist nicht der Punkt. Das Problem liegt in der Form der Politik selbst. Und interessanterweise sind Anarchist*innen keineswegs allein damit, hier eine Kritik zu formulieren – die von einer diametral anderen Richtung kommt, als etwa jene der Faschisten. Abseits des Wahlspektakels wäre es auch gesamtgesellschaftlich wichtig, die Form der Politik als solche zu kritisieren, um daraufhin ihre Einbettung in die spezifisch-historische Herrschaftsordnung zu problematisieren, Illusionen zu beseitigen und damit Menschen zum Mitwirken am Aufbau einer freiheitlichen, solidarischen und egalitären Gesellschaft zu begeistern.