Solidarität im anarchistischen Sinne

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Bei Veranstaltungen zu Grundlagen des Anarchismus oder auch in persönlichen Gesprächen, bekomme ich immer wieder Fragen zu hören, die mir mittlerweile sehr seltsam erscheinen. Sie zeigen, dass es noch viel Bedarf an Vermittlung und Diskussion darüber gibt, was Anarchismus eigentlich ist – und vor allem, wo er praktisch außerhalb von zeckigen Szene-Projekten existent ist. Merkwürdigerweise scheint es Menschen schwer zu fallen, anarchistische und kommunistische Tendenzen in der bestehenden Gesellschaft wahrzunehmen und als solche einzuordnen. Ein Beispiel dafür sind humanitäre Hilfsprojekte.

Doch zunächst zur problematischen Seite: Charity: Es ist bekannt, dass unter dem Banner der Humanität große etablierte Organisationen arbeiten, wie etwa das Rote Kreuz. Hierbei spielen sehr verschiedene Motivationen eine Rolle, greifen auch unterschiedliche Interessen ineinander. Am Schlimmsten ist dabei das Wohltätigkeitsgebaren von Reichen, welche es sich aufgrund ihres strukturell angeeigneten Reichtums leisten können, sich darüber hinaus noch als Wohltäter*innen zu inszenieren. Dazu treffen sich diese Leute auf Wohltätigkeitsveranstaltungen ihrer Clubs, um sich in exklusiven Kreisen gegenseitig zu beweihräuchern. Das ist ekelhaft. Im Übrigen lassen sich mit Spenden teilweise auch ganz gut Steuern sparen und das Image von Unternehmen aufpolieren.

https://www.cadus.org/de/

Auch Nationalstaaten spielen im humanitären Business mit und zwar aus eminent eigenen geostrategischen Interessen. Für Regierungen wie in der BRD geht es darum, Geflüchtete an den Grenzen Europas festzuhalten oder am besten bereits zuvor – auch unterstützt von den Folgen postkolonialer Dominanz – in den von Krieg, Armut, Repression und Umweltzerstörung gezeichneten Herkunftsländern dahinvegetieren zu lassen. Dazu nehmen westliche reiche Nationalstaaten gern auch mal einiges an Geld in die Hand. Sind sie dabei besonders perfide, inszenieren sie sich wie die BRD nicht nur als „Erinnerungs-Weltmeister“, sondern auch als „Humanitäts-Weltmeister“ – ein Ruf, dessen finanzielle Kosten durchaus einige Millionen Wert sein dürfen, wenn er dabei hilft, etwa die Rolle deutscher Rüstungskonzerne in kriegerischen Auseinandersetzungen weltweit kleinzureden.

Dies sind unter anderem die problematischen Aspekte des Charity-Businesses. Und dennoch gibt es offenbar viele Menschen, denen das Leid der Welt nicht am Arsch vorbeigeht und die nicht vorrangig um ihr Image besorgt sind, sondern ernsthaft mit ihren Fähigkeiten direkt helfen wollen. Dies kann auf sehr verschiedene Weisen geschehen und zweifellos würde die bestehenden staatlich-kapitalistische Gesellschaftsordnung ohne die tägliche Hilfsbereitschaft von Millionen von Menschen rasch in sich zusammenbrechen – ebenso wie sie sich ohne die größtenteils unbezahlte und meist weibliche Care-Arbeit nicht lange reproduzieren könnte. Nicht umsonst loben Regierungsvertreter*innen das sogenannte „Ehrenamt“ – das meist kostenlose politische, ökonomische, soziale und emotionales Engagement erhält die Gesellschaft aufrecht, welche der Staat zu regieren beansprucht.

Doch Engagement ist sicherlich nicht an sich anarchistisch. Auch wenn Menschen konkret geholfen wird – was immer viel Wert ist – sind beispielsweise auch fundamentalistische Christ*innen engagiert. Gerne pachten sie die Hilfsbereitschaft für sich. Doch das es eine religiöse Motivation braucht, um Menschen zu helfen, ist ein Mythos. Ganz im Gegenteil war die gegenseitige Hilfe ein wesentlicher Faktor z.B. auch für die Stärke der europäischen Arbeiter*innenbewegung vom 18. bis 20. Jahrhundert. Oftmals wurde dies von sozialistischen Parteipolitiker*innen ignoriert, weil diese annahmen, Menschen tun das eben einfach so, sich gegenseitig helfen. Politiker*innen sehen nicht, dass dahinter durchaus die Entscheidung und Organisationsfähigkeit vieler Einzelner steht, die damit auch gesellschaftliche Veränderungen anstoßen (auch wenn sie dies auf Wahlplakaten so verkaufen).

Auch heute mittlerweile weltweit bekannte Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen waren in ihrer Gründungsphase anarchistisch beeinflusst. Freilich braucht das nicht herausgestellt zu werden, denn natürlich ist es problematisch, solidarisches Engagement wiederum ideologisch verkaufen zu wollen, wie es sich viele kirchliche Organisationen zum Geschäft gemacht haben. Und: Es stimmt auch, dass Linke und Anarchist*innen ihren eigenen Ansprüchen daran, Solidarität oder auch gegenseitige Hilfe zu praktizieren, häufig nicht genügen. Vielleicht ist es sogar so, dass wer darüber viel und hochgestochen spricht, das Naheliegende letztendlich nicht tut.

Cadus und Sea-Eye sind beides Hilfsorganisationen, die nicht viel Tamtam um ihre Aktivitäten machen und dennoch auf Werbung für Spendengelder angewiesen sind, um ihre direkte Unterstützung und praktizierte Solidarität ausüben zu können. Das heißt, es lohnt sich, sich mit ihnen zu beschäftigen, ihnen Geld zu geben, sie zu unterstützen und sich von ihnen inspirieren zu lassen. Aus den Widersprüchen der humanitären Hilfe kommen auch sie in einer Welt voll Zerstörung und Menschenverachtung nicht raus – beispielsweise dann, wenn es darum geht, auf internationale Verpflichtungen zur Seenotrettung zu pochen, da die italienische Regierung Rettungsschiffe mit fingierten Vorwänden in Häfen festhält.

Gerade wenn mensch den Staat konfrontiert, muss mensch sich bedauerlicherweise an seiner Logik abarbeiten, die zu weiten Teilen bürokratisch und juristisch funktioniert – die aber gerade in Grenzgebieten rasch auch zur Begegnung mit Polizei und Militär führt. Und dennoch, dass was Sea-Eye und Cadus organisieren, wofür sie stehen, ist praktizierte, ja: gelebte, Solidarität im 21. Jahrhundert im anarchistischen Sinne. Daraus wachsen Beziehungen, Netzwerke, Erfahrungen und auch Organisationen, welche ein Gegenmodell zum staatlichen Kapitalismus darstellen. Auch dies sind die Keimzellen der neuen Gesellschaft.