Trostpreis für die ostdeutsche Transformation

Lesedauer: 11 Minuten

Mein für den Eos-Preis der HARP eingereichter Text zum linken Geschichtsverständnis nach 1989 aus philosophischer Perspektive, kam leider nicht in die Auswahl der besten drei. SCHADE! Aber gut, ich bin auch kein Philosoph, zugegeben. Ich denke, er ist dennoch lesenswert und dabei durchaus subjektiv.

Gestern erschienen auf dem Blog der HARP bzw. unter Texte.

Vom Loslassen der Kadaver, dem Begreifen von (Un)Gleichzeitigkeiten und dem Entwurf eines emanzipatorischen Meta-Narrativs

von Jonathan Eibisch

Einige haben vermutet, dass mit dem scheinbaren Triumph von Liberalismus und Kapitalismus diese Geschichte [von Befreiung] nun am Ende ist. Doch das ist unwahrscheinlich. Trotz geringer Beachtung […] kämpfen Millionen von Menschen jeden Tag darum, sich aus der Unterdrückung zu befreien und gleiche Rechte und soziale Gerechtigkeit zu erlangen. Diese Bemühungen werden jedoch häufig von Beobachtern […] als unerklärliche Handlungen verängstigter und verwirrter Menschen (miss-)gedeutet […]. [O]bwohl der liberaldemokratische Kapitalismus weiterhin die Vorstellungen davon prägt, was möglich ist, sollten wir nicht zulassen, dass er die Interessen und Sehnsüchte derjenigen verschleiert und verdeckt, die von ihm marginalisiert und ausgegrenzt werden.“ (Eric Selbin)1

Revolutionäres Aufbegehren und die Konstruktion neuer gesellschaftlicher Institutionen und Beziehungen entstehen aus der Sehnsucht nach einem gelingenden, abgesicherten, selbstgestalteten Leben, dessen Verwirklichungsbedingungen der sozialistischen Grundintention nach für alle Menschen gegeben sein sollen. In diesem Essay spekuliere ich darauf, in einer historischen Konstellation zu leben, deren kaugummiartige Zähigkeit, sich zu einer offenkundigen Unhaltbarkeit verdichtet hat. Wenn Menschen dagegen gemeinsam feste solidarische Verbindungen erschaffen, eröffnen sie auch einen common ground der Verständigung hin zu neuen Horizonten. Indem sie solche Entwürfe wagen, ermächtigen sie sich zugleich ganz praktisch und alltäglich. Sie entwickeln den Anspruch, die bestehende Herrschaftsordnung zu überwinden.

Die soziale Revolution gelangt als Verdrängtes wieder in den Nebel unserer Träume – weit klarer als ein ahistorischer „Schleier des Nichtwissens“, der über die Engstirnigkeit liberalen Denkens nie hinaus gelangen kann. Es gilt jene hervor quellenden Bestrebungen in Austausch zu bringen, ins Handeln zu kommen und sie zu einem von vielen geteilten neuen Meta-Narrativ zu verdichten. Auch in Folge der im Jahr 1989 kulminierenden Ereignisse, lautet der Name dieses leeren Signifikanten libertärer Sozialismus. Die Einzelne können ein selbstbestimmtes Leben in Beziehung zu den Anderen führen, wenn sie über ihre Lebensumstände kollektiv verfügen. Und wenn sie die zerstörerische Produktions- und Lebensweisen, in denen wir heute verhaftet sind, hinter sich gelassen haben. Doch während wir uns selbst überwinden, unsere Feinde bezwingen, unsere Mitmenschen überzeugen und begeistern, verändern wir uns selbst wie auch unsere Ziele, an denen wir uns ausrichten: Die lebens- und erstrebenswerte Zukunft wird weit langweiliger, ruhiger und anstrengender sein, als wir uns Hier und Jetzt vorstellen.

Aufbrechen verlangt loszulassen

In der Ausschreibung zum Wettbewerb provozierte ein Leipziger Pamphletist mit der Aussage: „Eine wirkliche Erneuerung der Linken in Gesamtdeutschland kann nur erfolgreich sein, wenn sie nicht nur, wie die Westlinke, das Erbe von 1968 antritt, sondern auch das Erbe des einzigen sozialistischen Staates auf deutschem Boden sowie der letzten sozialistischen Revolution auf deutschem Boden“. Dagegen bin ich der Ansicht, dass sich emanzipatorische Kräfte nur auf eine Art auf den „einzigen sozialistischen Staat auf deutschem Boden“ beziehen können: Durch Kritik an ihm und Abgrenzung von ihm.

Es gilt kein Erbe anzutreten. Doch man muss die Geschichte kennen, um es ausschlagen zu können.2 Im ersten Fall, weil 68 größer geredet wird, als es war und abgesehen davon mit dem Prager Frühling auch im Osten stattfand. Im zweiten, weil das nicht „unser“ bornierter Nationalstaat war. Und im dritten, weil die gesellschaftliche Situation der revolutionären Phase 1917-1923 zu verschieden ist, um einen sinnvollen Vergleich mit der heutigen anstellen zu können. Die Benennung einer „Linken“ in „Gesamtdeutschland“ verdeutlicht zudem die Fantasielosigkeit des Pamphletisten, der mit dieser Formulierung stellvertretend für diese zum Ausdruck bringt, wie stark sie im gesetzten Rahmen verhaftet bleibt und diesen nicht von seiner Überwindung her denkt. Dies ist problematisch, weil wir ausziehen und losgehen müssen, um uns selbst bestimmen zu können. Erst wenn endlich Schluss ist mit dem allzudeutschen Staatsfetischismus, werden wir erkennen, welche Konzepte es noch gibt, um das Gesellschaftliche anzuordnen. Viele davon, wie eine selbstverwaltete Produktion, ein Rätesystem, ein libertäres und kommunitäres Gemeinschaftsgefühl und die Vielfalt selbstbestimmter Subjekt- und Lebensformen, sind dabei keineswegs neu, sondern aus historischen Erfahrungen in den Auseinandersetzungen von Menschen in sozialen Bewegungen gewachsen.

Es wäre vermessen beschreiben zu wollen, wie eine linke Geschichtsphilosophie nach 1989 heute generell aussehen müsste, könnte, sollte. Stattdessen formuliere ich an dieser Stelle ein bestimmtes Interpretationsangebot. Diese Herangehensweise ist Ausdruck eines selbstreflexiven Verständnisses von Zeitlichkeit, die nicht als teleologische Entwicklung, sondern als gebrochener und verschlungener Pfad gedacht wird. An Sicherheiten und Gewissheiten fehlt es hier weitgehend. Damit wird keineswegs jeder Wahrheitsanspruch aufgegeben oder jedes Kriterium für emanzipatorisches Fortschreiten fallen gelassen. Deswegen brauchen wir nicht in die Falle eines resignierten Relativismus zu tappen. Unsere Annahmen und Vorhaben sind jedoch besser und nicht endgültig zu begründen.

Das Zeitalter der Blockkonfrontation und seine Implosion

Im Machtvakuum des Umbruchjahres 1989, dem „Jahr der Anarchie“3, trat das Verdrängte der homogenen und verkrusteten Gesellschaft auf dem Territorium des DDR-Staates wieder sichtbar ans Licht: Da gab es Neonazis, linke Oppositionelle, Männerbünde, Alternative, Christen und Punks. Es gab auch einen grassierenden Alkoholismus, als Ausdruck von tiefgreifenden Mangelerfahrungen. Mit diesen im Hintergrund fielen den Ex-DDR-Bürger*innen dann vor den übervollen Kaufhausregalen fast die Augen raus. Verdrängt wurde ebenso die Frage nach einem Gesellschaftssystem, jenseits von demokratischem Kapitalismus und realem Staatssozialismus, die jeweils nicht nur aufgrund äußeren Drucks, sondern gemessen an ihren eigenen Ansprüchen gescheitert sind bzw. scheitern werden. Zumal beide als historisch überlegende Gesellschaftssysteme verstanden und angepriesen wurden – eine Vorstellung, die sich heute überlebt hat, wenngleich die Botschaft noch nicht zu allen vorgedrungen ist.

Statt der irrwitzigen Annahme, sich jeweils auf einem sicheren Weg zum „Ende der Geschichte“ zu wähnen, steht das Jahr 1989 für das neue Aufbrechen selbst gestalteter Geschichten.4 Umgekehrt dient der Mythos der sogenannten „friedlichen Revolution“ zur Behauptung ihres Endes, wobei er maßgeblich von der hegemonialen Geschichtsschreibung produziert, jedoch auch von damaligen politischen Dissidenten propagiert wird, die damit versuchen ihr Engagement zu würdigen5. Ja, es stimmt: Geschichte wird maßgeblich von Siegern geschrieben. Die Unterlegenen müssen ihre hingegen in akribischer Arbeit selbst aufschreiben und oft für unabsehbare Zeiten aufbewahren. Auch in diesem Sinne hat der kapitalistische Staat über den Staatskapitalismus – seinen ganzen militärisch-industriellen Komplex aufbietend – gesiegt. Und Letzterer selbst dazu beigetragen, sich das eigene Grab zu schaufeln.

Für emanzipatorische Sozialist*innen heute festzuhalten ist: Die DDR war nicht die bessere Herrschaftsordnung und die Sowjetunion nicht das bessere Gesellschaftssystem. Hier Vergleiche anzustellen, Wertungen im Rahmen der binären Polarisierung der Weltordnung vorzunehmen, eröffnet keine neuen Erzählungen. Damit werden lediglich die alten Märchen wieder und wieder durchgekaut. Dass es durchaus vergleichsweise progressive Elemente in der DDR-Gesellschaft, beispielsweise in Hinblick auf die Gleichstellung von Frauen, die soziale Absicherung und Schulbildung gab, wird damit überhaupt nicht bestritten.

Ohnehin schien dies einem Großteil der Bevölkerung nicht so verlockend wie die Glücksversprechen der westlichen Konsum- und Selbstverwirklichungsgesellschaft. Sich einen Anteil an der kapitalistischen imperialen Lebensweise zu sichern, wird wohl durch kaum etwas stärker verkörpert, als durch die Banane. Durch die Produktionsform, die sie uns billig verfügbar macht, wird offenbar, dass Geschichte nicht linear, sondern krumm wie diese ist. Deswegen braucht es neue Geschichtsverständnisse, deren Entwicklung bereits 1982 im Song „Es geht voran“ der West-Band Fehlfarben anklang. Wohlgemerkt ist der Text ironisch gemeint und drückt im Sponti-Stil aus, dass es trotz vieler sozialer Kämpfe, keine grundlegende Geschichtsgestaltung durch linke Bewegungen gab – zumindest nicht, wenn sie in Kategorien eines überkommenen Fortschrittsverständnisses gemessen werden.

Diesen Selbstreflexionsprozess hatten ostdeutsche Progressive bis dato jedoch nicht durchmachen können, wie es ein anderes Massenprodukt der schönen neuen Welt symbolisiert: das Automobil. Als Freiheit wird verkauft, was zu neuen Zwängen und Verwerfungen führt. Die Beschleunigung der Lebensweise, die Mobilität und Flexibilität des Individualverkehrs, bringt mittelfristig desaströse Folgen mit sich: Jetleg, Unfälle, Stress, Burnout, Konkurrenz, Abgehängt-werden und abhängig-sein – während zugleich soziale Infrastruktur sukzessive stillgelegt wird.

Schließlich, das Reisen: eine grundlegend gute Sache. Bewegungsfreiheit muss für alle Menschen gelten. Ein libertärer Sozialismus zielt auf die Abschaffung des Nationalstaates ab. Damals wie heute steht fest wie der Antimilitarismus in Pink Floyds 1979 erschienenes Album „The Wall“: Die Mauern müssen weg. Jede Rechtfertigung von ihnen ist fehl am Platz. Paradoxerweise eröffnete sich den Menschen einerseits eine Welt und damit kultureller Austausch und Verständigung. Andererseits führen die massentouristischen Auslandserfahrungen nur selten zu einer Veränderung der Perspektive, weil kaum eine wirkliche Begegnung mit Anderen gesucht wird. Vergleichbar mit der Transnationalisierung der politischen Herrschaftsinstitutionen, die zu einer Reetablierung des Nationalstaates, statt zu seinem Abbau führte, kann auch das privilegierte Schweifen durch in der Regel ärmere Länder lediglich zur Bestätigung deutscher Identität führen.

Und dies war es ja, worauf die staatstragende Erzählung in Anschluss an 1989 insgesamt hinauslief: Auf das neu konstruierte nationale Selbstbewusstsein, welches – von BILD-wegen – keineswegs ohne die Abwertung der Ostdeutschen auskam. Sonst hätte der große Ausverkauf mit Treuhand und Co., wie auch die Abschiebung von C-klassigen Westbeamt*innen in ostdeutsche Landesbehörden nicht so reibungslos funktionieren können. Doch wo zusammengewachsen wird, was zusammen gehört, überrascht es auch nicht, was als Baum des Jahres 1989 gewählt wurde: Die Stileiche – auch bekannt als Sommereiche oder Deutsche Eiche.

Divergenz der historischen Erfahrungen und Ungleichzeitigkeit

So recht frei und einig fühlten sich die Ostdeutschen aber nicht. Geschichte selbst zu bestimmen, hatten sie in der monokulturellen realsozialistischen Gesellschaft kaum gelernt. Jedenfalls gab es eine ungeheure Diskrepanz im Erleben des Zusammenbruchs der DDR bei der dort ansässigen Bevölkerung, zum einen zwischen verschiedenen sozialen Milieus, zum anderen innerhalb der meisten Personen. Es handelt sich bei jener Gleichzeitigkeit in der Transformationsgesellschaft, um eine zwischen Enttäuschung und Befreiung. Dieses verwirrende kollektive Erleben wurde dann an die folgende Generation weitergeben und auf diese Weise verfremdet.

Auf der Seite der von der sogenannten Wende Enttäuschten befanden sich viele Menschen aus der vormaligen Beamtenkaste, welche sowohl materiell als auch ideologisch mit dem DDR-Regime verbunden waren. Nicht alle von ihnen konnten oder wollten sich dem neuen Staat andienen. Eine andere Gruppe von Enttäuschten bildeten jene, die ich in einem kleinen Seitenhieb auf Marx als „wahre Sozialisten“ bezeichne, weil an den Sozialismus auch in seiner gebrochenen Form geglaubt hatten. Nun war es keineswegs so, dass diese Leute – materialistisch geschult – dem Konsumkapitalismus abgeneigt waren. Als sich seine Versprechungen nicht erfüllten, wurden sie dann doppelt enttäuscht. Dies war die Geburt der „Ostalgie“, der biedermeierischen Flucht ins verklärte Alte.

Auf der anderen Seite wurde der Systemumbruch für all jene als Befreiung erlebt, die vom DDR-Staat gegängelt, eingeschüchtert und weggesperrt worden waren. Darunter waren viele, die sich eine häretische Weltanschauung bewahrt hatten. Kaum ein Lied drückt dieses Aufatmen besser aus als das evangelische Kirchenlied „Vertraut den neuen Wegen“ mit seinem 1989 entstandenen und unmittelbar viral gegangen Text. Es endet mit der Zeile: „Wer aufbricht, der kann hoffen, in Zeit und Ewigkeit. Die Tore stehen offen, das Land ist hell und weit“6. Geschichte schien sich zu öffnen und (mit)bestimmen zu lassen – auch für diejenigen, die die Monotonie der DDR-Gesellschaft, ihren Arbeitsfetisch und die Volksgemeinschaftstümelei kaum mehr aushielten, die Langhaarigen, Punks und Gammler. Und doch, wie anders wird die Öffnung und ihre antizipierten Gefahren von diesen wahrgenommen, wie beispielsweise im Song „Bundesrepublik“ der Band „Schleimkeim“ (1988)7 zum Ausdruck kommt. Nicht umsonst lautet der Titel einer Doku über Ostpunk von 2007 „Too much future“8.

Das Bezeichnende ist nun, dass Gefühle der Enttäuschung und der Befreiung in der ostdeutschen postsozialistischen Gesellschaft vermischt auftraten. Und dies führt noch 30 Jahre später, in der Generation der Nachgeborenen, zu Frustration, diffusen Verlusterfahrungen und Minderwertigkeitsgefühlen. Gleichzeitig lässt es sich nicht leugnen: Es war nicht alles schlecht im Kapitalismus! Auch wenn stalinistische Sekten die DDR bis heute fetischisieren (wobei anzumerken ist, dass Geschichtsverfälschung schon früh zur bolschewistischen Praxis gehörte).

Umgekehrt knüpft die Affirmation des Kapitalismus an die hegemoniale Narration der Heilung, Ganzwerdung und Vereinigung an. Versetzen wir uns in jene DDR-Linksoppositionellen wird die Irritation nochmals größer. Schließlich wollten sie einen „dritten Weg“ in Anschluss an die Erfahrungen des Prager Frühlings gehen. Damit nicht gemeint war jedoch der neoliberale der späteren Sozialdemokratie wie ihn Anthony Giddens formulierte9, oder jener der Faschisten, von denen eine nationalsozialistisch gefestigte Gruppierung heute ihren Namen entlehnt hat.

Um die Bedeutung des Jahres 1989 heute zu verstehen, gilt es daher die irritierenden Parallelitäten historischer Verläufe zu erfassen. 30 Jahre nach der sogenannten Wiedervereinigung fallen mit der neuen Generation die alten Narrationen der postsozialistischen Gesellschaftsformation in sich zusammen. Diejenigen, die auf die Befreiungs-Erzählung gesetzt haben, wurden in der multiplen Krise des demokratischen Kapitalismus zunehmend enttäuscht. Sie haben die Wahl, entweder ihren auf globaler Ausbeutung und Naturzerstörung beruhenden Reichtum krampfhaft gegenüber jenen zu verteidigen, die genauso ein Stück vom Kuchen verdient haben. Oder sie begreifen, dass es allen nur besser gehen kann, wenn das verrottete Gesellschaftssystem verlassen und an seiner Stelle ein lebenswertes aufgebaut wird. Diejenigen, welche die ostdeutsche Enttäuschungs-Erzählung verinnerlicht und verbreitet haben, können sich nicht mehr am vermeintlich besseren Alten orientieren. Dies impliziert jedoch nicht, dass die BRD besser wäre, denn der Sieg des demokratischen Kapitalismus ist mitnichten ein Beleg für seine „Überlegenheit“.

Einige Koordinaten für die Erneuerung linker Geschichtsverständnisse

Weil die Befreiten enttäuscht wurden und die Enttäuschten befreit, eröffnet sich das Potenzial, dass sie gemeinsam für einen libertären Sozialismus streiten. Die soziale Revolution ist die adäquate Antwort auf die zunehmenden gesellschaftlichen Verwerfungen und der diametrale Gegenpol zum Lager der AfD. Mit ihrem Slogan „Wir vollenden die Wende“, versucht diese ebenfalls Geschichte zu spinnen – indem sie anbietet, die verbleibenden libertär-sozialistischen Elemente auszumerzen.

Um für eine solidarische Gesellschaft einzutreten (die wir nicht länger in der pseudo-religiösen Phrase einer „befreiten Gesellschaft“ beschreiben können, von der ich noch nie wusste, was sie bedeuten soll), braucht es eine konsequente Erneuerung der Linken. Dies ist nicht vorrangig eine Frage des Willens, jedoch eine der (geschichtsphilosophischen) Perspektive und darauf aufbauend, vor allem eine organisatorische Aufgabe.

In diesem Zusammenhang ist der Erfahrungsaustausch essenziell. Als ich mich – twenty years after – über das Biotop Uni in einer ostdeutschen Stadt mit vielen westdeutsch sozialisierten Antiautoritäten austauschte und organisierte, empfand ich dies als große Bereicherung. Erst die Vermischung ermöglicht die bewusste Erschaffung gemeinsamer Narrationen, welche keineswegs Geschichtsvergessenheit, sondern andere Perspektiven auf Geschichten bedeutet und somit die Chance auf ihre selbstbestimmte Gestaltung in sich birgt. Dies ist jedoch kein Selbstzweck, sondern aktive Tätigkeit, die durch eine Anekdote versinnbildlicht werden kann:

Am 14. Oktober 2017 gab es ein Punkkonzert in der Berliner Zionskirche. Mit diesem sollte ein Reenactment des berüchtigten Nazi-Überfalls und der damit verbundenen Gründung der ostdeutschen Antifa, gespielt werden. Zerstört wurde das Gedächtnis, als die letzte Band abschließend drei Songs realsozialistischer Satire, darunter die „Internationale“ spielte. Das Problematische daran ist, dass die DDR-Punks wohl einen Dreck dafür gegeben hätten, sich zum Organ staatssozialistischer Propaganda zu machen.10 Es handelt sich hierbei also nicht um einen Ausbruch aus dem Käfig der Erzählungen zweier schlechter Gesellschaftsformen, nicht um selbstbestimmte Geschichtsschreibung, welche nicht loslassen kann von der Mär des besseren Staates. Wir brauchen keinen antikommunistischen Reflexen zu verfallen, um den Bedingungen, unter denen eine erneuerte radikale Linke kämpft, in die Augen zu blicken.

Im Übrigen stimme ich Marx hierbei vollständig zu, der in einer berühmten Passage schrieb: „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen. Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden […]11. Trotzdem kann Kommunismus nicht mehr verstanden werden als in die Zukunft projizierte Gesellschaftsform, in der Menschen endlich ihre eigene Geschichte machen (können oder dürfen?). Er besteht in einer Beziehungsweise zwischen Menschen12, die neben einer materiellen auch eine ethische und eine Sinn-Dimension aufweist und vom Streben nach Selbstbestimmung, kollektiver Autonomie und Selbstorganisation angetrieben wird. Aufgrund der historischen Erfahrungen verweisen die im Jahr 1989 kulminierenden Ereignisse darauf, dass ernstzunehmende links-emanzipatorische Bewegungen erstrebenswerte Geschichten vorwegnehmend und somit als bereits anbrechend denken sollten.

Dieses präfigurative Geschichtsverständnis korreliert durchaus mit veränderten Produktionsbedingungen, da der Finanzmarktkapitalismus umso massiver die Zukunft in die Gegenwart verlagert und Vergangenheiten negiert – eine Tendenz, die dem Kapitalismus allerdings insgesamt inhärent ist. Präfigurativ zu denken, fühlen und handeln bedeutet dabei jedoch nicht, die Bedingungen der (Post)Moderne zu verkennen, in der uns die Zeit sprichwörtlich zwischen den Fingern zu zerrinnen scheint. Zudem bedeutet es nicht, Vergangenes zu vergessen, sondern im Gegenteil transgenerationale Verbundenheit herzustellen, damit wir als geschichtliche Wesen leben können.

Es geht darum, Zeit, die Lebenszeit von Menschen, der kapitalistischen Verwertungslogik zu entziehen, sie uns anzueignen und solidarischem, kooperativem Leben einen Wert als Selbstzweck zuzuschreiben – Dies ist die Grundlage für den Aufbruch zu einem libertären Sozialismus im 21. Jahrhundert. Um gemeinsam mit Vielen an den geteilten Erzählungen zu spinnen, die ihn ermöglichen, müssen wir uns außerhalb des Gewohnten und Gesetzten stellen. Dies bedeutet auch aus dem linken Jammertal der ewigen Identifikation mit den Verlierern auszuziehen. Bis 2089 sollten wir das geschafft haben.

1 Eric Selbin, Gerücht und Revolution. Von der Macht des Weitererzählens, Darmstadt 2010, S. 199.

2 Siehe das reflektierte geschichtsphilosophische Statement von Hendrik Wallat, Staat oder Revolution. Aspekte und Probleme linker Bolschewismuskritik, Münster 2012, S. 7-15.

3 So bezeichnet auf einer Podiumsverstaltung zu linker DDR-Opposition am 20.2. im UT Connewitz / Leipzig.

4 Beispielsweise beschreibt Jan Gerber die grundlegenden Umstrukturierungen in den widerstreitenden linksradikalen Strömungen zur Wendezeit als „Wiederkehr der Geschichte“, in: Jan Gerber, Nie wieder Deutschland= Die Linke im Zusammenbruch des ‚realen Sozialismus‘, Freiburg 2010.

5 Bernd, Die „Friedliche Revolution“ – ein Mythos, in: Lirabelle #21; verfügrbar auf: http://lirabelle.blogsport.eu/2020/02/13/die-friedliche-revolution-ein-mythos; zuletzt aufgerufen am: 09.03.2020.

6 Evangelisches Gesangbuch Nr. 395.

7 Bzw. siehe das gesamte Album „Abfallprodukte der Gesellschaft“; verfügbar auf: https://www.youtube.com/watch?v=RZSLZde7bGQ.

8 „OstPUNK! / too much future“; Regie: Carsten Fiebeler/Michael Boehlke, vgl. http://www.toomuchfuture.de; vgl. https://www.youtube.com/watch?v=9o8bT2nGmc0

9 Anthony Giddens, Der dritte Weg, Frankfurt a.M. 1999.

10 Siehe dazu insbesondere der Sammelband von Anne Seeck (Hrsg.), Das Begehren anders zu sein. Politische und kulturelle Dissidenz von 68 und bis zum Scheitern der DDR, Münster 2012.

11 Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: MEW 8, S. 115-123, hier: 115.

12 Dies stellt Bini Adamczak plausibel und meiner Ansicht nach ganz wesentlich in Bezug auf das Denken von Gustav Landauer dar (vgl. Bini Adamczak, Beziehungsweise Revolution. 1917 – 1968, und kommende, Berlin 2017.)