
Vor einer Weile erhielt ich einen wütenden Text, welcher sich gegen mich richtete und mit welchem ich vermeintlich polemisch angegriffen wurde. Da diese Diffamierung gegen mich vermutlich ohnehin irgendwo in Textform zirkulieren wird, habe ich mich entschieden, ihr zumindest an dieser Stelle entgegenzutreten.
Weil meine Antwort leider wieder mal sehr lang ausgefallen ist, werde ich diese ungefähr wöchentlich nach und nach in sieben Teilen veröffentlichen. [#1], [#2] Meine Kritik geht dabei über den Ursprungstext Ein Psychogramm des post-bürgerlichen Individuums und seiner alter egos weit hinaus, um auf dahinter liegende Themen zu sprechen zu kommen.
Ansonsten ist mir schon klar, dass derartige Auseinandersetzungen letztendlich nur eine handvoll Personen interessieren. Die Zeit und Nerven wären bei vielen Tätigkeiten weit sinnvoller eingesetzt. Insofern sind meine Entgegnungen als unabgeschlossene Selbstreflexionen zu verstehen, nach denen ich mich wieder Wichtigerem zuwende. Auf Vorschlag meines Kontrahenten nenne ich diesen „Frankensteins Monster“, kurz „Framo“.
Die Argumentation von Framo ist nicht zielführend, weil sie die Absurdität einer Position offenbart, welche zombiehaft ist. Der Nihilismus mag eine philosophisch interessante Denkweise sein, offenbart sich in der Lebensrealität jedoch als Absurdität, die es zu hinterfragen gilt. Insofern ist er einer unter verschiedenen Ausgangspunkten für den Anarchismus – stellt zugleich aber auch sein Verfallsstadium dar.
Bakunin hatte Recht damit, wenn er in seiner hegelianischen Frühphase argumentierte, dass sich das oppositionelle („demokratische“) Lager nur in der Negation des „positiven“ („konservativen“) Lagers definieren könnte. Die Negation des Bestehenden schließt damit den Verweis auf die libertär-sozialistische Gesellschaftsform – welche es fortwährend zu anarchisieren gilt – in sich ein. Gleiches zeigt sich beim Wort „Protest“. Im Protest gegen eine etwas (der Abbau von sozialen Rechten, Faschismus, Atomkraftwerken, 5G-Funkmasten usw.) wird zugleich ausgedrückt, wofür ein spezifisches Projekt steht; was es realisieren will.
Anarchist*innen gehen dabei über Demokrat*innen hinaus, weil sie sich nicht als Opposition verstehen und formieren, welche danach trachtet, an anderer Stelle und bei Gelegenheit, ihre Vorstellung um- und durchzusetzen. Vielmehr verstehen sie sich als Antagonist*innen, welche sich für grundlegend andere Verhältnisse, Formen und Inhalte engagieren.
Der insurrektionalistische Anarchismus geht von einer gesellschaftlichen Spaltung aus, welche von einer passiven Gespaltenheit durch die Herrschaftsordnung in eine aktive Sezession zur Überwindung der herrschaftsförmigen gesellschaftlichen Verhältnisse gelangen will. Gleiches gilt jedoch auch für alle individualistische, mutualistische, kommunistische, syndikalistische und kommunitaristische Ausprägungen des Anarchismus, welche alle nach Autonomie streben. Im Unterschied zu diesen lehnt der insurrektionalistische Anarchismus (meiner Wahrnehmung nach) die Konstruktion ab und verschanzt sich in der reinen Negation der Herrschaftsordnung. Und darin hat er gute Gründe, müssen Großentwürfe und Meta-Narrative, welchen kommunistische Anarchist*innen anhängen doch einer grundlegenden Kritik unterzogen und skeptisch beäugt werden.
Zugleich aber – und ja, das ist ein Paradox – können wir es uns mittlerweile gar nicht mehr leisten, in Kategorien einer reinen Negation zu denken. Wir können es uns nicht leisten, dass Bestehende nur anzugreifen und/oder abbauen zu wollen, ohne im selben Zuge Visionen davon zu skizzieren und Beispiele dafür zu geben, wie die Dinge tatsächlich anders werden können. Wir sind bereits durch jenen Nullpunkt gegangen, an welchem man bornierterweise auf die „Gesamtscheiße“ schimpfen und an die marxistische Fiktion „der befreiten Gesellschaft“ glauben konnte. Die anarchistischen Szenen im 21. Jahrhundert tun sich keinen Gefallen, wenn sie an derartig pseudo-radikalen Phraseologien festzuhalten. – Vielmehr stünde an, sich als selbstbestimmte und selbst-bewusste Akteur*innen zu positionieren, welche das Geschehen um sie herum aktiv gestalten.
Die Logik der Feindschaft hat sich in einigen selbstbezüglichen Ausprägungen des Anarchismus verselbständigt. Und traurig-ironischer Weise wirkt sie darin überhaupt nicht mehr konfrontativ, sondern lediglich selbstzerstörerisch. Sie sucht keine Bündnisse, mit jenen, die unter Herrschaft leiden, sondern lediglich Anhänger*innen ihrer sektiererischen Ideologie, welche sich gegenseitig in ihrer vermeintlichen Konsequenz „gegen jede Herrschaft“ zu sein, selbst bestätigen. So zielt Framo auf Spaltung, statt auf die Herstellung von Schnittpunkten und gemeinsamen Kämpfen, wo sie Sinn ergeben. Dahinter steckt nicht weniger als die patriarchale Selbstüberschätzung der eigenen Position, welche alle anderen anerkennen und akzeptieren müssten – statt eine Haltung auf gleichberechtigter Ebene in einen Austausch auf Augenhöhe gehen zu wollen.
Die Rhetorik und Form von Framos Beitrag zeigt mustergültig, dass es sich keinerlei inhaltlicher Debatte stellen will, sondern vorrangig auf die persönliche Diskreditierung der von ihm ausgemachten Feind*innen im eigenen Lager ausrichtet. Diese Herangehensweise ist weder konsequent noch radikal, sondern armselig.
Schließlich sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Framo nicht in der Lage ist, Theorie und Ideologie voneinander zu unterscheiden. Denn erstere wird von ihm letzterer vollständig unterworfen, wie es auch bei Lenin oder faschistischen Denker*innen der Fall ist. Die Theorie dient der Rechtfertigung eines hermetisch abgeschlossenen Weltbildes, von welchem keine Abweichung geduldet wird, weil jene die eigene Identität des Ausgestoßenen gefährden würde. Abgesehen davon, dass man sich diese erst einmal leisten können muss (da viele sich durchaus nicht damit beschäftigen, wie sie „das“ System angreifen oder überwinden können, sondern damit, wie sie über die Woche kommen), ist diese Herangehensweise auch eminent anti-emanzipatorisch.
Mit ihr wird Theorie nicht als Werkzeug verstanden, welches es zu erklären und zugänglich zu machen gilt, damit Menschen ihre Situationen begreifen und verändern können. Stattdessen wird sie als Instrument missbraucht, um vermittels des eigenen Rachebedürfnisses, die eigenen Sichtweisen anderen aufzunötigen. Selbstredend kann nicht davon die Rede sein, dass Theorie „ideologiefrei“ sein könnte, denn wir alle anderen Sphären ist sie von Ideologien durchzogen. Ein emanzipatorischer Umgang liegt deswegen darin, ihre Ausgangspunkte transparent zu machen, sie zu relativieren, Widerspruch zuzulassen und zu ihrer kollektiven Gestaltung einzuladen.