Vom Gestörtsein

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Es ist nicht so, dass ich damit hausieren gehe. Auch nicht, dass ich es nötig hätte, das allen möglichen Leute auf die Nase zu binden. Diejenigen, die mich kennen, wissen ohnehin darum. Jene, die mich kennenlernen werden es bald erfahren. Vermutlich kommen sie mit mir auch nur in näheren Kontakt, weil sie ein Grundempfinden teilen oder nachvollziehen können. Jene, die mich nicht kennen und mir begegnen, zeigen sich bald irritiert – Was ich ihnen nicht übel nehme, denn nur selten überhaupt habe ich um die Sympathie von irgendwem gebuhlt.

Worum es geht, ist das Gestörtsein. Ich kam zuletzt darauf zu sprechen, weil der Wahnsinn in dieser Gesellschaft offensichtlich um sich greift und zu Tage tritt in Form von Leuten, die meinen, nun plötzlich zu denken. Von einem rationalen Standpunkt her betrachtet, liegt ihr Denken – wenn man die Struktur betrachtet und ansieht, worauf es hinausläuft – durchaus quer. In der Konsequenz ist es irrationalistisch, von diffusen und unverarbeiteten Ängsten und Gefühlen der Herabsetzung geleitet, es ist antidemokratisch, anti-modern und reaktionär. Damit bietet das populäre quer-denken die besten Anknüpfungspunkte für den Faschismus. In vielerlei Hinsicht tritt also eine konformistische Revolte zu Tage, die in Dunkeldeutschland nichts Neues ist.

Wir jedenfalls stellten in der kleinen Runde fest, dass unser Gestörtsein uns grundlegend resistent gegen diesen Wahnsinn macht. Dazu müssen verschiedene Faktoren zusammen kommen: Erstens, das Vertrauen in faktenbasiertes Wissen, zweitens, Erfahrungen mit der Widersprüchlichkeit und den Affekten von Menschen, drittens, der Wille, trotz Ohnmachtserfahrungen aufrecht zu sein und für etwas ethisch Gutes handeln zu wollen – sprich: eine solide Wertebasis -, sowie, viertens, eine selbstreflexive Haltung, die sich der eigenen Störungen bewusst ist. Paradoxerweise sind es ebenjene tief verankerten Standpunkte, welche zur Störung führen, denn sie beißen sich mit den Alltagserfahrungen und Grundlagen einer herrschaftsförmigen Gesellschaft.

So werden beispielsweise trotz rationalem Wissen über den Tod und Zerstörung bringenden Kapitalismus, dessen Effekte geleugnet, weggeredet und ignoriert. Der Glaube, dass aktuelle Wirtschaftssystem könne entweder effektiv staatlich reguliert werden oder würde aus sich selbst heraus, Innovationen hervorbringen, die seine „Nebenfolgen“ lindern (und quasi auch neue Quellen des Reichtums erschließen) würden, zeugt von kollektivem Wahn. Dieser wird durch die Propaganda handfester Klasseninteressen befördert, darüber hinaus jedoch auch krampfhaft umarmt, um den Tatsachen nicht ins Auge blicken zu müssen.

Was die Menschenkenntnis angeht, muss bedauerlicherweise festgehalten werden, dass viele Menschen offensichtlich äußerst infantile Denk- und Verhaltensmuster an den Tag legen. Auch diese werden von einem gängelnden, kümmernden Staat, wie auch von kapitalistischen Konsuminteressen befördert, wobei sie nicht darauf zu reduzieren sind. Infantil ist die Vorstellung vieler Menschen, dass der unbekannte oder auch bekannte Nebenmensch mir grundsätzlich Böses will und dieses Böse ausüben würde, wenn ich ihn zu Nahe an mich ran ließe. Massive Gewalterfahrungen, die bis in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges zurückreichen, haben sich schlecht bearbeitet in die Psyche der gegenwärtig Lebenden eingeschrieben. Herrschaft ist hierbei die Ursache allen Übels. In Verhaltensweisen und dem Umgang in sozialen Beziehungen, in der Positionierung in einer sozialen Gruppen und dem Konsumverhalten, kommt bei einer Vielzahl von Personen deren fragile Persönlichkeitsstruktur zum Ausdruck. Die meisten von ihnen haben einen festen Job, führen eine Partnerschaft, haben vielleicht Kinder und werden gesellschaftlich anerkannt.

Auch eine gereifte ethische Lebensweise scheint bei vielen Menschen nur ungenügend ausgebildet zu sein. Die spießigen Biomarkt-Einkäufer – um ein Klischee zu bedienen – sind gerade Ausdruck des Problems, genauso wie die sich vor prestigeträchtigen Wahrzeichen fotografierenden Weltreisenden oder die Ballermann-Trottel. Ethische Standpunkte, die aus eigenen Auseinandersetzungen mit der Welt eingenommen wurden, als auch Überzeugungen, deren Geschichte und Entstehungskontext mitgedacht wird, fehlen mir oftmals. Dies würde auch ein Bewusstsein darüber voraussetzen, dass jene überhaupt relativ sind und sich daher zwangsläufig unterscheiden, anstatt anzunehmen, was gut, richtig, schlecht und falsch sei, wäre quasi „innerlich erkennbar“ beziehungsweise ohnehin selbstverständlich.

Schließlich das Bewusstsein über die eigene Störung und die Reflexion darüber. Eine Freundin meines Bruders sagte zu mir – ich muss so 15 oder 16 gewesen sein – das ich nicht „gesellschaftsfähig“ sei. Warum mir diese einzelne Aussage in Erinnerung geblieben ist, hat denke ich zwei Gründe. Einerseits wird darin die Grenzziehung der bürgerlichen Gesellschaft eindeutig, welche sich in ihrer Leerheit und Armut nur definieren kann, indem sie Subjekte aus ihr ausschließt: Die „Assis“, „Schmarotzer“ und „Zecken“, „Schwuchteln“, „Lesben“ und queeren Personen. Davor aber noch die Ausländer, also die „Neger“, „Bimbos“, „Fidschis“, „Schlitzaugen“, „Russen“ und „Gauchos“. Die finstere Macht dahinter seien aber: „die Juden“. Leider sind diese Muster der sozialen Hierarchisierung, insbesondere in den Formen des Sozialchauvismus, Sexismus und Rassismus, allzu bekannt und wirksam.

Andererseits steht hinter der Zuschreibung meiner „Gesellschaftsunfähigkeit“ die Benennung meiner grundlegenden Unfähigkeit in diesen Kategorien zu denken und mitzuspielen. Sie ist eine Art Behinderung, denn sie hinderte mich allzu oft daran, sozial anerkannt zu werden, führten also effektiv zu Ausschlüssen, die sich jedoch in ein Grundgefühl der Ausgeschlossenheit sedimentierten. Darin allerdings steckt die positive Bejahung dieser Position, als Voraussetzung ihrer mehr oder weniger bewussten Gestaltung. Die Resistenz gegen die verschiedenen Formen gesellschaftlicher Hierarchisierung und Ausgrenzung ist zweifellos nicht einmal gegeben. Ich meine damit etwa nicht, dass ich vollkommen frei von sexistischen Denk- oder Verhaltensweisen wäre. Wie sollte ich es auch sein? Worum es geht, ist die Bewusstsein der eigenen Störung und die Reflexion darüber.

Mein Prozess des Herausfallen und Auseinandersetzens war ein langer Weg, der mich zum jetzigen Punkte gebracht hat. Ich hoffe sehr, dass ich ihn auch weitergehen kann und bin gespannt, wohin er mich führt. Auch in früheren Jahren schon konnte ich der Erfahrung meines Andersseins oftmals positive Aspekte abgewinnen und streichle mein Ego damit, dass ich dies nicht durch die Abwertung anderer getan habe. Zugleich verfiel ich allerdings gerade daher in grundlegende Antireflexe, die mir zwar verständlich sind, mich in vielerlei Hinsicht jedoch stärker blockierten, anstatt mich weiter zu bringen. Heute hingegen kann ich überwiegend dazu stehen, freudig bekennen und bejahen: Ja, ich bin gestört. Mein rationales Weltverständnis wird gestört durch die Irrationalität der ökonomischen und politischen Herrschaftsordnung. Meine Menschenkenntnis wird gestört durch die Infantilität und die Instabilität der Persönlichkeitsstrukturen von Leuten, die da draußen rumlaufen und deren Reaktionen damit wiederum umzugehen. Mögen die einen Esoteriker sein und die anderen Businessman im Anzug – sie stören mich. Sowohl als Gruppe, als auch als Einzelne. Mich stört ferner die Standpunktlosigkeit, Schwammigkeit und Idiotie von Leuten, die ganz genau wissen, wie die Dinge nun mal liegen, die davon überzeugt sind, dass ihre elendige Meinung die Wahrheit sein muss, die kaum Ahnung haben, aber sagen, wie es nun mal sei. Schließlich stört mich die Unfähigkeit der vielen, ihre eigene Gestörtheit einzusehen, zu begreifen, wie sie unter den Bedingungen der vorhandenen Herrschaftsverhältnisse entsteht, was die Voraussetzung dafür wäre, sich zu befreien, indem etwas anderes realisiert werden würde.

Ja, ich weiß, diese Zeilen klingen arrogant. Sie mögen für sich genommen wirken, wie ein erneuter Abwehrreflex, wie wir sie ja schon kennen. Nichts Neues, sondern Langweiliges im Grunde genommen. Wenn ich an dieser Stelle so allgemein formuliere, dann, um eine Perspektive deutlich zu machen, nicht, um Menschen abzuwerten oder ihnen abzusprechen, sich doch mit diesen Themen auf ihre Weisen auseinander zu setzen.

Wonach ich mich nur sehne, was mir selbst Kraft geben und mir Heilung sein würde, wäre, wenn immer mehr Menschen zurück störten, wenn sie tatsächlich den alltäglichen Vollzug der herrschenden Ordnung stören und stattdessen andere Verhältnisse eingehen würden. Dann – so denke ich mir – würde ich mich selbst weit weniger gestört und dies hier überhaupt beschreiben müssen. Wir könnten dann die Dinge gemeinsam ver-rücken.