zwischen militanter Demonstration, moderner Schule, Picknick-für-Alle, libertärer Presse und Gegen-Kulturverein

Erst kürzlich entdeckte ich das sozialgeschichtliche Buch Der libertäre Atlantik . Unsere Heimat ist die ganze Welt von Tim Wätzold, welches schon 2015 veröffentlicht wurde. Darin beschreibt er den proletarischen Kosmopolitismus gegen Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem zwischen Brasilien, Argentinien und Uruguay auf der lateinamerikanischen und Italien, Spanien und Portugal auf der europäischen Seite des Atlantiks. Anschaulich und mit detaillierten Quellen unterfüttert arbeitet der Autor heraus, dass es eine gelebte transnationale libertäre Arbeiter*innenkultur gab, bevor diese von den bolschewistischen kommunistischen Parteien im Anschluss an die Russische Revolution von 1917 vereinnahmt und instrumentalisiert wurde.
Dieser geteilte Wertehorizont fußte auf sozialstrukturellen Bedingungen, wie der globalen Industrialisierung und der damit verbundenen internationalen Arbeitsteilung, der (teilweise stark geförderten) Massenimmigration von proletarisierten Europäer*innen in die amerikanischen Länder und der offensichtlichen Realität der Klassengesellschaft. Das gemeinsame Bewusstsein und die damit verbundene Subjektivierung ergab sich daraus jedoch keineswegs von selbst, sondern wurde durch die strategische Erzeugung einer libertären proletarischen Kultur geschaffen. Hierbei spielten soziale Zentren, libertäre Schulen, Theateraufführungen, Zeitungen und Picknicks eine große Rolle. Daher ist der Untertitel des Buches vom bekannten Lied „Nostra Patria il Mondo Intero“ entnommen, das vom bekannten Anarchisten Pietro Gori gedichtet wurde.
Mit dem Fokus auf die libertäre (seinerseits im vorliegenden Kontext meist gleichgesetzt mit „anarchistisch“ und „syndikalistisch“) Kultur, beleuchtet Wätzold Aspekte, die in bei einer bloß ideengeschichtlichen Betrachtung oft herunter fallen. Gerade durch sein Detailwissen veranschaulicht der Autor, wie weit verbreitet anarchistische Denkweisen tatsächlich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert waren und wie stark sie in den migrantischen Gemeinschaften ausgeprägt war. Auf ähnliche Art wurde das Thema bspw. von Kenyon Zimmer in Immigrants against the State. Yiddish and Italian Anarchism in America, von Juan Suriano in Paradoxes of Utopia. Anarchist Culture and Politics in Buenos Aires, 1890–1910 , von Kirwin R. Shaffer in Black Flag Boricuas . Anarchism, Antiauthoritarianism, and the Left in Puerto Rico, 1897–1921 oder von Tom Goyens in Beer and Revolution. The German Anarchist Movement in New York City, 1880-1914 behandelt.
Wätzold hat jedenfalls eine gute Möglichkeit ergriffen, den Inhalt einer Dissertation in ein allgemein verständlicheres Format zu bringen. Sozialgeschichtliche Untersuchungen sind dahingehend allerdings auch unverfänglicher als solche der politischen Theorie.
Es folgen noch einige Auszüge aus der Einleitung, um einen Eindruck zu vermitteln:
Das „Internationale Proletariat“ entwickelte sich als eine kollektive Identitätskonstruktion im Umfeld einer transatlantischen, libertären Subkultur, die mit kulturellen Praktiken die Subjektivierung einer internationalistischen Arbeiterbewegung und des proletarischen Internationalismus im gesamten atlantischen Raum beeinlusste. Dies manifestiert sich vor allem durch die nationenübergreifende Vergleichbarkeit der Handlungsmuster, wie aus einer Vielzahl an Quellen, vor allem in Form von Zeitungen der Arbeiterbewegungen, hervorgeht. Anhand dieser lassen sich die Vernetzungen, Inhalte und Handlungsmuster, durch Aufrufe zu Veranstaltungen wie beispielsweise den Theateraufführungen, Picknicks oder Familientanzabenden, gut aufzeigen. Als zusätzliches Quellenmaterial wurden zeitgenössische Zeitungen, Literatur der Arbeiterbewegungen, Statuten der Gewerkschaften und deren Einrichtungen und Kongresse bis hin zu Liederbüchern komparativ analysiert. Demnach zeichnet sich ein libertär geprägtes Kulturmodell einer subalternen atlantischen Bewegung als dem „Internationalen Proletariat“ ab, das besonders die Evolution der Arbeiterbewegungen in den Immigrationsländern Südamerikas prägte. (S. 10)
Die millionenfache Auswanderung aus Europa nach Nord- und Südamerika beeinlusste in den Aufnahmeländern ebenfalls die Industrialisierung und Urbanisierung, und dies führte zur Entwicklung einer multinational zusammengesetzten Arbeiterbewegung vor Ort. Besonders in den multiethnischen Einwanderungsländern wurde das kosmopolitische Konzept des Internationalen Proletariats nachhaltig greifbar. Dagegen existierte es in Europa maximal als Idee, jedoch blieb es für die einfachen Arbeiter in den jeweiligen nationalen Kontexten zumeist ein abstraktes Konzept der sozialistischen Ideologie. Doch war diese Identitätskonstruktion auch dort effektiv, und wurde insbesondere nach der Oktoberrevolution wirksam, als sich Arbeiterbewegungen als Teil einer revolutionären internationalen Bewegung verstanden. (S. 11)
Besonders das vielseitige Repertoire der kulturellen Praktiken in diesem Subjektivierungsprozess erfüllte eine fundamentale Rolle zur Mobilisierung der Benachteiligten und ermöglichte die Identiizierung der Menschen mit der internationalen Bewegung. Als solche werden hier das Theater, der Aufbau einer autonomen Infrastruktur in Form von sozialen Zentren und Bildungseinrichtungen sowie die Freizeitgestaltung aufgefasst, wie auch die Gestaltungen von ritualisierten öffentlichen Performances, beispielsweise in Form der ersten Mai Demonstration oder der Arbeiter Picknicks. Dies führte zu einer Inklusion des sozialen Umfeldes und ermöglichte die Vermittlung der Werte Internationalismus und Solidarität. Der „Erfolg“ dieses Ansatzes führte dann zu einer massenhaften, aktiven Partizipation der subalternen Schichten in den sozialen Konlikten in Südamerika, aus denen dann die Arbeiterklasse als anerkannter gesellschaftlicher Akteur im 20. Jahrhundert hervorging. (S. 14)