Schatzkiste: Evolution und Revolution (Élisée Reclus)

Lesedauer: 8 Minuten

Reclus war ein umtriebiger und äußerst engagierter Geograph mit Leidenschaft und ebenso überzeugter Anarchist. Einen wichtigen theoretischen Beitrag lieferte er unter anderem mit seinem Grundgedanken zum Verhältnis von Evolution und Revolution. Dazu schrieb er einen bekannten Text unter diesem Titel von dem es eine frühere und eine spätere Version gibt. Statt der französischen Originalausgabe habe ich die englischen Nachdrucke gefunden. Die erste Version von 1891 findet sich bei

Reclus, Élisée, Evolution and Revolution [1891], in: Graham, Robert (Hrsg.), Anarchism. A Documentary History of Libertarian Ideas, Bd. 1, Montral/New York/London 2017 [2005], S. 268-271.

und die zweite, deutlich längere und überarbeitete hier:

Reclus, Élisée, Evolution, Revolution, and the Anarchist Ideal [1898], in: Clark, John / Martin, Camille, Anarchy, Geography, Modernity. Selected Writings of Élisée Reclus, Oakland 2013, S. 138-155.

Der Hintergrund für Reclus Überlegungen ist folgender: Im Zuge der Erstarkung der Arbeiter*innenbewegungen erhielten die sozialistischen Parteien einen ungeheuren Zulauf, gründeten zahlreiche Zeitungen, Lokale, Sport-, Kultur- und Bildungsvereine. Damit stellten sie zumindest in Deutschland, England und Frankreich zu diesem Zeitpunkt eine echte (und konkret vorhandene) Alternative zur bestehenden bürgerlichen Gesellschaft dar. Preis dieser Ausdehnung war allerdings die Verwässerung ihres Programms und durch die Einbindung in staatliche Politik auch die Verbürgerlichung der sozialistischen Führungskader – sowohl materiell gesehen, also auch ideologisch. Der Deal mit der machthabenden bürgerlichen Politiker*innenkaste war folgender: Ihr verzichtet auf eure revolutionären Ansprüche und hört mit der Unruhe und den Drohungen auf. Im Gegenzug bekommt ihre einige Posten als Politiker*innen und Beamt*innen und könnt in Maßen eure Interessen vertreten. Dies wurde von den parteisozialistischen Führungsriegen weitgehend akzeptiert. Allerdings mussten sie diesen Kurswechsel ihrer Anhängerschaft plausibel, die sie nunmehr vorrangig als Wahlklientel betrachteten. Historisch setzte hier die berühmte Debatte zwischen Eduard Bernstein (Reformismus) und Karl Kautsky (Orthodoxie) ein. Dies erwies sich nicht als einfach, denn immerhin gab es eine starke selbstorganisierte und radikale sozialistische Bewegung. Darum bedienten sie sich einer grundsätzlichen Gedankenfigur: Sie behaupteten, dass man sich entscheiden müssen, ob man Revolution oder Evolution wolle. Die Revolution richte eigentlich nur Chaos an und würde zu Gewalt und Leid führen. Evolutionäre gesellschaftliche Veränderungen seien hingegen tatsächlich äußerst realistisch, aufgrund der großen Organisationsmacht der sozialistischen Bewegungen und ihrer real vorhandenen Gegengesellschaft.

An diesem Punkt setzt Reclus mit einer anarchistischen dritten Position an und übt Kritik an den beiden Tendenzen des Reformismus und der Orthodoxie der marxistisch geprägten sozialistischen Parteien. Dies tut er, indem die Trennung zwischen „Revolution“ und „Reform“ als künstlich gezogen kritisiert. Sie seien vielmehr zwei Seiten des selben Prozesses:

It can thus be said that evolution and revolution are two successive aspects of the same phenomenon, evolution preceding revolution, and revolution preceding a new evolution, which is in turn the mother of future revolutions.

Revolutionen lägen somit immer hinter sozialen Evolutionen (die nicht gleich politische Reformen sind!) verborgen und brechen oft ungeahnt aus, wenn jene weit genug fortgeschritten seien. Als passionierter rationalistischer Naturwissenschaftler macht Reclus hierzu eine Analogie zu Naturvorgängen auf:

If revolution always lags behind evolution, it is because of the resistance of the environment: the water in a stream splashes between its banks because they hinder its flow; thunder rumbles in the sky because the atmosphere resists the electrical charge that flashes down from the cloud. Each transformation of matter and each realization of an idea is, during its actual process of change, thwarted by the inertia of the environment. A new phenomenon can thus come into being only through an effort that is more violent, or a force that is more powerful, than the resistance.

Auch Johann Gottfried Herder verglich die (Französische) Revolution mit einem Samen, der lange verborgen in der Erde schlummerte und dann auf ging. Dann aber zieht Reclus einen weiteren Vergleich, der in anarchistischen Texten und Diskussionen später immer wieder zitiert wird: Die Revolution gleiche im Grunde genommen der Geburt eines Kindes. Monatelange wächst es im Körper der Mutter heran. Es wird zwar jede Woche größer und reift. Die Geburt selbst ist aber eine Überraschung, ein echtes Wunder und für den neuen Menschen zweifellos ein qualitativ anderer Zustand, als die umfassende Geborgenheit zuvor.

Reclus äußerst einen weiteren wichtigen Gedanken, im Zusammenhang mit seinem Eintreten für die soziale Revolution. Revolutionen seien nicht einfach per se gute oder schlechte Ereignisse, ebenso wenig wie Evolutionen. Sie sind zunächst wertfrei zu betrachten und können ganz verschiedene Verläufe nehmen. Dies bedeutet umso mehr, eigene Vorstellungen und darauf aufbauend Organisationen zu entwickeln, welche die Revolution in eine sozial-revolutionäre und emanzipatorische Richtung lenken können.

[R]evolutions do not necessarily constitute progress, just as evolutions are not always directed toward justice. Everything changes; everything in nature moves as part of an eternal movement. But where there is progress, there can also be regression, and if some evolutions tend toward the growth of life, there are others that incline toward death. To stop is impossible, and it is necessary to move in one direction or another.

Diese Aussage ist an die Konservativen und Liberalen gerichtet, welche zwar gegen jegliche revolutionären Bestrebungen wettern, dabei jedoch nicht begreifen, dass es gerade zu einer blutigen Revolution kommen wird, wenn sie sich den notwendigen sozialen Fortschritten verweigern würden. Ich denke ebenso richtet sich diese Äußerung jedoch an Sozial-Revolutionär*innen selbst, die fortwährend überprüfen müssen, welchen Verlauf revolutionäre Prozesse nehmen und wie sie diesen beeinflussen können.

Interessanterweise beinhalte die Ausdehnung von Herrschaftssystemen jedoch auch stets den Keim ihres Niedergangs. Die Imperien der Antike seien beispielsweise daran gescheitert, dass sie zu ausgedehnt waren und es innere Konflikte gab, woran sie schließlich zerbrachen. Hier gilt es gewissermaßen mit der sozial-revolutionären Perspektive reinzugrätschen.

Reclus möchte jedoch nicht allein der bestehenden Herrschaftsordnung misstrauen, sondern antizipiert jene, die kommt. In seiner Zeit schienen der „Patriotismus“ und die Rede von „sozialem Frieden“ als verführerische Angebote der Gesellschaftsveränderung – die jedoch im Kern auf eine Erneuerung des Herrschaftsarrangements hinauslaufen. Die herrschende Klasse fördere derartige Vorstellungen, jene von „Heimat“ und „Nation“, wobei es ja gerade der Nationalismus war, welcher vorherige soziale Gemeinschaften erst zerstörte, die er nun künstlich vereint.

Etwas naiv gibt Reclus daraufhin bekannt, dass es Grund zur Hoffnung gäbe, weil sich die Pseudo-Wissenschaft der Nationalökonomie als „falsch“ erweisen hätte. Das ist sie zweifellos – Reclus unterschätzt dabei aber die Wirkmächtigkeit der ideologischen Dimension von Herrschaft.

Although the current state of affairs is atrocious, an immense evolution has taken place, giving promise of the next revolution. This evolution consists in the fact that the ’science‘ of economics, which prophesied scarcity of resources and the inevitable death of the starving masses, has been proven wrong, and that moreover, a suffering humanity, believing itself to be poor only a short time ago, has discovered its wealth. Thus its ideal of ‚bread for all‘ has been found to be no mere utopia. The earth is vast enough to nourish us all and rich enough to support us comfortably.

In Hinblick auf politische Rechte und Freiheiten, sieht Reclus ebenfalls die Chancen auf grundlegende Fortschritte. Die Demokratisierung entfaltet gewissermaßen eine Eigendynamik, könnte man sagen, und untergräbt eine Autorität nach der anderen – so zumindest Reclus Wahrnehmung und Hoffnung.

Dann macht Reclus noch einen coolen move. Er meint, wenn Konservative gegen Sozial-Revolutionär*innen wettern, dass jene Religion, Staat und Privateigentum abschaffen wollten und dies als abschreckendes Feindbild aufbauen, so sollte sie einfach voll und ganz dazu stehen, anstatt um den heißen Brei herum zu reden:

Yes, anarchists reject the authority of dogma and the intrusion of the supernatural into our lives. In this sense, whatever fervor they may bring into the struggle for their ideals of fraternity and solidarity, they are enemies of religion. Yes, they want to abolish matrimonial trafficking and instead desire free unions based only on mutual affection, self-respect, and the dignity of others. In this sense, as loving and devoted as they are to those whose lives are joined with theirs, they are indeed enemies of the family. Yes, they want to abolish the monopolizing of the earth and its products in order to distribute them to everyone. In this sense, the happiness they would have in guaranteeing to everyone the enjoyment of the fruits of the earth makes them enemies of property.

Der Weg zur Freiheit ist ein Prozess und bedeutet viele Kämpfe zu gehen und schrittweise voran zu kommen. Reclus wendet sich insbesondere gegen die Religion und richtet sich damit offenbar an die Strömung der religiösen Sozialist*innen.

An den regierenden Republikaner*innen, die ja auch einige progressive Vorstellungen haben, könnte man sehen, was geschieht, wenn die Sozialist*innen an die Regierung kommen würden. Mit ihren Ansprüchen könnten sie sich nur in Widersprüche verstricken und würden vom politischen System aufgesogen werden. Jene Sozial-Revolutionär*innen, die eine sozialistische Regierung anstreben, hält er für naiv.

But one might ask whether our evolutionary and revolutionary friends, the socialists, are equally liable to betray their cause, and whether we will see them one day go through the usual process of regression after those among them who want to ‚conquer state power‘ have succeeded. If the socialists become our masters, they will certainly proceed in the same manner as their predecessors, the republicans. The laws of history will not bend in their favor. Once they have power, they will not fail to use it, if only under the illusion or pretense that this force will be rendered useless as all obstacles are swept away and all hostile elements destroyed. The world is full of such ambitious and naïve persons who live with the illusory hope of transforming society through their exceptional capacity to command; however, when they have risen into the ranks of the leaders, or at least become enmeshed in the vast machine of high-level administration, they understand that their isolated will has no hold over the only real power, which is the inner workings of public opinion, and that all their efforts risk being lost amidst the indifference and ill will that surrounds them.

Ein interessantes Detail ist, dass Reclus im Text von 1891 hier an seine Genoss*innen spricht, während er im Text von 1898 von den ’sozialistischen Freund*innen‘ sprich. Ganz offensichtlich hat sich innerhalb dieses Zeitraums die anarchistische Bewegung selbst stärker als solche bezeichnet und von den anderen Sozialist*innen abgegrenzt, die immer stärker den Parteienweg einschlugen.

Wenig überraschend kommt Reclus zur Aufforderung nach einer Selbstorganisation der Gesellschaft durch die unteren Klassen. Er prophezeit den Untergang der bürgerlichen Herrschaft und appelliert an die Entrechteten sich zu empören und zu erheben. Die soziale Revolution werde größtenteils friedlich und nur wo notwendig gewaltsam sein, jedoch notwendigerweise die despotische Macht zerstören und mittels einer neuen Internationalen die Menschenrechte universell durchsetzen.

Der praktische Ausblick, den Reclus am Ende seines Textes gibt ist allerdings weit bescheidener als das Pathos, in welches er zwischenzeitlich verfällt. Er weiß, dass es nicht darum gehen kann die Gesellschaft nach festen Plänen zu organisieren wie die Frühsozialisten Fourier, Owen oder Sainr-Simon. Dennoch hält er es für die soziale Revolution, welche die Brücke zwischen Evolution und Revolution schlage, entscheidende, neue Formen von Gemeinschaftlichkeit zu organisieren. Man könnte dabei viel von den Siedlungs- und Kooperativenprojekten lernen, auch wenn viele von ihnen aufgrund äußerer und innerer Probleme keinen langen Bestand hatten. Wichtig an ihnen sei vor allem aber das Verständnis von sozialer Revolution, die kein zukünftiges Ereignis sondern ein unmittelbar beginnender und vielfältiger Prozess sein kann:

This profound revolution is not only on the path to fulfillment, but is actually being realized in various places; however, it is pointless to draw attention to the endeavors that seem to us to be closest to our ideal, for their chances of success are greatest if silence continues to protect them, if the clamor of publicity does not disturb their modest beginnings.