Gestern wurde ich spontan gefragt, ob ich als Sprecher auf einer Podiumsdiskussion einspringen könnte, da die ursprünglich eingeladene Person aus gesundheitlichen Gründen abgesagt hatte. Eingeladen hatte die Platypus-Gruppe, welche eine Art neoleninistische Studi-Agitation und -Bildung betreiben. Abgesehen von der inhaltlichen Ausrichtung, ist mir auch die Herangehensweise fremd. Selbstkritisch eingestehen muss ich dennoch, dass ich nichts dagegen einzuwenden hätte, wenn es eine organisierte und vernetzte Form anarchistischer Bewusstseinsbildung gäbe – und wenn man damit in der Studi-Lebenswelt anfangen kann, warum nicht?
Darüber hinaus bin ich auch kein Experte für das Thema des Abends „Klasse und die Linke“. Auch von anarchistischer Seite her gibt es Leute, die da mehr im Stoff stecken, wenn man sich auf eine theoretische Ebene begeben will. Und aus der Erfahrung eigener Organisierung und Kämpfe zu sprechen, wäre ohnehin besser. Beides schließt sich aber auch nicht aus. Ich habe auch hier versucht eine Brücke zu schlagen. Allerdings weiß ich nicht, was „die“ Linke ist. Und ich gehe auch nicht so ran, Empfehlungen oder gar pseudo-avantgardistische Anweisungen zu erteilen, was „die Linke“ tun müsste, könnte oder sollte. Kann man machen. Ist aber eine absurde Verkennung der eigenen Position.
Mein Bedenken bestand also nicht zu unrecht darin, dass wir uns im angedachten Format lediglich über relativ abstrakte Standpunkte verständigen – und darüber hinaus nichts effektiv rum kommt. Dahingehend stellte sich mir allerdings auch die Frage, ob ich überhaupt Lust hatte, mit „Linken“ zu diskutieren und dazu mit einem orthodoxen Kommunisten und einem Antideutschen, der in der Bahamas veröffentlicht hat.

Zusammenfassend hatte ich nicht wirklich Lust auf den ganzen Zirkus und stresste mich die Vorstellung. Letztendlich entschied ich mich an der Podiumsdiskussion teilzunehmen aus der gefühlten Verpflichtung heraus, dass es anarchistische Positionen in die (begrenzte) Öffentlichkeit zu tragen gilt, um zumindest mit einigen Vorurteilen aufzuräumen und unter „Linken“ deutlich zu machen, dass sich auch Anarchist*innen theoretisch beschäftigen und aktiv sind. Das ich mich damit gewissermaßen zur Theorie-bitch mache, gefällt sicherlich den Dogmatiker*innen verschiedener Lager nicht…
Letztendlich war ich super aufgeregt, war aber alles gar nicht so schlimm. Man kann schon mal so eine Diskussion (unter Männern) führen, sollte sich davon allerdings nicht die Welt erhoffen. Wie gesagt, Vorurteilen zu begegnen, aufzuklären und Präsenz zu zeigen ist schon mal ein ausreichendes Anliegen für den Zweck. Wir haben uns dann nicht mal gestritten. Mir war auch nicht so nach streiten, weil ich entweder mit dem Gesagten mitgehen konnte, oder es wiederum so fern war, dass ich mich nicht wirklich darauf beziehen konnte…
Um mich nicht gleich zum Einstieg aufgrund des Formats in abstrakter Sprache oder plumpen ideologischen Forderungen zu verstricken zitierte ich aus Pöbel MC „Rollkragenschläger“. Das schien mir ein guter Aufhänger zu sein, denn darin wird das Leiden konkreter Subjekte in der Klassengesellschaft benannt, aber auch die eigene Deformation durch diese thematisiert. Angesprochen werden unmittelbare Selbstorganisation und direkte Aktion. Vorgetragen wird Klassenhass, wobei sich zugleich gegen die reaktionäre Wendung und Vereinnahmung der Frustration von Unterdrückten und Ausgebeuteten gewandt wird.
Darauf hin benannte ich neun Punkte, die mir für den anarchistischen Syndikalismus in Bezug auf das Thema relevant erschienen und führte sie zum Teil etwas aus.
1) Die Klassengesellschaft ist im 21. Jh. genauso Realität wie im 19. und 20. Jh., auch wenn es selbstverständlich zu analysieren und zu begreifen gilt, wie sie konkret strukturiert ist. Das Proletariat ist dabei eine aufgezwungene Position, die es durch soziale Kämpfe zu überwinden gilt. Die „Arbeiter*innenklasse“ ist damit zugleich sozialstrukturelle Kategorie, wie auch die Konstruktion eines politischen Subjektes. Damit ist sie keineswegs per se emanzipatorisch, sondern wird vielmehr von K-Gruppen häufig fetischisiert.
2) Die proletarisierten Klassen sind heute heterogen und waren es ebenso historisch. Sie verbindet sich durch gemeinsame soziale Kämpfe und Auseinandersetzungen über ihre Differenzen.
3) Es lohnt sich einen intersektionalen Klassenbegriff zu entwickeln, welcher feministisch, ökologisch und antirassistisch ist.
4) Im Anarchismen und Anarch@-Syndikalismus geht es um das Engagement und die Ermächtigung verschiedener Minderheiten.
5) Statt in die „Falle der Politik“ zu tappen, wird für die direkte Aktion plädiert.
6) Für emanzipatorische Akteur*innen gilt es ein Selbst-Bewusstsein und spürbare Erfolgserlebnisse zu schaffen.
7) Anti-Nationalismus bzw. Transnationalismus (deswegen Klasse statt Volk)
8) Es braucht spezifische Organisationsprinzipien, die aus den Erfahrungen von Engagierten in sozialen Bewegungen erwachsen sind (Autonomie, Dezentralität, Freiwilligkeit, Föderalismus)
9) Im anarchistischen Syndikalismus ist die Vergesellschaftung der Produktionsmittel und die Selbstverwaltung der Betriebe das Fernziel, welches es auch graduell zu erkämpfen gilt.
Mit diesem Klassenverständnis und seinen Implikationen schafft der Anarch@-Syndikalismus Verbindungen zwischen Radikalität und Massenbasis, zwischen Reform und Revolution, Analyse und konkreter Utopie, Anti-Politik und autonomer Politik, Mikro- und Makroebene. Dies spiegelt sich in seinen Organisations- und Aktionsformen, sowie der Konzipierung von Zielen wieder. Soweit.
Unterm Strich war das Ganze eine gute Übung für mich, um mich in einem für mich nicht (mehr) gewohnten Kontext vor 50 Leuten zu sprechen und das mit nur ca. zweieinhalb Stunden Zeit zur Vorbereitung, während ich kein Experte für das Thema an sich bin. Soweit lief es gut. Wenn’s ein Video gibt, werde ich es posten und dann können sich auch andere ein Urteil darüber bilden. Die Fragen, wie viel Sinn derartige Veranstaltungen geben, was daraus resultieren soll, wer daran teilnehmen sollte etc. bleiben weiter offen – aber das ist hier gerade nicht Thema. Ansonsten braucht es bessere Absprachen darüber, wer wann legitimerweise in welcher Rolle sprechen kann. Auch das ist eine andere Geschichte…