Vor einem Jahr fand ein Workshop zu anarchistischer politischer Theorie und Gesellschaftstheorie in Jena statt, den ich organisiert hatte. Zu diesem hatte ich eingeladen, um mehreren Anliegen nachzugehen. Zunächst war ich einfach interessiert, wer sich von diesem Thema angesprochen fühlt und sich melden würde. Dann wollte ich wissen, zu welchen konkreten Themenbereichen die einzelne Leute arbeiten oder gearbeitet haben und ob es dahingehend spannende Neuentwicklungen gibt. Drittens sollte der Workshop zu einer Vernetzung beitragen, um anarchistische Theorieproduktion zu stärken und auszubauen. Viertens wollte ich damit schließlich anarchistische Theorie im deutschsprachigen akademischen Bereich sichtbar machen und (im sehr begrenzten Rahmen freilich) in den wissenschaftlichen Diskurs einbringen.
Was den letzten Punkt angeht, sehe ich hier durchaus großen Bedarf, insofern das Wissen über Anarchismus als auch anarchistisches Denken insgesamt im deutschsprachigen akademischen Bereich nur äußerst marginal vorhanden ist. Da anarchistische Perspektiven meiner Ansicht nach auf alle gesellschaftlichen Fragen angelegt werden können und in den verschiedensten Bereichen wirken können, schließt dies auch den akademischen Raum ein. Da dieser freilich genauso – wie fast alle gesellschaftlichen Sphären und ihre Institutionen – von Herrschaftsverhältnissen durchzogen und beeinflusst ist, erklärt sich von selbst. Demnach war eine wichtige Fragestellung beim Workshop, die selbstkritische Reflexion über das Verhältnis von Anarchismus, Theorie und Wissenschaft. Verständlicherweise haben wir in unserer Diskussion darum, keine abschließende und einheitliche Meinung entwickelt, dafür jedoch dieses Spannungsfeld – von unseren eigenen Erfahrungen ausgehend – genauer beschrieben.
Mir war bewusst, dass es insbesondere im deutschsprachigen Raum in der anarchistischen Szene eine verbreitete Abwehrhaltung gegen einen Anarchismus-Workshop im akademischen Rahmen gibt. Ich habe mich selbst mit den möglichen Gefahren einer „Akademisierung“ des Anarchismus beschäftigt und befürworte eine von Unis losgelöste, autonome Theorieproduktion. Abgesehen davon mache ich auch gerne Veranstaltungen in einem dezidiert nicht-akademischen Rahmen. Dennoch entschied ich mich bewusst dafür, dieses Format zu wählen, einfach, um es auszuprobieren. Und, weil es keine mir bekannte deutschsprachige Vernetzung für anarchistische politische Theorie und Gesellschaftstheorie gibt- wozu der Workshop eventuell ein kleiner Anfang hätte sein können. Dies gelang insoweit, als das sowohl das Format, als auch die versammelten Teilnehmer*innen und unsere Diskussionen, den üblichen akademischen Rahmen überschritten. Es bestehen dahingehend also durchaus Gestaltungsspielräume, die genutzt werden können.
Ein entscheidendes Vorbild dafür waren das Anarchist Studies Network in Großbritannien und das Institute for Anarchist Studies in den USA. Mit diesen Zusammenschlüssen wurde es möglich, anarchistischem Denken einen größeren Raum zu geben und es zu popularisieren.
Letztendlich hatten wir dort eine gute Gemeinschaft und einen produktiven Austausch, waren aber weit davon entfernt, uns – von uns ausgehend – gemeinsame Begriffe von Gegenständen der anarchistischen politischen Theorie und Gesellschaftstheorie zu bilden. Dies hängt wiederum mit dem Grundproblem zusammen, dass es keinen kontinuierlichen Rahmen für eine aktivistisch orientierte anarchistische Theorieproduktion im deutschsprachigen Raum gibt, der über informelle Zusammenhänge hinaus geht. Die Begegnungen unterschiedlicher Menschen unter einem gemeinsamen Label, sind immer das wichtigste und ich glaube auch Bleibende, einer derartigen Zusammenkunft. Zugleich stellte ich aber auch fest, dass es im Grunde genommen niemanden gab die*der ernsthaftes Interesse an einer dauerhaften Vernetzung für eine autonome, fundierte und kontinuierliche anarchistische Theoriearbeit hatte. Diese soll freilich kein Selbstzweck sein, sondern dazu dienen, emanzipatorische soziale Bewegung zu stärken und ihnen eine libertär-sozialistische Ausrichtung zu geben, fundierte Herrschaftskritik zu entwickeln (was eine komplizierte Angelegenheit ist) und libertär-sozialistische Alternativen zu den kapitalistischen, staatlichen, patriarchalen Institutionen und Beziehungen aufzuzeigen. Neben vielen anderen – vor allem organisatorischen – Tätigkeiten, scheint mir dies ein Baustein für eine strukturelle Erneuerung und Stärkung der anarchistischen Szene und anarchistischer Praktiken zu sein.
Diese kann verständlicherweise nicht von „Akademiker*innen“ ausgehen und anderen vorgeschrieben werden. Vielmehr findet sie in selbstorganisierten, antiautoritären (anti)politischen Gruppen statt. Sich den Grenzen von akademischer Theorie bewusst zu werden, ist ein wichtiger Schritt um die Erkenntnisse, die in diesem Rahmen gewonnen werden können, anderen zugänglich zu machen und sie einzubringen. Damit beginnen wir dort, wo wir stehen. Und diese Orte sind stets von Widersprüchen geprägt, welche Dogmatiker*innen jeder Ausprägung bei sich selbst ignorieren. Sich auf eine vermeintlich gerade Linie zu begeben, von dort aus über andere zu urteilen und ihnen Beliebigkeit vorzuwerfen, ist verhältnismäßig einfach. Deutlich schwieriger ist es, die eigenen Widersprüche zu erkennen, auszuhalten und sich durch die Auseinandersetzung mit ihnen gemeinsam weiter zu entwickeln. Da es sich um gesellschaftliche Widersprüche handelt, scheint mir aber nur dieser Weg gangbar zu sein, um qualitative Veränderungen zu erzielen. Dies betrifft uns als einzelne Menschen, jene wie auch immer gearteten Gruppen, in denen wir uns befinden, als auch die gesellschaftlichen Sphären und sozialen Milieus, in denen wir uns bewegen. Darin gilt es Handlungsspielräume auszuloten, in denen wir unseren Ansprüchen genügen und sie schrittweise umsetzen können.
Gleichzeitig gilt es jedoch ebenso, sich der Beliebigkeit, welche insbesondere in der liberal-demokratischen, staatlich-kapitalistischen Gesellschaftsformation, in unserer rasenden, konsum- und erlebnisorientierten Zeit, weit verbreitet ist und zu ihren Grundmodi gehört, entgegen zu stellen. Dogmatiker*innen tun dies, jedoch um den Preis des Vermeidens von Auseinandersetzungen. Im schlimmsten Fall kann dies instrumentelle Züge annehmen, weil die selbstkritische Reflexion aufgeben wird und deren Stelle ein passivierender Zynismus tritt. Umso mehr sollte eine undogmatische anarchistische Theorieproduktion und Bewusstseinsbildung dazu beitragen, eine kollektive Verständigung über geteilte Vorstellungen und Begriffe zu ermöglichen. Was bedeuten beispielsweise „soziale Freiheit“, „Kooperation“, „Staat“, „Freundschaft“, „soziale Revolution“ im anarchistischen Denken? – Sich darüber auszutauschen, ist von enormer Bedeutung, damit wir uns Wirklichkeit aneignen und sie aus unseren Perspektiven heraus und mit unseren ethischen und organisatorischen Vorstellungen gestalten können. Damit ist nicht gemeint, dass Expert*innen eines bestimmten Themas anderen einseitig und ausschließlich erklären, wie dies zu begreifen wäre. Vielmehr kann es sich hierbei um einen gemeinsamen produktiven Prozess handeln, welcher per se keinen Abschluss findet. Dennoch besteht ihr Ziel in der Herstellung spezifischer Wahrheiten, welche Interpretationsangebote darstellen, anhand derer Menschen ihre Lebenswirklichkeit sinnvoll verstehen und deuten können. Schließlich ist dies die Vorbedingung für ein selbstbestimmtes Handeln, mit welchem wir in sie eingreifen und sie – zu einem begrenzten Grad, den wir aber ausschöpfen sollten – verändern können.
Mit diesen Gedanken in Rückblick auf den Workshop, bin ich doch etwas wehmütig, dass es uns nicht gelungen ist, daraus ein jährliches, halbjährliches oder sogar vierteljährliches Treffen zu machen. Dafür weiß ich zwar einige Gründe (Individualisierung, begrenzte Kapazitäten, persönliche Konflikte, aber auch mangelnde Entschiedenheit), doch die Katze beißt sich immer wieder in den Schwanz: Weil es kaum – bzw. nur äußerst verstreut – kontinuierliche, fundierte und autonome Theorieproduktion unter dem Label des Anarchismus im deutschsprachigen Raum gibt, sind die geteilten Grundverständnisse sehr gering ausgeprägt. Weil die Grundverständnisse wenig ausgeprägt sind, ist es nur sehr schwer möglich, potenziell Interessierte auf einer gemeinsamen Basis zu versammeln und in kollektiven und kontinuierlichen Prozessen, anarchistische Theorie zu generieren und zu verbreiten. Um dies abschließend noch einmal zu wiederholen: Dies ist meiner Ansicht nach keine Frage der mehr oder weniger intellektuellen Selbstbespaßung, sondern eine dezidiert politisch-strategische.
Es folgt der Call for Contributions, der sich ebenso wie der Ablaufplan auch hier als pdf findet.
Call for Contributions
Wissenschafts-Workshop
Anarchistische politische Theorie und Gesellschaftstheorie
„Give the Anarchist a Theory!“
(27.-29.09. oder 04.-06.10. am Institut für Soziologie der FSU Jena, Arbeitsbereich
Wissenssoziologie/Gesellschaftstheorie)
Während manche noch diskutieren, ob „anarchistische Theorie“ ein Oxymoron ist, ist für andere diese Thematik nach dem Hype vom David Graeber und einer Konferenz zum vermeintlichen „Anarchist Turn“ schon wieder ad acta gelegt. Zweifellos gibt es im letzten Jahrzehnt zunehmend mehr wissenschaftliche Publikationen zu anarchistischen Themen oder aus anarchistischer Perspektive. Diese finden sich jedoch fast ausschließlich im englischsprachigen Raum. Zu grundlegenden theoretischen Weiterentwicklungen anarchistischer politischer Theorie und Gesellschaftstheorie kam es jedoch auch dort nur sporadisch (z.B. Day 2005; Critchley 2008; Newman 2010; Clark 2013).
Der Workshop soll den Rahmen geben, um Interessierte aus diesen und verwandten sozialwissenschaftlichen Disziplinen in Austausch zu bringen. Daneben wollen wir uns der Frage widmen, ob es sinnvoll ist, anarchistische Ansätze in verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen zu entwickeln. Dazu wäre zu zu klären, welche Kriterien diese aufweisen könnten oder müssten. Wenn wir dies verwerfen, kann dennoch gefragt werden, was anarchistische Theorie ist und wie sie erneuert werden kann. Ziel des Workshops ist ausdrücklich auch die Vernetzung und der gegenseitige Austausch.
Dabei lässt sich ein ganzes Bündel an Fragen stellen, so beispielsweise:
Warum sind Landauers „Aufruf zum Sozialismus“ oder Kropotkins „Ethik“ heute hochaktuell und an welchen Beispielen lässt sich dies plausibilisieren und veranschaulichen? Wie lassen sich Foucault und Ranciére mit explizit anarchistischen Positionen in Dialog bringen oder verbinden? Adaptieren Bini Adamczak (2017), Simon Sutterlütti/Stefan Meretz (2018), Erik Olin Wright (2010) oder John Holloway (2010) wesentliche theoretische Figuren aus einem anarchistischen Verständnis von sozialer Revolution und ist dies begrüßenswert? Gibt es Studien zur Norm- und Rechtssetzung weitgehend hierarchiefreier Gemeinschaften? Wie können Gentrifizierungsprozesse, die implizite Abschaffung des Asylrechts oder der massive Ausbau des Sicherheitsstaates mit anarchistischen Ansätzen theoretisch erfasst werden? Wie lassen sich Dynamiken sozialer Bewegungen und gesellschaftlicher Transformationsprozesse anarchistisch beschreiben, so zum Beispiel die Ereignisse des Arabischen Frühlings oder die sogenannte „Gelbwesten“-Bewegung? Welche anarchistischen Elemente weist die weltweiteKlimagerechtigkeitsbewegung auf? Und schließlich: Welche Verschiebungen hin zum härteren Autoritarismus finden in den USA unter Trump, in Russland unter Putin, in Brasilien unter Bolsonaro, in Italien unter Salvini und in der EU nach den letzten Wahlen statt? Welche autoritären Politikstile lassen sich in der BRD beobachten – und welche anschlussfähigen libertär-sozialistischen Alternativen bestehen dazu?
Der Workshop richtet sich primär an Promovierende und Masterstudierende, steht darüber hinaus jedoch allen Interessierten aus der ‚akademischen Reservearmee‘ oder StudienabbrecherInnen offen. Als Beiträge sind Kapitel aus Promotionsarbeiten, Exposés, Masterarbeitsthemen, Sammelbandartikel oder ähnliche Formate denkbar.
Ihre Vorstellung und Besprechung erfolgt im Format eines World-Cafés. Mehrere Vortragende stellen dabei parallel ihre Themen in 3 mal 30 Minuten vor. Die Teilnehmende ordnen sich zu den sie interessierenden Themen zu und haben pro Session die Möglichkeit, zwei Mal den Tisch zu wechseln oder auch am selben Platz zu verweilen. Sinn dieses Formats ist es, den Beitragenden einen längeren Zeitraum einzuräumen, um ausgiebigere Nachfragen, Hinweise, Literaturempfehlungen, Kritik, Anregungen zu erhalten und mit den interessierten Teilnehmenden in eine intensive Diskussion über ihr jeweiliges Thema zu treten. Die genaue Ausgestaltung bleibt jedoch den Beitragenden überlassen.
Die Beitragsvorstellung ist auf 20 Personen beschränkt. Dazu möchten wir ausdrücklich FLTI*-Personen ermutigen. Abstracts von maximal einer Seite Länge und gern einem Kommentar zum eigenen Interesse am Workshop sind bis zum 31.05. einzureichen.
Die Rückmeldung erfolgt bis zum 31.07.. Eine Teilnahme ist auch ohne eigenen Beitrag mit Anmeldung (bitte bis spätestens zum 08.09.) möglich und sinnvoll. Da wir mit diesem Format und Thema wohl nichts ganz Neues, jedoch etwas Seltenes wagen, freuen wir uns über eigene Vorschläge zur Programmgestaltung und aktive Partizipation.
Das Format des World-Cafés ist ein bewusst gewählter Vorschlag, den wir in Abhängigkeit von Anzahl und Art der Anmeldungen eventuell anpassen werden.
Für die Verpflegung erbitten wir einen erschwinglichen Unkostenbeitrag. Auf Wunsch können private Schlafplätze vermittelt werden. Eine Kinderbetreuung werden wir auf Anfrage versuchen einzurichten. Reisekosten und Unterkünfte können leider nicht erstattet werden.