Freiheit und Gesetz

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Vom Luxus der Freiheit, sich der Beschäftigung mit dem Gesetz entziehen zu können

Trotz aller gefühlter und realer Zwänge, aller verinnerlichten und geschichtlich eingeschriebenen Zwänge, bin ich in einem selten freien Zustand für einen zeitgenössischen Menschen. Meine Situation in Westeuropa zu leben, in einem wohlhabenden Land, ist ein Privileg – nicht die Freiheit, welche ich meine. Nein, ich bin in der luxuriösen Situation, mich so wenig wie irgendwie möglich, mit gesetzlichen und bürokratischen Abläufen befassen zu müssen.

Ich habe kein Geschäft zu führen, keine Firmengründung zu planen und keine Steuererklärungen zu schreiben. Ich habe keine Gerichtsverfahren am Laufen, keine Ansprüche auf medizinische oder pflegende Dienstleistungen geltend zu machen und keine Fahrzeugpapiere zusammen zu halten. Ich muss weder einen Nachlass verwalten, noch Prüfungen ablegen oder religiöse Vorschriften einhalten. Vor allem muss ich nicht bürokratisch-juristisch um ein Bleiberecht in diesem Land kämpfen, sondern es wurde mir durch meine Geburt verliehen. Die Nummer, welche mir kurz nach meiner Geburt eingebrannt wurde, hatte die richtige Kennung. Wie absurd. Trotz gelegentlicher Einsamkeit kann ich es mir dennoch leisten, mich nicht den sozialen Regeln einer festgefügten und hierarchischen Gemeinschaft unterzuordnen. Wenn ich unter der mir – meiner Wahrnehmung nach zu zwei Dritteln – völlig sinnloserweise auferlegten bürokratischen Anforderungen stöhne, so ist das doch vergleichsweise ein Jammern auf hohem Niveau.

Ich habe momentan den Luxus, dass mir die bürokratische Herrschaft nicht direkt mein Existenzrecht abstreitet, dass ich hier nicht verhungern werde, nicht ohne Obdach und medizinischer Grundversorgung sein werde. Für die Lohnarbeit bin ich kaum verwertbar, habe aber dennoch gelernt und mir bewahrt, einen Existenzsinn und Bestrebungen jenseits gesellschaftlicher Konventionen und Leistungsvorstellungen zu suchen. Als Angehöriger der akademischen Reservearmee lebe ich täglich einen langweiligen Materialismus und flüchte ich mich gelegentlich in romantisierte Scheinwelten mit bohèmistischen Anklängen. Ich bin relativ arm und werde als Klient des Sozialstaates verwaltet.

Vermutlich existieren einige Krankenkassenordner und Informationen bei der Bank über mich. Wenn ich Pech habe, interessieren sich auch Verfassungsschutzbehörden für mich. So dient meine bloße Existenz in der Gegenwartsgesellschaft als Staatsbürger dazu, bürokratische Informationen zu produzieren. Manche von ihnen könnten irgendwann gegen mich verwendet werden und zu meiner Disziplinierung dienen. Andere würden dazu beitragen, mich als Lohnarbeiter zu verwerten, wenn die Zeit denn heran wäre. Bis dahin heißt es ab und zu Anträge ausfüllen und Nachweise erbringen – aber halt so wenig wie möglich davon. Ich habe den Luxus der Freiheit mich der Beschäftigung mit dem Gesetz entziehen zu können. Im Vergleich zu einem großen Teil meiner Mitmenschen zumindest. Im Grunde genommen stehe ich damit nahe an einem Ideal der bürgerlichen Gesellschaft – als Staatsbürger*in von der Obrigkeit halbwegs in Ruhe gelassen zu werden. Doch dieser Zustand ist auch für mich fragil.