Mit dem Syndikalismus gegen den Syndikalismus?

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Inzwischen kam ich dazu die ersten drei veröffentlichten Teile des Textes Skizze eines konstruktiven Sozialismus von Holger Marcks ganz zu lesen. Da er auf der Homepage der Föderation der FAU erschienen ist und es aktuell kaum andere ausführliche Beiträge aus anarcho-syndikalistischer Richtung gibt wirkt er wie ein Grundlagentext, welcher von FAU-Mitgliedern möglichst gelesen werden sollte. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang jedoch noch mindestens die Schrift von Torsten Bewernitz Syndikalismus und neue Klassenpolitik. Eine Streitschrift.

übernommen von: https://www.fau.org/materialien

Leider habe ich gerade nicht die Zeit und die Muße eine ausführlichere Besprechung von Holger Marcks Text zu leisten, möchte aber dennoch ein paar Eindrücke und Kritikpunkte benennen. Doch zunächst zur Form: Der Text besteht aus den Teilen (1) Syndikalistische Transformationspolitik: Die Vermittlung zwischen Realität und Utopie, (2) Multiple Gewerkschaften als Unterbau: Erste Bausteine der Gegenmacht und (3) Grundlagen der Konstruktion: Das Gefüge transformatorischer Organisation. Im bisher noch nicht veröffentlichten vierten Teil soll es dann um programmatische Konsequenzen aus den mikropolitischen Erfahrungen und die utopische Vision gehen.

Mit dem Text zielt Marcks auf die Gewinnung von Handlungsmacht, Effektivität und gewerkschaftlicher Gegenmacht anhand der Organisierung unterer Klassen ab, was ja durchaus ein anarcho-syndikalistisches Kernanliegen darstellt. Ich stimme ihm darin zu, dass der anarchistische Syndikalismus aufgrund seiner Herangehensweise und seiner Perspektive zumindest das Potenzial hat, eine Brücke zwischen angestrebter Utopie und der Analyse und Kritik der bestehenden Verhältnisse schlagen zu können. Somit kann mit dem Syndikalismus „realistische“ und glaubwürdige, von immanenten Bedingungen und vorhandenen Sozialbeziehungen und ihren Interaktionen, ausgehende Transformationspolitik entwickelt werden. Ebenso ist Marcks‘ Aufforderung, sich auf langfristige Ziele zu orientieren, von „realen“ Interessen auszugehen und überhaupt ein strategisches Denken zu entwickeln, soweit nachvollziehbar.

Sympathisch – und einfach grundlegend anarcho-syndikalistisch – sind auch seine Überlegungen dazu, sich mit Arbeitskämpfen und Gewerkschaftsorganisationen auf einer „Meso-Ebene“ gewissermaßen durch die dicken Bretter der Realität bohren zu wollen, anstatt mit dem Kopf durch die Wand zu wollen. Dieser Ansatz sei – was ich ebenfalls teile – als wesentlich „radikaler“ zu verstehen, als die Bewertung vorhandener Organisationen, Beziehungen, Praktiken und Aktionen anhand von idealistischen und abstrakt-utopischen Maximalvorstellungen (welche sich ja auch je nach Unterströmung in „der“ gesellschaftlichen Linken, auf die sich Marcks bezieht, unterscheiden und damit widersprechen). Schließlich sind auch einige seiner Kritikpunkte an anderen „linken“ Transformationstheorien plausibel, insbesondere an der schlechten Schrift Kapitalismus aufheben (2018), in welcher die beiden Autoren sich nicht nur in inhaltlichen Zirkelschlüssen bewegen und zu kurz denken, sondern – wie Marcks zutreffend herausstellt – mit ihrer „Keimformtheorie“ im wörtlichen Sinne syndikalistische Transformationstheorie aufgreifen – ohne sich dessen bewusst zu sein und es etwa zu benennen.

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So weit zu den meiner Ansicht nach nachvollziehbaren und begrüßenswerten Aspekten der Skizze eines konstruktiven Sozialismus. Viele weitere Punkte scheinen mir jedoch wenig plausibel bis schwierig zu sein. Dahingehend ist zu aller erst die Herangehensweise des Autors zu nennen. Wenn Marcks glaubt, „die“ „linke Szene“ grundlegend kritisieren zu können, bedient er sich schlechter Stereotype, welche offenkundig von seiner Frustration in derartigen Kontexten zeugen. Diese soll ihm nicht abgesprochen werden, doch welche Rolle er selbst in diesem Zusammenhang einnimmt oder eingenommen hat, darüber findet sich kein Wort. Als Akademiker kritisiert Marcks den bildungsbürgerlichen Hintergrund eines großen Teils dieses Klientel – und scheint sich damit einerseits implizit mit seiner eigenen Klassenposition auseinanderzusetzen und andererseits Menschen ein Bewusstsein moralisch vorzuwerfen, welches aus strukturellen Gegebenheiten resultiert und dass sich nur mit der Veränderung dieser Bedingungen selbst ändern könnte. Anders sieht es bei den vermeintlich „richtigen“ Proletariern ja auch nicht aus, denn die Erfahrung zeigt, dass sie ihre als „objektiv“ verstandenen materiellen Interessen eben nicht einfach so erkennen oder für diese auf eine Weise kämpfen, welche emanzipatorischen Ansprüchen gerecht wird. Hierbei geht es sicherlich nicht um die Maximalforderungen einer exklusiven Szene-Blase, sondern grundlegende Voraussetzungen für eine emanzipatorische Praxis, welche der basisgewerkschaftliche Ansatz ja verfolgt. Womit ich keineswegs sagen möchte, dass Arbeiter*innen sich prinzipiell weniger für dieses Vorhaben engagieren, sondern, dass die Moralisierung von Klassenpositionen eben nicht dabei hilft, gemeinsame Kämpfe mit unterschiedlichen Gruppen zu führen.

Es wirkt als würde Marcks sich als Anführer einer libertären und antiautoritären sozialen Bewegung profilieren und ins Licht rücken wollen. Er wäre freilich nicht der erste und einzige, welchem basisdemokratische Prozeduren und die Menschen wie sie sind, nicht in den Kram passen und der darum einen verkappten Avantgardismus entwickelt. Wenn dies sein Vorhaben mit diesem Text ist, kann es jedoch nicht aufgehen, insofern es die Grundbedingungen untergräbt, auf welchen der anarchistische Syndikalismus beruht. Weiterhin halte ich einen Stil für unglaubwürdig und unattraktiv, mit welchem die eigene Strömung primär durch Abgrenzung von realen oder auch nur vermeintlichen Konkurrent*innen definiert wird. Sicherlich, die eigenen Positionen können immer nur in Differenz zu anderen herausgebildet werden und dies sollte nicht durch einen harmoniesüchtigen Kuschelkurs, sondern durch produktiven Streit geschehen. Was Marcks in seiner Schrift jedoch offensichtlich abgeht, ist ein respektvoller Umgang mit anderen Strömungen und eine solidarischer Bezugnahme auf ähnlich gesinnte Genoss*innen. Tatsächlich beruhen seine Definitionsversuche auf direkter Abwertung, wenn er beispielsweise von einem „infantilen Antiautoritarismus“ schreibt.

De facto versagt seine Solidarität schon bei den eigenen, nämlich hinsichtlich der FAU. Sie könnte/müsste/sollte seiner Meinung nach ganz anders aufgestellt sein. Natürlich. Aber so ist es nun einmal nicht. Stattdessen gälte es sich mit den gegebenen Bedingungen auseinanderzusetzen. Von der Organisation der bestehenden Syndikate, ihrer Arbeitskämpfe und Beziehungen ausgehend, sind Überlegungen anzustellen, wie bessere (also langfristigere, nachdrücklichere, Klassen-übergreifendere usw.) Praktiken hervorgebracht werden könnten. Dies beinhaltet auch, die eigenen Genoss*innen oder das Konstrukt „der“ linken Szene nicht in kindischer Manier für Probleme verantwortlich zu machen, welche gesamtgesellschaftliche Ursachen haben. Marcks wird daher meiner Ansicht nach seinen eigenen Anliegen wenig gerecht. Vielmehr scheint er sich dauernd in einem Modus der Projektion zu befinden. Dieser führt ihn bedauerlicherweise auch zu einer problematischen Konstruktion des Syndikalismus der Vergangenheit und seiner Idealisierung. „Der“ Syndikalismus „sei von jeher“, „wäre schon immer“ oder „habe stets“ dies und das gewollt, gedacht, getan, tragen nicht zum Gewinn von Seriosität für einen zeitgemäßen klassenkämpferischen und libertären Ansatz bei. Jene Verklärung historischer Dinosaurier, welche vorrangig der eigenen Erbauung dient, ist für Syndikalist*innen freilich nicht ungewöhnlich. Von Marcks, der sich ja ausgiebig auf Emile Pouget, Alexander Moissejewitsch Schapiro, Rudolf Rocker und Albert Camus und die Geschichte des anarchistischen Syndikalismus insgesamt bezieht, wäre dahingehend mehr zu erwarten gewesen.

Ironischerweise baut er sich dann in der Identitätspolitik einen „Strohmann“ auf, deren Genese er grundsätzlich nicht begriffen zu haben scheint. Seine Aversion dagegen hat offensichtlich ganz persönliche Gründe, sonst könnte er sich sachlicher in dieser Debatte positionieren. Zwar gibt es jene Tendenzen der Essenzialisierung spezifischer Identitäten, denen qua ihrer Existenz ein Wahrheitsgehalt ihrer Perspektive unterstellt wird, was unter anderem einen Opferwettbewerb auslöst, welchen zu beobachten durchaus grauenhaft ist. Derartige verquert-liberale Auswüchse von Identitätspolitik entsprechen jedoch nicht ihrem Entstehungskontext, in welchem völlig zurecht auf die Spezifik der gesellschaftlichen Positionierung von Personengruppen anhand von class, race und gender hingewiesen wurde. Identitätspolitische Ansätze haben der herkömmlichen Klassenpolitik einen Bärendienst erwiesen, weil sie deren Sackgasse unter veränderten Herrschaftsverhältnissen aufdeckten und damit zur Möglichkeit ihrer Erneuerung beitrugen. Denn ja, Frauen* und Migrant*innen werden in ihren Klassenpositionen strukturell diskriminiert, was sich in geringeren Löhnen, längerer unbezahlter Arbeitszeit und schlechteren Arbeitsbedingungen abbildet, wie sich statistisch gut nachweisen lässt. Menschen in verschiedenen Lagen können jedoch nur für eine gemeinsame klassenkämpferische Politik gewonnen, organisiert und begeistert werden, wenn die divergierenden Situationen explizit benannt und anerkannt werden.

Auch Marcks‘ Kritik an der Struktur und Organisationspraxis der FAU wirkt merkwürdig verkürzt und reflexhaft auf mich. Sicherlich „horizontale“ und basisdemokratische Entscheidungsfindungsprozeduren sind langwierig, mitunter nervenaufreibend und keineswegs frei von Hierarchien, in welchen durchaus Menschen mit höheren Kapazitäten, Ressourcen und Bildungsmöglichkeiten tendenziell privilegierter sind. Dieser gap wird jedoch absolut nicht mit dem Modell einer Kaderorganisation aufgehoben, welches Marcks mit dem Argument der Effektivität vorzuschweben scheint. Man kann egalitäre, horizontale und selbstorganisierte Strukturen für „ineffektiv“ oder langweilig halten (etwa, weil man sich darin nicht stets mit der eigenen Meinung durchsetzt). Diese Prinzipien über Bord zu werfen, kommt jedoch einer Auflösung der anarchistisch-syndikalistischen Grundlagen gleich. Marcks unterstellt, dabei handele es sich um fundamentalistisch verfochtene Dogmen, welche nicht den Erfordernissen der zeitgenössischen Arbeitskämpfe als auch der Organisation von unteren Klassen entspräche. Dagegen meine ich, dass vielmehr das Gegenteil der Fall ist, nämlich, dass die Prinzipien auf denen sich beispielsweise die FAU gründet, sehr wohl aus historischen Erfahrungen von sozialen Bewegungen entwickelt wurden und darin einerseits ihre Berechtigung, andererseits jedoch auch ihren Wert haben. Dies gilt selbstredend nur dann, wenn sie richtig verstanden, als in ihrer Anwendung erlernt und von den Mitgliedern selbst mit Leben erfüllt werden.

Abschließend kann ich sagen, dass ich es sehr bedauere, dass sich Marcks im vorliegenden Text selbst diskreditiert. Auch wenn ich seine Formulierung einer realutopischen und aufbauenden Sozialtechnik, die der anarchistische Syndikalismus sein könne, selbst nicht verwenden würde, macht er beispielsweise damit wirklich wichtige Punkte auf. Wie ich versucht habe, in freiem Schreibstil darzustellen, scheitert er jedoch meiner Wahrnehmung nach an seinen eigenen Ansprüchen, darunter implizit zuallererst an den Menschen, wie sie sind. Sein Vorwurf der idealistischen und utopischen Maximalforderungen an die linke, autonome oder anarchistische Szene, welche sich damit in eine exklusive Blase zurück ziehe und nicht bereit sei, organisatorische Handlungsmacht zu erlangen, ist meiner eigenen Erfahrung nach durchaus berechtigt. Auch dahingehend habe ich den Eindruck, dass er seine Unzufriedenheit mit seiner eigenen (vergangenen) Praxis auf andere projiziert, was per se keine gute Ausgangsbasis für die Skizzierung eines konstruktiven Sozialismus sein kann.