Anarchist Studies Vol. 1
Vorwort: Mit dieser kleinen Serie möchte ich einer bornierten deutschsprachigen Szene, für anarchistisch interessiert Personen ins Bewusstsein bringen, dass es im englischsprachigen Raum seit zwei Jahrzehnten eine etablierte Sparte der Anarchismus-Studien gibt. Wenn ich auf diesem Blog und in meinen Veranstaltungen von anarchistischer Theorie spreche, meine ich damit unter anderem dies. Dass bedeutet nicht, dass Anarchist*innen meiner Ansicht nach alle Bücher schreiben oder sich überhaupt akademisch betätigen sollen. Überhaupt bleibt das Verhältnis von Universitäten und sozialen Bewegungen, Wissenschaft und Anarchismus auch kontinuierlich weiter zu diskutieren. Bevor hier jedoch eine „Akademisierung“ oder „Vermarktung“ anarchistischer Gedanken und Aktivitäten gewittert wird, wäre schön, erst mal auf die Inhalte zu schauen, welche jene Kreise hervorbringen.

In No Masters but God. Portraits of Anarcho-Judaism (2021) stellt Hayyim Rothman acht jüdische Anarchisten vor, welche jeweils noch im 19. Jahrhundert geboren sind. Ihre Namen sind: Yaakov Meir Zalkind (1875–1938) , Yitshak Nahman Steinberg (1888–1957) , Shmuel Alexandrov (1865–1941) , Yehudah Ashlag (1885–1954) , Yehudah-Leyb Don-Yahiya (1869–1941) , Avraham Yehudah Heyn (1880–1957) , Natan Hofshi (1890–1980) , Aaron Shmuel Tamaret (1869–1931) .
Die Beschäftigung mit der Schnittstelle zwischen jüdischem Denken und Anarchismus ist lohnenswert, weil es bestimmte Gründe hatte, dass auch Erich Mühsam, Gustav Landauer und Emma Goldman aus jüdischen Elternhäusern stammten, wenngleich diese drei sich konsequent von ihnen distanziert haben. Es ist eine besondere Erfahrung die Jüd*innen als Angehörige einer heterogenen, transnationalen Gemeinschaft gemacht haben und macht, wenn sie verstreut lebten und zugleich an vielen Orten feste Zugehörigkeiten gefunden haben. Die jüdische Geschichte gründet sich auf den Auszug aus der Sklaverei, der Formierung eines eigenen Staatswesens, dessen Zerschlagung und der (notwendigen, aber auch befreienden) Akzeptanz der Zerstreuung.
In Hinblick auf den Anarchismus scheint es im Judentum beide Wege zu geben – die vollständige Distanzierung und Kritik der Religion (welche dennoch häufig mit einer gewissen Begeisterung für mystisches Denken einhergeht) oder ein religiös motivierter Anarchismus. Rothman ist vor allem am letzteren Strang interessiert, der Geschichte, den Praktiken und Vorstellungen anarchistischer jüdischer Kreise. Aus diesem Grund stehen für ihn nicht aktive Anarchist*innen mit jüdischem Hintergrund im Fokus, sondern Personen, deren religiös geformte Denkweise anarchistischen Gehalt aufweist.
Der Autor verortet sein Thema zunächst anhand des aktuellen Forschungsstandes. Dann führt er in den historischen und theologischen Kontext ein, welches er mit zahlreichen Quellenangaben stützt. Für die
Porträtierung der jeweiligen Personen zieht Rothman Autobiografien, Biografien, deren eigenen Schriften und sekundären Quellen heran.
Hier gibt es schließlich noch ein Gespräch mit Hayyim Rothman über Anarchismus, Mystik und Utopie