poetische Urlaubsergüsse #1

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Ohne Urlaub wäre die Arbeit nur halb so schön! Ohne Urlaub für die mittleren Klassen würde der Kapitalismus zusammen brechen. Daher stand es im Corona-Sommer nicht wirklich zur Debatte, ob er gewährt werden kann, sondern nur wie. Urlaub oder Revolte hieß es. Dies war Anlass für mich genug, mal seit Jahren wieder zu versuchen, dem Geheimnis jenes Konsumguts auf meine deklassierte, bescheidene Weise, auf die Spur zu kommen. Dabei habe ich wohl einige weitere Gehirnzellen verloren, jedoch eine Erfahrung gewonnen. Um die volle Urlaubserfahrung zu genießen, wollte ich mich allerdings weniger mit der Fremde auseinandersetzen, sondern sie lediglich für meine eigene Regeneration und Inspiration konsumieren – wie man das halt so macht. Dazu gehört dann selbstverständlich auch deren Darstellung, der Bericht vom Erlebten. Herausgekommen sind unter anderem folgende Textfragmente.

Anarchie

Du bist die Verführung

du führst uns immer und immer und immer wieder

vom Weg ab

vom fremdbestimmten

vom eingehegten

vom vorgeprägten

vom festgelegten

vom klar bedingten

einzig damit

wir unseren eigenen weg finden

Chaos uns Ordnung

diese beiden

wie lang sie schon im verbissenen widerstreit stehen!

in mir / und in den welten

die vergefertigte, aufgedrückte, festgezurrte struktur

war nie was für mich / ist nichts für mich

– und so laufe ich vor ihr davon

zergrätsche und störe sie

wo ich kann

– der durch die herrschaft gestörte –

bin umtriebig, die heimat los / und ungebunden

Doch im puren Chaos

kann ich nicht sein und leben

wo die dinge zerfließen, zerbröckeln, vergehen

Dort suche ich nach situativer substanz

und fundamenten auf temporärem grund

Ordnung und Chaos

diese beiden

stehen in spannung

setzen mich unter spannung

schon so lang

in einer selbstgewählten, offenen, wandelbaren, eigenen struktur

– da wären sie nicht im widerstreit

verordnete Frisur

In diesem einen Urlaub

mit unseren Eltern

da schnitt meine Schwester ihrer Baby die Haare ab

und lachte hämisch, schon beim Erzählen dieses Vorhabens

Kuscheltiere sind Ersatzobjekte

die das Fernbleiben der Bezugspersonen substituieren

später werden sie bei einigen zum Beispiel durch künstlich wirkende Puppen ersetzt

die sie unbedingt haben wollten

Man kümmert sich um sie

und spielt mit ihnen

und kümmert sich und spielt doch mit sich selber

Der Akt des Haare-Abschneidens

signalisiert den Bruch

und die Veränderung durch das Älterwerden

um Reifen zu können

muss man oftmals

gegen sich selbst rebellieren

und alte Dinge

auch mit der Schere

hinter sich lassen

Alt und jung

Im Rausch spürte ich die Jugendlichkeit in mir,

die Offenheit und den Tatendrang,

die fehlende Bitterkeit

– was ist ihr Gegenteil? –

Daran merkte ich,

das ich alt geworden bin

Doch es ist auch gut, alt zu sein

Nimm den Alten an,

wie du den Jungen annimmst

Und gibt dem Alten auch den Raum,

der ihm gebührt

anstatt dich an Verflossenes zu klammern

Höre auf die Weisheit des Alten

auf deine Lebenserfahrung

Denn er weiß sich Ruhe und Gelassenheit zu schaffen

und sich die Dinge einzurichten

Doch vergiss niemals den Jungen

der immer Teil von dir ist

Er soll die Lust am Leben wach halten

und doch vor der Verkrustung bewahren

satanische phase

offenbar habe ich gerade,

eine satanische phase:

ich rebelliere gegen mich selbst

– ich kaufe die vollkornnudeln, die ich nicht mag

ich hab zweimal fleisch gegessen,

obwohl ich dies mein halbes Leben nicht mehr getan habe

ich habe ein portemonaie gefunden

und es ohne das geld abgegeben

ich wollte die zeche prellen,

aber jemand hatte schon bezahlt

ich habe auch (wieder) eine (neue) gewaltphantasie

bei deren bekanntschaft ich etwas erschreckt bin

auch wenn ich weiß, dass dies in dieser gesellschaft

durchaus ein zeichen psychischer gesundheit sein kann

– sie ist aber was ganz anderes, als militanz,

weil ich die nur bewusst anwenden würde

ich spüre, dass alles muss jetzt sein:

irgendwie will da etwas in mir weiterkommen,

sich weiterentwickeln

früher war sowas erruptiv, wie ein zerplatzender knoten

und euphorisierend, als körpereigener drogencocktail

– heut bin ich älter und abgefuckter –

aber gut ist, erst mal die dinge umzukehren,

auf den kopf zu stellen

und durcheinander zu wirbeln

um sich neu zusammen zu setzen

rauschende Erfahrung

Als ich am Strand war

– so ungewohnt breit –

überfielen mich die abendlichen sonnenstrahlen

und ein wunderbares rauschen des meeres,

welches meinem rauschen entsprach

dazu entstanden rhythmen, töne und musik

zunächst eine sich fortsetzende grundmelodie,

die sich alle zwei bis drei sekunden wiederholte

dann eine geämpfte blechbläserstimme darüber

– mutmaßlich inspiriert vom nebenan flatternden drachen –

und wieder eine sich kontinuierliche wiederholende mittlere stimme

von der ich annahm, dass sie mein inneres gehör,

den wellen entlehnte

das grundriff – so dachte ich –

entspräche meiner inneren melodie

dann tat und dachte und redete ich was anderes

und gedankenfetzen / durchflogen mich

bis ich wieder ruhiger wurde

und lauschte und spürte und hörte

mit einem mal begriff ich

dass auch die grundmelodie

nicht meinem inneren entstammte

sondern ebenfalls aus dem rauschen

des meeres hervorging

sie also nicht gleich waren

weil ich ich war

und nicht das meer

– doch ich hatte sie verwechselt

weil sie sich so ähnelten

das meer war ein teil von mir

den ich manchmal vergaß

und ich war ein teil des meeres,

was ich auch oft vergaß

am nächsten tag dann

ging ich ganz anders als lange zuvor

– nach langem zögern und voll respekt –

ins meer

schon auf dem weg dorthin

baute es sich schritt für schritt auf

stehen blieb ich und dachte entschlossen:

da gehe ich hetzt hinein

und meter für meter

tastete ich mich vor und schwamm

und eine erste große welle

warnte mich vor seiner schieren weite

und tiefe und unbekanntheit

doch weiter schwamm ich

bis sein sog mich immer stärker erfasste

und ich fühlte, ihr nicht länger gewachsen zu sein

– nicht heute zumindest –

so schwamm ich schräg zum ufer zurück

bis ich wieder grund fand, unter meinen füßen

in ruhigen schritten verließ ich‘s, gewandelt,

und wusste von nun an, das wir

– trotz meines respekts –

gut miteinander auskommen würden

denn ich war ein teil des meeres

das meer ein teil von mir

und seine melodie

war meiner verwandt